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Workshop 5: Islamismus, fragile Staaten und Migration als sicherheitspolitische Herausforderung | 14. Bensberger Gespräche 2016: Flucht und Asyl | bpb.de

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Workshop 5: Islamismus, fragile Staaten und Migration als sicherheitspolitische Herausforderung

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Im Mittelpunkt des Workshops stand die Betrachtung des Themas Flucht aus einer sicherheitspolitischen Perspektive. Der Referent Dr. Kai Hirschmann(Universität Bonn) stellte im Rahmen seines Vortrags dar, dass Fluchtbewegungen zumeist eine Folge fragiler Staatlichkeit ("failed states") sind. (© bpb)

Zunächst ging Dr. Hirschmann auf die Ursachen von Staatszerfall und dessen Profiteure ein und veranschaulichte seine theoretischen Ausführungen dabei insbesondere mit Blick auf Syrien und den Irak. Als für die aktuelle Flüchtlingsfrage von elementarer Bedeutung erachtete der Referent den Staatszerfall, der aufgrund von konstruierten Staaten in Folge der Kolonialzeit entsteht. In Afrika und Asien seien die Grenzziehungen häufig willkürlich nach den politischen Interessen europäischer Kolonialmächte erfolgt. Zur Erklärung der heutigen Instabilität Syriens und des Iraks verwies der Referent auf das 1916 zwischen Großbritannien und Frankreich abgeschlossene Sykes-Picot-Abkommen. Nach der Zerschlagung des Osmanischen Reichs grenzten die Siegermächte im Ersten Weltkrieg ihre Interessensgebiete im Nahen Osten ohne Berücksichtigung der Interessen der dort lebenden Bevölkerung voneinander ab. Als Folge dieser willkürlichen Grenzziehung lebten in den Staatsgrenzen Syriens und des Irak unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zusammen, die freiwillig keinen Staat miteinander gegründet hätten. So lebten auf dem Territorium des syrischen Staates die Kurden im Norden, die Alawiten und die sunnitische Mehrheitsbevölkerung.

Der Referent stellte anhand des sogenannten "magischen Fragilitätsvierecks" dar, wie in Prozessen von Staatsschwäche und -zerfall Parallelstrukturen entstehen können, die im Wesentlichen auf vier Machtakteuren beruhen. Wenn in einem Staat die Regierung oder das herrschende Regime infrage gestellt werde, sei dies mit einem Verlust an politischer und wirtschaftlicher Macht verbunden. Die Schwäche der Staatsregierung werde dann von drei weiteren Akteursgruppen ausgenutzt, zu denen Gebiets- und Stammesherrscher, die organisierte Kriminalität und Gruppierungen zählten, die die Beseitigung des herrschenden Systems und die Etablierung eigener politischer und/oder religiöser Ideologien anstrebten. Die Machtrivalitäten der Akteure innerhalb des "magischen Fragilitätsvierecks" führten dazu, dass die Bevölkerung zwischen die Fronten gerate und Fluchtbewegungen ausgelöst würden. Der Referent machte diese Akteurskonstellation unter anderem am Beispiel Syriens und des Iraks deutlich. Neben der Regierung gebe es in beiden Staaten mit den Kurden, die den Norden selbst verwalten, Gebiets- und Stammesherrscher. Des Weiteren existierten Strukturen der organisierten Kriminalität, die von der staatlichen Schwäche wirtschaftlich profitieren. Dem "Islamischen Staat" (IS) falle in diesem Kontext die Rolle des ideologischen "Systembeseitigers" zu.

Im Folgenden ging der Referent näher auf den Islamismus als Systemopposition ein. Islamismus sei ein Sammelbegriff für politische Ideologien, die ein alternatives Politik- und Gesellschaftsmodell umfassten und die alle anderen Regierungen als "unislamisch" ablehnten. Islamisten versuchten häufig sich durch "Wohltaten" (z. B. den Aufbau eines eigenen Gesundheits- und Sozialsystems) in der Bevölkerung zu verankern. Mit zunehmendem Leidensdruck der Bevölkerung durch Verfolgung, Unterdrückung und Ausgrenzung steige die Bereitschaft, konkurrierenden Weltanschauungen wie dem Islamismus eine Chance zu geben. Der Dschihadismus sei hingegen eine Ausprägung des Islamismus, die auf die Durchsetzung der Ideologie mit Gewalt abziele. Zu den Operationsgebieten der Dschihadisten gehörten neben Syrien und dem Irak auch Staaten wie Libyen, Jemen, Somalia, Nigeria und Mali, also jene Staaten, in denen Staatszerfallsprozesse eingesetzt hätten oder bereits weit fortgeschritten seien. Die Entstehung des IS bezeichnete der Referent als Spätfolge des US-geführten Einmarsches in den Irak im Jahr 2003. Durch den Sturz Saddam Husseins seien ethnische Interessen der Kurden und Schiiten wiederbelebt worden, die zuvor vom Regime unterdrückt worden seien. Insbesondere seien aber die Dschihadisten als ideologische "Systembeseitiger" aus dem Umsturz im Irak gestärkt hervorgegangen.

Den letzten Teil seines Vortrags widmete der Referent der Situation der Flüchtlinge in Deutschland. Er trat Befürchtungen entgegen, dass unter den Flüchtlingen auch IS-Kämpfer sein könnten. Die deutschen Sicherheitsbehörden hätten keine Erkenntnisse darüber, dass Dschihadisten die Flüchtlingsroute gezielt zur Einschleusung von Terroristen nach Deutschland nutzen. Der Referent wies darauf hin, dass es das Kalkül des IS sein könne, die Flüchtlinge in Deutschland zu diskreditieren und sie damit ein zweites Mal zu Opfern zu machen. Nach Einschätzung des Verfassungsschutzes gehe die größere Bedrohung für die innere Sicherheit nicht von den Flüchtlingen selbst, sondern von der Gewalt gegen Flüchtlinge aus. Wichtig sei es, die Flüchtlinge nicht durch Ausgrenzung in die Hände von Salafisten zu treiben, die bereits vor Flüchtlingsunterkünften Rekrutierungsversuche für die Szene unternähmen.

Der Workshop endete mit dem Fazit des Referenten, dass das Phänomen fragiler Staatlichkeit zunehme und daher vermehrt mit Fluchtbewegungen zu rechnen sei.

Dokumentation: Nils Hermsen