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Vortrag - Vergleich der Dienste an der Gesellschaft am Beispiel der Ostsee-Anrainerstaaten Finnland, Lettland und Deutschland | 19. Bensberger Gespräche 2024 | bpb.de

19. Bensberger Gespräche 2024 Zusammenfassung Einführende Bemerkungen Eröffnungsstatements Podiumsdiskussion: „Dienen“ für Deutschland Aktuelle Stunde zum Nahost-Konflikt Open Space Workshop 1 - Opferbereitschaft von Soldatinnen und Soldaten Workshop 2 - Debatte zur Wiedereinsetzung der Wehrpflicht Workshop 3 - Strategische Kultur Workshop 4 - „Geistige Landesverteidigung“ Workshop 5 - Die Werteentwicklung in der Gesellschaft Vortrag - Vergleich der Dienste an der Gesellschaft Impulsvortrag und Diskussion: Ideen für ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr für alle Podiumsdiskussion: Einsatz für die Gesellschaft und die Demokratie

Vortrag - Vergleich der Dienste an der Gesellschaft am Beispiel der Ostsee-Anrainerstaaten Finnland, Lettland und Deutschland

Inken Wiese

/ 3 Minuten zu lesen

In ihrem Vortrag verglich die Wissenschaftlerin Alexandra M. Friede die Dienste an der Gesellschaft in den Ostsee-Anrainerstaaten Finnland, Lettland und Deutschland sowie ihre unterschiedlichen Entwicklungen und Hintergründe.

Laut Friede unterscheiden sich die Ostsee-Anrainerstaaten hinsichtlich der Aufgaben, die der zivilen Bevölkerung zumindest perspektivisch in Not-, Katastrophen- und Verteidigungsfällen zufallen: Während in Finnland die Bevölkerung zur Aufrechterhaltung staatlicher Kernfunktionen beitragen soll, soll sie in den lettischen Konzepten aktiv in die tatsächliche Verteidigung eingebunden werden. In Deutschland hingegen liegt der Schwerpunkt auf der individuellen Notversorgung. (© Bundeswehr/Caldas Hofmann) (© Bundeswehr/Caldas Hofmann)

Wie binden Staaten die Zivilbevölkerung in die Verteidigung ein? Welche Pflichten werden Bürgerinnen und Bürgern zugeschrieben? Welche Formen von Diensten an Staat und Gesellschaft gibt es, und sind diese Dienste freiwillig oder verpflichtend? Welche historischen, gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge werden zu Narrativen verwoben, um Dienste und Pflichten zur Verteidigung politisch zu legitimieren? Mit solchen Fragen beschäftigt sich die Forschung von Alexandra M. Friede, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politikwissenschaft der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg, in die sie in ihrem Vortrag Einblicke gab. Im Fokus stand dabei der Vergleich zwischen den Diensten an der Gesellschaft in den Ostsee-Anrainerstaaten Finnland, Lettland und Deutschland hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Entwicklungen seit 2014. Bei Finnland handelt es sich um einen Staat mit ungebrochener Dienstpflicht, bei Lettland um einen Staat, der seine Verteidigungsstrukturen neu aufbaut; Deutschland unterscheidet sich von beiden Fallbeispielen darin, dass es seit der Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 nur noch freiwillige Dienste kennt. Mit ihrem komparativen Ansatz verfolgte Friede die Frage, durch welche Einflüsse und Ereignisse sich die Konzepte von Diensten an der Gesellschaft verändern und welche Form der politischen Kommunikation über die Notwendigkeit solcher Dienste besonders erfolgreich ist.

Friede zeigte auf, dass in den jeweiligen verteidigungspolitischen Dokumenten Erfahrungen mit Krieg und Bedrohungen zu Narrativen über die nationale Vergangenheit zusammengefügt werden, die nicht zwingend mit dem Stand der historischen Forschung übereinstimmen. Dabei würden in den drei untersuchten Staaten sehr unterschiedliche Themen und Werte dominieren: Während in Finnland Stolz, Wehrhaftigkeit, Neutralität (die im Rahmen des russischen Angriffs auf die Ukraine zunehmend abgelegt wird), Demokratie und Einheit hervorgehoben würden, würden in lettischen Dokumenten stärker Widerstand, Unterdrückungserfahrungen, Freiheit sowie die Rückkehr Lettlands in den europäischen Kontext (als Kontinuität des Selbstverständnisses) betont. In Deutschland hingegen würden politische Verantwortung und militärische Zurückhaltung angesichts des Zweiten Weltkrieges und der Shoah dominieren, sowie der Fokus auf Europa und die Auseinandersetzung mit Werten und Interessen. Laut Friede unterscheiden sich die drei Staaten auch hinsichtlich der Aufgaben, die der zivilen Bevölkerung zumindest perspektivisch in Not-, Katastrophen- und Verteidigungsfällen zufallen sollen: Während in Finnland die Bevölkerung zur Aufrechterhaltung staatlicher Kernfunktionen beitragen soll, soll sie in den lettischen Konzepten aktiv in die tatsächliche Verteidigung eingebunden werden. In Deutschland hingegen liegt der Schwerpunkt auf der individuellen Notversorgung. Ebenso untersuchte Friede die staatlichen Notfallbroschüren; diese gehen von überaus unterschiedlichen Szenarien aus: So liegt in Deutschland der Fokus auf Naturkatastrophen, in Lettland auf militärischen und hybriden Angriffen und in Finnland auf Herausforderungen bei der Versorgungssicherheit.

Angesichts der zahlreichen Unterschiede zwischen den drei Staaten stellte sich in der anschließenden Diskussion unter anderem die Frage, ob man überhaupt voneinander lernen könne. Nach Auffassung der Wissenschaftlerin Friede könne man Konzepte zwar als Ideen aufgreifen, sollte sie jedoch durch die Beobachtung von Effekten von Maßnahmen auch anpassen, um erwiesene Schwächen und Fehler zu vermeiden. Die weitere Diskussion drehte sich aber weniger um die Ausgestaltung möglicher ziviler Dienste als um die Notwendigkeit einer vorbereitenden politischen Kommunikation darüber. Kontrovers waren die Ansichten unter den Teilnehmenden zum Beispiel über die Frage, welcher politischen Ebene in Deutschland die zentrale Verantwortung für eine solche Kommunikation über Strukturen und Maßnahmen rund um Verteidigung und Katastrophenschutz zukommt. Das Spektrum reichte von der Kommunal- bis zur Bundesebene, und auch zivilgesellschaftliche Akteure wie Kirchen und Gewerkschaften wurden genannt.

Die deutsche Gesellschaft wurde von den Anwesenden als grundsätzlich bereit für eine Diskussion über Verteidigung und Wehrhaftigkeit im umfassenden Sinne und somit auch über Dienste und Pflichten wahrgenommen. Gewarnt wurde allerdings davor, eine Debatte politisch lediglich anzustoßen, ohne sie anschließend mit Inhalten zu unterfüttern. Zudem bestand große Skepsis, wie weit sich die öffentliche Meinung überhaupt politisch steuern ließe.

Vortrag: Alexandra M. Friede
Moderation: Stephanie Böhm
Dokumentation: Inken Wiese

Fussnoten

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