Alle Betrachtungen über die vorrückende NATO und über reale und in Moskau angenommene Bedrohungsszenarien seien nicht ausreichend zur Erklärung des großangelegten militärischen Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022. Putin habe im Gegenteil geglaubt, dass Russland in der Ukraine freie Hand habe, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, so Gerd Koenen. Er sprach von einem "manifesten Irrsinn dieses willkürlich entfesselten und mit maximalen Forderungen verbundenen Angriffskrieges", an dem das Winken mit Verhandlungen nichts ändern werde.
Zu den tieferen Ursachen des Angriffskrieges gebe es mehr Fragen als Antworten. Wie sei es möglich, dass ein so relativ entwickeltes, gebildetes, vielgestaltiges Land sich gerade angesichts seiner eigenen Geschichte im 20. Jahrhundert abermals den Entscheidungen einer einzigen Person und eines engen Machtzirkels ausliefere oder ihm sogar zustimme? Zur Antwort gehöre ein ganzes Bündel mentaler und materieller Faktoren, sagte Koenen.
Zunächst sei es objektiv schwierig für eine Gesellschaft, die derart territorial ausgebreitet und heterogen sei, sich selbst politisch zu organisieren und zu repräsentieren. Es sei im Gegenteil viel leichter als in dicht besiedelten Regionen, das gesellschaftliche Ganze durch einen staatlichen Mega-Apparat zu kontrollieren, zu organisieren, zu mobilisieren und durch eine jeweilige Macht- und Besitzoligarchie auszubeuten. Diese Grundstruktur reiche vom Zarismus über die Sowjetzeit bis in die Gegenwart und bilde sich auch mental ab: oben wie unten.
Koenen beschrieb, dass es in Russland sehr wohl demokratische Aufbrüche wie Revolutionen und Verfassungen gab, vor allem nach militärischen Niederlagen. Diese großen Reformen scheiterten jedoch immer wieder, und es gelang den bolschewistischen, stalinistischen und nun den putinistischen Eliten stets, die Zentralmacht zu erringen und ihre Machtausübung in einzigartige totalitäre Extreme zu treiben. Auch dies habe mit der Größe und Unstrukturiertheit des Völkerreiches zu tun. Diese scheinbare Allmacht grenzte jedoch immer auch an Ohnmacht.
Wenn Putin sich als Wiederaufrichter eines angeblich 1000-jährigen Reiches in die Geschichtsbücher einschreiben wolle, zu dem die Ukraine seit jeher gehört habe, tue er dies jedoch nicht aus reiner Kraftmeierei, so Koenen. Putins kategorischer Imperativ, Russland müsse Großmacht sein, oder es werde gar nicht sein, verweise im Gegenteil auf einen Schrecken der Leere, der nicht ganz unberechtigt sei, so Koenen. Putins Beschwörung, Russland werde verschwinden, wenn es sich nicht auf das Gerüst einer vermeintlich traditionellen Kultur und einer starken Staatlichkeit einschweißen lasse, verweise vielmehr auf eine innere Schwäche und zentrifugale Tendenzen.
Schon das alte russländische Reich im 19. Jahrhundert wuchs zu einem Imperium "megalomaner Art" heran, das sich beharrlich weiter ausdehnte und nie in der Lage war, die neu eroberten Gebiete wirklich zu erschließen und zu durchdringen. Man fühlte sich von allen Seiten angreifbar und bedroht durch modernere, dynamischere Rivalen. Russland sei im Laufe der Jahrhunderte eigentlich nur auf dem Kernterritorium unbesiegbar gewesen. Alle Kriege an der Peripherie gingen verloren. Daher sei das entscheidende Ereignis, an dem Putin und große Teile der russischen Öffentlichkeit sich festklammern der sogenannte Große Vaterländische Krieg (2. Weltkrieg).
Erst der Sieg 1945 habe Stalin zu seiner weltgeschichtlichen Stellung gebracht und habe die Sowjetunion zu einem Mega-Imperium werden lassen, umgeben von sozialistischen Vasallenstaaten und als Zentrum einer kommunistischen Weltbewegung. Spreche man heute verständnisvoll von einem "imperialen Phantomschmerz" der russischen Machtelite, müsse man sich diese phantomhaften Dimensionen einer Pseudo-Weltmacht klarmachen. Weder das Zarenreich noch die Sowjetunion waren mit Russland deckungsgleich, und die Russen seien in diesem Imperium immer in der Minderheit gewesen. Koenen betont die Bedeutung der Kommunistischen Partei Russlands als supranationale Verbindung. Der vergleichsweise friedliche Zerfall der Sowjetunion sei eine Implosion aus moralischer und materieller Schwäche gewesen. Dies sei für viele das Demütigendste. In der Folge habe es eine traditionell paranoide Jagd auf vermeintliche innere und äußere Feinde gegeben: Kosmopoliten, Juden, Freimaurer. Immer seien alle Gegner als Agenten einer auswärtigen Macht abgestempelt worden. Russland sei mit seiner eigenen Geschichte nie zurechtgekommen, so Koenen.
Wenn der Sieg gegen Hitlerdeutschland als letzter positiver Anhaltspunkt eines historischen Stolzes gelte, trage dies Züge einer "nachträglichen Sinnstiftung des Sinnlosen" – etwa der grausamen Vernichtungen und des Massenterrors –, die vorher stattgefunden hatten. Unter Putin sei eine "monströse vaterländische Affirmation und ein kriegerischer Kult der Unbesiegbarkeit und der Opferbereitschaft" aufgebaut worden.
Putin wolle nicht wahrhaben, dass die Ukraine sich nach 1991 zu einer demokratischen Nation entwickelt habe. Er wolle auch nicht anerkennen, dass die 1991 gegründete Russländische Föderation ebenfalls ein ganz neues Staatswesen sei, das es so vorher nie gegeben habe. Das Verhängnis Russlands liege gerade darin, dass es sich als legitimer Nachfolgestaat der Sowjetunion definiere und international präsentiere. Als solcher wurde es damals vom Westen auch akzeptiert, hier sieht Koenen eine historische Verantwortung. Die Aufnahme Russlands in den UN-Sicherheitsrat sei ein Fehler gewesen, stattdessen hätte es einen Umbau des Gremiums geben sollen. Russland habe so die historische Chance des Zerfalls in den 1990er-Jahren nicht nutzen können, um sich neu zu erfinden und zu konstituieren.
Vielmehr sei das neue Russland in den 1990er-Jahren in einen fatalen sozial-ökonomischen Abwärtsstrudel geraten, der dann Putin als vermeintlichen Ordnungsstifter nach oben brachte. Koenen sieht hier eine Kombination aus einem "ererbten Staatsmonopolismus mit mafiotischen Raubprivatisierungen aller devisenbringenden Ressourcen des Landes". Es entstand eine neue Macht- und Besitz-Oligarchie. Statt die Mittel zur Verbesserung von Infrastruktur im Land, für Bildung, Kultur und Wissenschaft einzusetzen, habe Putin strategisch Korruption zum Erkaufen von Loyalitäten eingesetzt. Das einseitige Setzen auf fossile Rohstoffe reiche jedoch nicht für eine Weltmachtstellung im 21. Jahrhundert aus. Die angehäuften Devisen-Reserven dienten nun als Kriegskasse.
Seit 2014 habe Russland weiter an weltwirtschaftlichem Gewicht verloren, nicht nur wegen der westlichen Sanktionen und der militärischen Ausgaben. Überfällige Reformen einer wirtschaftlichen Diversifizierung sowie technologische Entwicklungen seien sehenden Auges verpasst worden. Dazu kommt der demographische Abwärtstrend mit niedrigen Geburtenraten und einer geringen Lebenserwartung, verbunden mit Abwanderung. Diese Grundfaktoren hätten zu einer russischen Nervosität und Selbst-Unsicherheit geführt, die mit einer massiven mythologischen und ideologischen Selbstüberhöhung kompensiert worden sei, in der Russland sich als Schutzherrin eines Weltaufstands gegen den verderbten, entchristianisierten und wurzellosen Westen darstelle. Die Ukraine werde obsessiv als "verwestlichtes, seiner 1000-jährigen russischen Geschichte entfremdetes Anti-Russland" gezeichnet, das Russland von innen zersetzen wolle, neuerdings spreche man häufig von "Satanismus". Daher sei es nötig, diesen Herd der Zersetzung und Bedrohung für immer auszulöschen. Die Ukraine solle völlig zerschlagen und mit anderen Vasallenstaaten und Belarus zu einer erweiterten Eurasischen Union zusammengefasst werden. Auch das gesamte postsowjetische Staatensystem solle einer Revision unterzogen werden. Außenminister Lawrow spreche von einer "humanitären Zone von Vladivostok bis Lissabon", mit Russland als Schutzmacht. Es stelle sich allerdings die Frage, was man mehr fürchten müsse: diese Idee oder den offenkundigen Realitätsverlust? Aus Koenens Sicht ist Letzteres das Beängstigendere.