In seinem Vortrag arbeitete Dr. Markus Kaim zunächst die unterschiedlichen Dimensionen des Ukraine-Krieges heraus. Der Krieg trage zum einen Elemente eines hegemonialen und imperialen Konfliktes. Die hegemoniale Komponente habe vor allem zu Kriegsbeginn eine Rolle gespielt, als das Motiv der politischen Vorherrschaft im Mittelpunkt gestanden habe und in Kiew eine kremltreue Marionetten-Regierung eingesetzt werden sollte. Mit der Annexion der vier ukrainischen Territorien durch Russland im Herbst 2022 sei dann die imperiale Facette des Krieges hervorgetreten. Darüber hinaus lägen Elemente eines Wertekonfliktes vor, der sich beispielsweise widerspiegele in Äußerungen vom "moralisch verkommenen Westen", dem Russland als letztes Refugium traditioneller Werte gegenüberstehe. Drittens sei der Ukraine-Krieg auch ein Stellvertreterkonflikt. Die Stellvertreterdimension komme häufig in Narrativen zum Vorschein, wenn auf russischer Seite etwa die Ukraine als vom Westen gesteuerter Staat ohne eigene Autonomie bezeichnet werde und auf westlicher, insbesondere US-amerikanischer Seite vom Kampf der Demokratien gegen die Autokratien gesprochen werde. Als die dominanteste Dimension mit den langfristigsten Auswirkungen für die deutsche und europäische Politik bezeichnete Kaim den ordnungspolitischen Konflikt. Der 1990 in der Charta von Paris und 1997 in der NATO-Russland-Grundakte vereinbarte ordnungspolitische Konsens, basierend auf Prinzipien wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Unverletzlichkeit des Territoriums, Nichtanwendung militärischer Gewalt und freie Bündniswahl, sei mit dem russischen Angriffskrieg gebrochen worden. Es stünden sich nun zwei ordnungspolitische Blöcke gegenüber, in denen die Akteure auf der einen Seite mit den Prinzipien "Werte und Recht" und die auf der anderen Seite mit "Raum und Macht" argumentierten.
Zukünftig müsse europäische Sicherheit mindestens ohne Russland oder sogar gegen Russland organisiert werden. Die NATO habe einen erheblichen Bedeutungsgewinn erfahren und ein neues strategisches Konzept verabschiedet, das Russland als Sicherheitsbedrohung für die Allianz priorisiere und den Fokus auf Bündnisverteidigung und Abschreckung lege. Die durch den Ukraine-Krieg ausgelöste Krise markiere zudem die Rückkehr der USA als europäische Macht. Eine dauerhafte amerikanische Präsenz in Europa nach dem Krieg sei aber keineswegs sicher. Die Priorität von US-Präsident Biden habe eigentlich auf dem systemischen Konflikt mit China gelegen. Ebenso habe er eine innenpolitische Grundierung der US-Außenpolitik verfolgt, die mit einer Erhöhung der Schwelle für die Bereitschaft der USA zu globalem Engagement als Ordnungsmacht einhergehe.
Europa müsse seine sicherheitspolitische Rolle in einer geopolitisierten Welt neu definieren. Wenn die Weltordnung auf ein multipolares System hinauslaufe, stelle sich für Europa die Frage, ob es einer dieser Pole sein wolle und was hierfür politisch, militärisch und finanziell notwendig sei. Ein Konzept könne eine strategische Autonomie unter neuen Vorzeichen sein, bei der es nicht um die Abgrenzung von, sondern um die Absprache mit den USA gehe.
In der Diskussion bezweifelten die meisten Teilnehmenden, dass sich die Handlungsfähigkeit Europas im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik erhöhen werde. Der Krieg in der Ukraine habe tendenziell nicht zu Fortschritten in den europäischen Autonomiebestrebungen geführt, sondern eher das Gegenteil bewirkt, weil er insbesondere in den osteuropäischen Staaten den Eindruck verstärkt habe, dass die USA der verlässlichere Partner seien. Angesprochen wurde in der Diskussion auch der schlechte derzeitige Zustand des deutsch-französischen Tandems, ohne das Europa sicherheitspolitisch nicht zu denken sei. Eine europäische Armee werde es auf absehbare Zeit auch deshalb nicht geben, weil Staaten wie Frankreich nicht bereit seien, die Souveränität über ihre eigenen Streitkräfte aufzugeben. Der skeptischen Einschätzung zur Realisierung einer europäischen Armee schloss sich Kaim an. Es fehle vor allem der politische Wille und für die Weiterentwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik seien weitere Integrationsschritte erforderlich. Eine funktionierende europäische Armee habe letztendlich die Vereinigten Staaten von Europa zur Voraussetzung.