Ausgehend von der großen Bereitschaft der Menschen in der Ukraine, ihrem Land in der Armee zu dienen, da es um die existenzielle Betroffenheit der eigenen Freiheit und Würde geht, stellte Dr. Naumann kurz dar, wie er den öffentlichen Diskurs in Deutschland wahrnimmt und stellte dies anschließend in einen historischen Bezug.
Während nach dem Mauerfall und der Abschaffung der Wehrpflicht Kriegsgefahren externalisiert worden seien und die Bundeswehr hauptsächlich mit Auslandseinsätzen in Afghanistan, dem Kosovo oder auch Mali in Verbindung gebracht wurde, sei durch den Beginn des Angriffskriegs Russlands eine Rückkehr zur Risiko- und Schicksalsgemeinschaft entstanden. Das Risiko sei in den Jahren zuvor vorwiegend durch Soldatinnen und Soldaten getragen worden, nicht durch die Bürgerinnen und Bürger, so Naumann.
Naumann wies darauf hin, dass durch die zentrale Lage in Europa und die damit verbundene Bedeutung für Transportwege der alliierten Truppen ins Kriegsgebiet Deutschland nun wieder ein unmittelbares Angriffsziel sei. Dies sei zwar momentan noch unwahrscheinlich, die Sorge darum jedoch begründet. Während Soldatinnen und Soldaten einen Eid schwören, stellen sich laut Naumann für die Gesamtgesellschaft die Fragen: "Was trage ich zur Landes- und Bündnisverteidigung bei?" und "Gibt es eine Verpflichtung des Individuums, zum Gemeingut ‚Sicherheit‘ beizutragen?". Die Workshop-Teilnehmenden stimmten breit zu, dass die Landesverteidigung die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft brauche.
In Wortbeiträgen aus dem Teilnehmenden-Kreis wurde aber auch dargelegt, dass in der Öffentlichkeit vielfach Sorgen um die Militarisierung der Gesellschaft geäußert werden. Naumann empfahl einen Blick in die skandinavischen Länder, wo zum Beispiel alle IT-Fachleute einen Infrastruktur-Kurs besuchen müssten, der zeige, wo eine Zusammenarbeit oder Mitarbeit im Notfall notwendig sein könne. Ein Teilnehmer merkte an, dass es nicht um Militarisierung ginge, sondern um eine Hinwendung zum Gemeinsinn. Den Soldatinnen und Soldaten gehe es dabei oft um Anerkennung der Gesellschaft für ihre professionelle Haltung und Arbeit.
Für Soldaten ergebe sich zudem die Frage, wofür sie wirklich kämpften. Zum einen, sagte Naumann, seien innermilitärische Gründe, wie Kameradschaft, Auftrag oder der Pflichtethos wichtig. Zum anderen eine innere Überzeugung von der Richtigkeit, also die individuelle Wahrnehmung von Gerechtigkeit und Sinn ihrer Arbeit. Auf letzteres bezogen, ergänzte ein Workshop-Teilnehmer, dass auch gesamtgesellschaftliche Themen, wie die sozial-ökologische Transformation oder Geschlechtergerechtigkeit für die Soldatinnen und Soldaten eine Rolle spielten. Diese beiden Beweggründe zu dienen könnten durchaus in einem Spannungsverhältnis stehen.
Zudem wurde im Workshop die Attraktivität der Bundeswehr diskutiert. Zum einen sehe man kaum aktive Militärs in der Öffentlichkeit. Zum anderen habe die Bundeswehr auch als Arbeitgeber ein schweres Standing. Man dürfe die Bundeswehr aber nicht mit klassischen Unternehmen vergleichen. Die Bundeswehr habe mit dem Auftrag zu führen, zu erziehen und auszubilden, eine durchaus größere Verpflichtung ihren Soldatinnen und Soldaten gegenüber als ein privates Unternehmen gegenüber seinen Arbeitnehmern.
Abschließend konstatierte Dr. Naumann, dass mit dem Ukrainekrieg nun wieder eine kollektive Bedrohungslage entstanden sei. Die hybride Kriegsführung Russlands greife unmittelbar ins alltägliche Leben der Bürgerinnen und Bürger ein. Eine wehrhafte Staatsbürgerlichkeit bedeute dann, dass gedient werden müsse, militärisch oder nicht-militärisch. Die Gesellschaft befinde sich angesichts multipler Krisen in einem Umbruch. Die bisherigen Rezepte gerieten an ihre Grenzen oder seien nicht anwendbar. Es bedürfe neuer Ansätze.