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Europas Blick auf die deutsche Wiedervereinigung – zwischen Hoffen und Bangen | 17. Bensberger Gespräche 2020 | bpb.de

17. Bensberger Gespräche 2020 Eröffnungsvorträge: 30 Jahre Deutsche Einheit - 30 Jahre Armee der Einheit Podiumsdiskussion: Wie einig waren wir damals und wie viel Einheit braucht es heute? Europas Blick auf die deutsche Wiedervereinigung Workshop: Die Transformation Osteuropas: Kooperation oder Konfrontation? Workshop: Die Arbeit der Treuhandanstalt Workshop: Innere Führung Workshop: Innovation in der historisch-politischen Bildung Workshop: Politische Partizipation in Ost- und Westdeutschland Impulsvorträge: Wertewandel - Innere Führung und Gesellschaft Podiumsdiskussion: Einheit als gesellschaftliche Herausforderung – Integration, Abgrenzung und Polarisierung Zusammenfassung und Ausblick

Europas Blick auf die deutsche Wiedervereinigung – zwischen Hoffen und Bangen

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Prof. Dr. Michael Gehler bewertete den Einigungsprozess als "Sternstunde der Diplomatie" mit mannigfaltigen Kompromissen und Interessensausgleichen. (© bpb, BILDKRAFTWERK/Zöhre Kurc)

Prof. Dr. Michael Gehlers dicht gepackter Vortrag öffnete den Horizont zu einer transnationalen Perspektive und begann mit dem zentralen Faktor, der Bedeutung Michail Gorbatschows als Generalsekretär der KPdSU und seiner politischen Ausrichtung: Überspitzt war die deutsche Einheit ein "Abfallprodukt des Zerfalls der Sowjetunion". Weiterhin war der revolutionäre Prozess vor Deutschland in Polen und Ungarn in Gang gesetzt worden: Während die verbotene Gewerkschaft Solidarność unter Lech Wałęsa seit den 1980er Jahren Millionen Mitglieder mobilisieren und damit den Druck auf die Regierung erhöhen konnte, wurden in Ungarn Wirtschaft und Politik seit 1987 zunehmend liberalisiert: In der neuen Verfassung war nicht mehr das Monopol der Kommunistischen Partei festgeschrieben, während erste sowjetische Truppen das Land bereits im April 1989 verließen. Die prekäre wirtschaftliche Lage der DDR sollte ebenso nicht außer Acht gelassen werden: Während der Staat laut OECD die zehntstärkste Industrienation war, entsprach dies nicht der realen Wirtschaftskraft, die nur innerhalb des RGW-Raums (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) funktionierte. Nicht zuletzt war die DDR zunehmend massiv verschuldet.

An unmittelbaren Gründen definierte Gehler die Unbeweglichkeit des SED-Regimes, auch gegenüber der sich unter Gorbatschow öffnenden Sowjetunion, dem die DDR lange als Vorbild gedient hatte. Die Feiern zum 40-jährigen Jubiläum der DDR gerieten zur Farce, als das Volk Gorbatschow zujubelte. Das brutale Grenzregime wurde weiter fortgesetzt: Noch im Februar 1989 starb Chris Gueffroy durch 10 Schüsse, als er durch den Britzer Verbindungskanal in die Freiheit schwimmen wollte; sein Freund Christian Gaudian wurde schwer verletzt und verhaftet. Im Mai 1989 machte sich zudem Unzufriedenheit über den allzu ersichtlichen Wahlbetrug bei den Kommunalwahlen breit. Gehler verwies auch auf das "Paneuropäische Picknick" am 19. August 1989 nach einer Idee des Europäers Otto von Habsburg: Hunderte DDR-Bürger nutzten die 90-minütige Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich zur Flucht in den Westen. Die Sowjetunion positionierte sich dazu nicht – anders als beispielsweise mit der militärischen Intervention, die 1968 den "Prager Frühling" in der Tschechoslowakei gewaltsam erstickte.

Nach dem Rücktritt Erich Honeckers als Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED war Egon Krenz für die Opposition nicht glaubwürdig, insbesondere nach einem Interview, in dem er die blutige Niederwerfung der Demokratiebestrebungen in China nicht verurteilte. Die "unbeabsichtigte Selbstauflösung" des Regimes erfolgte mit der Grenzöffnung am 9. November 1989, die laut des überforderten ZK-Mitglieds Günter Schabowski nach seinem Wissen "sofort, unverzüglich" in Kraft treten sollte – ohne Konsultation oder wenigstens Information der Sowjetunion. Gehler verwies auch auf den Faktor der wirtschaftlichen Schwäche der Sowjetunion, die 1990 nur mit westlicher Hilfe die eigene Bevölkerung ernähren konnte, und auf das ausgeprägte Machtbewusstsein auf Seiten Helmut Kohls, der niemanden im Voraus über seinen "10-Punkte-Plan" eingebunden hatte.

Die europäischen Staaten zeigten höchst unterschiedliche Wahrnehmungen und Positionen zu einem deutsch-deutschen Einigungsprojekt: US-Präsident George Bush und Außenminister James Baker waren eindeutig für eine deutsche Einheit, während man im Vereinigten Königreich nur "eingeschränkte Sympathien" hierfür hegte: Hier hing die Premierministerin Margaret Thatcher immer noch dem viktorianischen Modell an, nach dem Großbritannien die "Balance of Power" Kontinentaleuropas definierte, während der längst eingetretene Bedeutungsverlust der einstigen Weltmacht mehr als offensichtlich war. Frankreich verhielt sich zurückhaltend: Präsident François Mitterrand sah die Einheit zuerst nur sehr zögerlich positiv und glaubte zudem vorher weder an freie Wahlen in der DDR noch an die Zustimmung Gorbatschows zu einem vereinten Deutschland in der NATO.

Die Schweiz betrachtete die Einheit wiederum überaus pragmatisch als deutsche Angelegenheit und praktisch alternativlos. Österreich verhielt sich zurückhaltend-gespalten: Außenminister Alois Mock unterstützte Kohl, während Kanzler Franz Vranitzky noch 1990 Hans Modrow hofierte. Finnland verhielt sich abwartend: Es hatte zwar als einer der ersten Staaten die DDR anerkannt, doch sah es in einem vereinten Deutschland ein mächtiges Gegengewicht zur Sowjetunion. Dänemark und Schweden waren hingegen ob eines (zu) mächtigen Deutschlands besorgt; Norwegen sah die NATO mehr denn je als Garant für die nationale Sicherheit. Während sich Luxemburg der eigenen geringen Größe bewusst war, sprach sich Belgien unter Wilfried Martens für die deutsche Einigung aus. Der niederländische Ministerpräsident Ruud Lubbers unterstützte hingegen den Kurs Margaret Thatchers, was ihm von Helmut Kohl nie verziehen wurde.

Während Ungarn unter den Reformkommunisten wie Gyula Horn wohlwollend agierte, war die Tschechoslowakei abwartend-skeptisch: Gustáv Husák war mit Erich Honecker eng verbunden. Für Polen war die deutsche Einheit ein überaus sensibles Thema, nicht zuletzt aufgrund des langen Zögerns von Helmut Kohl, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen; vergeblich machte man sich Hoffnungen, ein Akteur der 2+4-Verhandlungen zu sein, doch immerhin wurde Polen in diesem Prozess konsultiert.

In Spanien sprach sich der Sozialist Felipe González klar für die deutsche Einheit aus, wie sich auch Helmut Kohl einst für Spaniens NATO- und EG-Mitgliedschaften eingesetzt hatte. Portugal befürchtete hingegen bei einer weiteren Öffnung gen Osten eher Einbußen aus dem EG-Kohäsionsfonds. In Italien zeigte sich der Christdemokrat Giulio Andreotti überaus ablehnend ("Niemand in Europa wünscht sich die deutsche Wiedervereinigung."), und auch in Griechenland war man sehr skeptisch – und schon damals kamen sofort Forderungen nach deutschen Reparationszahlungen auf. Für die Türkei war die deutsche Frage nur insofern interessant, wie sich die in Deutschland lebenden Türken verhalten würden – der Zerfall der Sowjetunion bot hingegen große Chancen im transkaukasischen Raum, von Infrastrukturprojekten über die Erweiterung des politischen Einflussgebiets bis zur Re-Islamisierung der Region.

Der Präsident der Europäischen Kommission Jacques Delors sprach sich früh für die deutsche Einheit aus und ist heute ein geradezu "vergessener Akteur", trotz der wichtigen Rolle der EG-Kommission in diesem Rahmen. Hierbei sei auch die Zusicherung Kohls erwähnt, dass sich aus der deutschen Einheit keine finanziellen Verpflichtungen der EG ergäben. Neben den oft zurückhaltenden oder gar kritischen politischen Akteuren sei es jedoch auch wichtig, an die generell positive öffentliche Meinung zu erinnern, auch und gerade in Ländern wie Italien und dem Vereinigten Königreich.

Gehler sprach auch den "nicht haltbaren" und politisch-emotional aufgeladenen Begriff der Wiedervereinigung an (da die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland und der DDR nie in dieser Form vereint gewesen waren und es sich 1990 um einen Beitritt zur Bundesrepublik handelte) sowie die Alternativen zu einer deutschen Einheit: So befürworteten Andreotti, Gorbatschow, Krenz und Thatcher die Aufrechterhaltung der Zweistaatlichkeit; Modrow sah die Vertragsgemeinschaft als mögliche Dauerlösung an; der ehemalige sowjetische Botschafter Valentin Falin brachte eine deutsche Neutralität ins Spiel, um ein vereintes Deutschland in der NATO zu verhindern; und Markus Meckel wünschte sich gar ein entmilitarisiertes Deutschland. Die Gewaltarmut der Revolution und die Gewaltfreiheit des Einigungsprozesses in Deutschland führten jedoch zu einer Fehleinschätzung anderer Konflikte, beispielsweise im Baltikum oder im blutig zerfallenden Jugoslawien. Gehler sah im Einigungsprozess eine "Sternstunde der Diplomatie" mit mannigfaltigen Kompromissen und Interessensausgleichen. Alle primären Akteure konnten für sie wichtige Ziele erreichen: Helmut Kohl die Einheit; George Bush ein vereintes Deutschland in der NATO und eine mögliche NATO-Erweiterung; Michail Gorbatschow existentiell notwendige Finanzhilfen für sein vermeintliches politisches Überleben; François Mitterrand den Euro und die deutsche Einbindung in der gemeinsamen Währung; Margaret Thatcher ein von der NATO kontrolliertes Deutschland und Jacques Delors ein besser in die zukünftige EU integriertes Deutschland.

In der anschließenden intensiven Diskussion wurde auch die Frage nach einem angeblichen Ausschluss einer NATO-Osterweiterung beleuchtet, oder auch die wichtige Rolle Vernon Walters, der den früheren US-Präsidenten Ronald Reagan versiert beraten hatte – dessen Forderung an Gorbatschow, die Berliner Mauer niederzureißen ("Mr. Gorbachew, tear down this wall!" am 12. Juni 1987) war somit keinesfalls Ausdruck politischer Naivität, sondern entsprach guten Kenntnissen über die sozio-ökonomische Lage des Ostblocks.

Dokumentation: Martin Bayer

Fussnoten