Mit der „Aktuellen Stunde“ erhielten die Teilnehmenden der 19. Bensberger Gespräche Einblicke in hochaktuelle, internationale Entwicklungen: Die diesjährige Ausgabe adressierte den aufs Schrecklichste wieder aufgeflammten Nahost-Konflikt. Die Moderation übernahm der freie Journalist und Autor, Dr. Ofer Waldman, selbst im Norden Israel lebend. Er selbst hätte sich am 6. Oktober 2023 – also am Vortag des Hamas-Angriffs – noch euphorisch zur Situation in seinem Land geäußert: ein schmerzhafter, aber notwendiger Prozess zum Umgang mit der Justizreform sei im Gange, hunderttausende Menschen gingen auf die Straße zur Stärkung der Demokratie – doch der nächste Tag sei ein tiefer Schock gewesen. Nach dem Terrorangriff der Hamas gab es in Israel laut Waldman eine Welle der Solidarität: Reservisten, die kurz zuvor noch ihren freiwilligen Einsatz aufgrund der Justizreform zurückgestellt hatten, erschienen schon bevor sie einberufen wurden. Inzwischen erlebe die Welt eine dramatische humanitäre Situation mit mehreren zehntausend Toten sowie geostrategischen Konsequenzen, seien es die fortlaufenden Angriffe der Hisbollah und der Huthi, oder die Verbindung zum Krieg in der Ukraine durch die auch dort eingesetzten iranischen Waffen, sowie den gestoppten Annäherungsprozess Israels mit den gemäßigten arabischen Staaten.
Dr. Muriel Asseburg, Senior Fellow in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), sah den Konflikt nicht als Kampf um eine Zweistaatenlösung, sondern um Selbstbestimmung auf beiden Seiten – mit der gleichsamen Erkenntnis, dass für die andere Seite kein Platz mehr sei, sowie der Verquickung mit anderen Fragen, die über die Region hinausreichten; letztere wiederum sei ein ideales Einfallstor für Akteure, die kein Interesse an einer Lösung des Konflikts oder gar Frieden hätten, sondern vielmehr den Konflikt für ihre eigene Agenda nutzten. In der Region wäre Israel sicherlich zuletzt als gespalten und somit geschwächt wahrgenommen worden; der Vorwurf des israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu, die Protestbewegung habe Israel so sehr geschwächt und damit den Angriff der Hamas erst ermöglicht, greife jedoch zu weit, da die Terrorattacke von langer Hand vorbereitet gewesen wäre.
Der Journalist und Autor Richard C. Schneider, der jahrelang in Israel lebte und arbeitete, beschrieb, wie er nach den ersten Informationen über den Angriff der Hamas zuerst alle Freunde in der Region angerufen hatte; viele habe er erst Tage später erreichen können. Sein nächster Gedanke war: „Ab jetzt werden sie uns jagen, überall – das Gefühl ist geblieben, und ich gehe davon aus, dass noch schrecklichere Dinge passieren werden.“ In der Tat sei weltweit eine Zunahme antisemitischer Angriffe zu beobachten. Als Folge des Angriffs werde die israelische Gesellschaft jedoch nicht zusammenwachsen, sie sei eher gespaltener: die Gesellschaft lehne zwar Netanjahu mehrheitlich ab, sie sei aber von seiner Ablösung weiter entfernt als am 6. Oktober 2023. Netanjahu wiederum werde den Krieg so weiterführen, dass er weiter an der Macht bleiben müsse. Die einzigen Akteure, die aktuell etwas bewegen könnten, seien die Familien der Geiseln. All dies sah Schneider als Folge der jahrzehntelangen Spaltung in der israelischen Gesellschaft: Radikale Siedler hätten auch israelische Soldaten angegriffen, und nicht nur Rechtsextreme forderten, den Gazastreifen wieder zu besiedeln – vor all diesen Entwicklungen hätten die israelischen Regierungen immer die Augen verschlossen: Ariel Sharon sei der Einzige gewesen, der sich getraut habe, gegen die Radikalen vorzugehen.
Asseburg konstatierte, die israelische Führung habe verdeutlicht, dass sie eine Zweistaatenlösung nicht zulassen, sondern sich nur auf die eigenen Sicherheitsstrukturen verlassen werde, so wenig sie diese vor dem Angriff geschützt hätten. Es sei unklar, wie diese Haltung mit den Forderungen der Europäischen Union oder der USA zusammengebracht werden könnte. Von Seiten der USA sieht sie Präsident Biden aktuell nicht in der Position, sich intensiv in einen Friedensprozess einzubringen. Vielmehr würden in der Region die Gedanken an Rache und Vergeltung genährt. Auch finde der bewaffnete Kampf große Unterstützung innerhalb der palästinensischen Bevölkerung. Schneider betrachtete Forderungen wie die nach der Revitalisierung der Palästinensischen Autonomiebehörde als reine Floskeln: Diese habe nicht nur ein massives Korruptionsproblem, sondern ihr fehle die Unterstützung durch die Bevölkerung, besonders bei den jungen Menschen. Zudem mangele es an einer möglichen zukünftigen Führung: Der seit Jahrzehnten inhaftierte Marwan Barghuthi könne zwar theoretisch „ein palästinensischer Nelson Mandela“ werden, doch sei er zunehmend ein Mythos, den zwei Generationen nicht mehr kennen würden. Nicht zuletzt unterstrich Schneider, dass die Zielsetzung der Hamas keine Zweistaatenlösung sei.
Die Zukunftsaussichten wurden von den Diskutierenden als überaus schwierig betrachtet: Nach Auffassung der Politologin Asseburg fehle es an der Bereitschaft, den Gazastreifen wieder bewohnbar zu machen. Schneider verwies außerdem auf die Bedeutung der Präsidentenwahl in den USA sowie auf die zentrale Rolle des Irans; mit der aktuellen israelischen Regierung sei eine konstruktive Fortentwicklung nicht denkbar. Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, berichtete in einer Wortmeldung aus dem Publikum heraus von seinem Eindruck während seines letzten Besuchs in Israel vor wenigen Wochen, die Beduinen könnten sich Israel zuwenden. Waldman konstatierte, dass der Angriff der Hamas auch Beduinen und israelischen Palästinensern das Leben gekostet habe; eine Zuwendung an Israel sei somit eine reelle Chance. Schneider befürchtete hingegen, dass diese Chance vertan werde: Einerseits gäbe es viele Aufrufe von Seiten israelischer Palästinenser und Beduinen („Das ist unser Staat“ auf Hebräisch), doch würden Rechtsextreme und selbst die israelische Polizei gegen diese Bewegung vorgehen.
Angesprochen auf die propalästinensischen Demonstrationen in Deutschland, auf denen auch der Terrorangriff der Hamas gefeiert wurde, antwortete Schneider, dass er keineswegs überrascht war, dass so etwas geschah: „Ich war nur überrascht über die Naivität der deutschen Gesellschaft, die immer wieder sagte, es gäbe keinen Antisemitismus in Deutschland.“
Dokumentation: Martin Bayer