Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Podiumsdiskussion: „Dienen“ für Deutschland – Sache der Bundeswehr oder gesamtgesellschaftliche Aufgabe? | 19. Bensberger Gespräche 2024 | bpb.de

19. Bensberger Gespräche 2024 Zusammenfassung Einführende Bemerkungen Eröffnungsstatements Podiumsdiskussion: „Dienen“ für Deutschland Aktuelle Stunde zum Nahost-Konflikt Open Space Workshop 1 - Opferbereitschaft von Soldatinnen und Soldaten Workshop 2 - Debatte zur Wiedereinsetzung der Wehrpflicht Workshop 3 - Strategische Kultur Workshop 4 - „Geistige Landesverteidigung“ Workshop 5 - Die Werteentwicklung in der Gesellschaft Vortrag - Vergleich der Dienste an der Gesellschaft Impulsvortrag und Diskussion: Ideen für ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr für alle Podiumsdiskussion: Einsatz für die Gesellschaft und die Demokratie

Podiumsdiskussion: „Dienen“ für Deutschland – Sache der Bundeswehr oder gesamtgesellschaftliche Aufgabe?

Martin Bayer

/ 5 Minuten zu lesen

In der Podiumsdiskussion wurden die Rollen von Bundeswehr und Zivilgesellschaft in Bezug auf den Schutz von Staat und Gesellschaft sowie hinsichtlich der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit auch im Krisen- oder gar Verteidigungsfall beleuchtet.

Teilnehmende der Podiumsdiskussion (v. l. n. r.): Oberstleutnant i.G. Marcel Bohnert, stv. Bundesvorsitzender des Deutschen BundeswehrVerbandes (DBwV); Dr. Susann Worschech von der Europa-Universität Viadrina; Dr. Heiko Biehl, Leitender Wissenschaftlicher Direktor am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr und Beatrix Austin von der Berghof Foundation. (© Bundeswehr/Caldas Hofmann)

Bundeswehr und Zivilgesellschaft

Die Moderatorin Dr. Kristin Becker stieg in die Diskussion mit einem ca. dreiminütigen aktuellen Teaserclip der Bundeswehr ein und fragte die Podiumsgäste nach ihrer Wahrnehmung des Videos. Der stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, Oberstleutnant i.G. Marcel Bohnert, beurteilte diesen recht positiv, zumal im Vergleich zum sonstigen Marketing der Bundeswehr, in dem die „scharfen Seiten“ der Streitkräfte eher ausgeblendet und auf Katastrophenhilfe fokussiert würde. Er sah die Botschaft als „relativ ehrlich“ an, verwies aber auch auf Dopplungen im Clip und auf seine problematische Gesamtlänge, angesichts der heute oft reduzierten Aufmerksamkeitsspanne.

Dr. Susann Worschech, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Europa-Universität Viadrina, konstatierte eine große Entfremdung der Zivilgesellschaft vom Soldatenberuf; zudem diene die Zivilgesellschaft nicht – sie sei erst einmal nur da und mache etwas aus Freiwilligkeit heraus. Die Zivilgesellschaft müsse erst einmal gar nichts und solle nicht zum Dienen gebracht werden. Allein deshalb sei es ihrer Ansicht nach schwierig, eine gemeinsame Sprache mit der Bundeswehr zu finden. Krieg habe, so Worschech, bis 2020 keine Rolle im Alltag gespielt. Polizei und Militär seien sehr abgeschlossene Welten und weit entfernt von den biographischen Möglichkeiten junger Bürgerinnen und Bürger. In der Ukraine seien Zivilgesellschaft und Militär deutlich stärker miteinander verwoben: Seit 2014, letztendlich aber seit der ersten Unabhängigkeit 1918, sei die Ukraine in ihrer Existenz bedroht. Um die Freiwilligenbataillone in der Ostukraine habe sich ein hohes Engagement aus der Zivilbevölkerung aufgrund vieler gegenseitiger Kontakte entwickelt – und Initiativen und Nichtregierungsorganisationen versuchten, die Lücken des Staates zu schließen (z.B. medizinische Versorgung, Transport, Ausrüstung etc.).

Für Dr. Heiko Biehl, den leitenden Wissenschaftlichen Direktor am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, lässt sich die Motivation der Ukraine – der Ausgleich eines staatlichen Defizits – nicht auf Deutschland übertragen. Hierzulande sei der Arbeitsmarkt überhitzt – niemand fände Personal, was sich auch in den Rekrutierungsproblemen der Bundeswehr zeige. Allerdings fehle es der Bundeswehr seit 20 Jahren an Frauen – dies könne man sich, so Biehl, nicht erklären, auch im Vergleich zu anderen Staaten, deren Militär eine höhere Frauenquote aufweise. Eine wirkliche Entfremdung zur zivilen Gesellschaft sehe er zwar nicht, aber doch die Tatsache, dass es während der Wehrpflicht deutlich mehr Berührungspunkte gab.

Die Friedensforscherin Beatrix Austin von der Berghof Foundation definierte das Recht auf Selbstverteidigung und den Schutz der territorialen Integrität als Dilemmata für die zivile Konfliktbearbeitung. Trotzdem habe auch Abschreckung ihre Grenzen, somit benötige es neben den hohen Ausgaben für Militär auch entsprechende Investitionen in die Zivilgesellschaft, um die Pläne der Partner und Gegner zu verstehen.

Bohnert argumentierte, dass durch die Auslandseinsätze der Bundeswehr die Landesverteidigung aus dem gesellschaftlichen Fokus gerückt sei. Der Krieg in Afghanistan hätte mit den hiesigen gesellschaftlichen Realitäten nichts zu tun gehabt. Ebenso falsch sei es aber, die Streitkräfte nun ausschließlich auf die Landes- und Bündnisverteidigung auszurichten, was auch der aktuelle Nahostkonflikt und seine Auswirkungen auf Deutschland und Europa zeige. Wichtig sei die Anerkennung und Wertschätzung der Streitkräfte im Generellen, beispielsweise durch schnelle Genehmigungen von Transporten durch lokale Behörden. Zudem wären mehr Berührungspunkte hilfreich: So sei von „Air Defender 2023“ nicht viel zu sehen gewesen, bis auf die aufatmende Berichterstattung, dass das Großmanöver nur zu geringen Störungen für die zivile Luftfahrt geführt habe. Doch weiterhin existierten an vielen Schulen Betretungsverbote für Jugendoffiziere. Worschech bestätigte die Notwendigkeit zu vergrößerter Präsenz vor Ort – doch Schulen seien weiterhin heikel.

Außenwahrnehmung der Bundeswehr

Nach Ansicht von Biehl sollte die Bundeswehr jede Gelegenheit zur Öffentlichkeitsarbeit nutzen; selbst, wenn die Berichterstattung in den Medien über die Bundeswehr kritisch sei, würde die aktive Öffentlichkeitsarbeit der Streitkräfte von der Öffentlichkeit positiv wahrgenommen. Auch das Bahnfahren in Uniform sei ein solcher Schritt zur Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung, oder der jährliche Tag der Bundeswehr. Die Sozialwissenschaftlerin Worschech sah in diesem Kontext die Gefahr, dass die dabei generierten Bilder möglicherweise unkontrolliert seien und es unklar wäre, auf welche Narrative sie träfen. Worschech berief sich auf den im eingangs abgespielten Video enthaltenen Satz „Wir lieben unser Land“ – „viele hoch engagierte Menschen“ würden sich dieser Formulierung trotz ihrer Einsatzbereitschaft niemals anschließen. Dementsprechend sei es notwendig, Begegnungen zwischen Bundeswehr und Zivilgesellschaft zu moderieren, woraus ein gegenseitig aufgebautes Vertrauen entstünde.

Bohnert stimmte ihr zwar zur Notwendigkeit des aufzubauenden Vertrauens zu, doch stellte er gleichsam fest, dass die dafür erforderliche Zeit nicht vorhanden sei: Die Großübung „Quadriga 2024“ werde „im Mai durch Deutschland rauschen“, und die dabei entstehenden Bilder würden sich nicht vermeiden lassen; dementsprechend müsse das Manöver faktisch und emotional begleitet werden.

Austin fragte hierauf, welche Sicherheiten und Freiheiten wir verteidigten, und wie die Bilder der Manöver auf Kinder mit Kriegserfahrungen wirken könnten? Zudem hätten internationale Partner wegen des aktuellen Nahostkonflikts Glaubwürdigkeitsprobleme mit Deutschland. Es gäbe zwar tatsächlich wenige historische Beispiele, dass gewaltfreie Konfliktlösungsformen zur Befriedung zwischenstaatlicher Kriege beigetragen haben, doch diese seien innerstaatlich schon erfolgreich in der Abwehr staatlicher Gewalt eingesetzt worden.

Nach der Auffassung von Bohnert wurde die Bundeswehr lange Zeit nur als Dienstleister wahrgenommen (z.B. zur Unterstützung in der COVID-Pandemie). Immerhin gäbe es nun den gemeinsamen „Operationsplan Deutschland“ und damit einen gesamtstaatlichen Verteidigungsplan, der nicht nur die Bundeswehr, sondern viele zivile Institutionen beinhaltet. 60 Prozent der jungen Menschen wären zu einem Pflichtdienst bereit; auch Bohnert verwies auf das schwedische Modell, das jeden Bürger einer Musterung unterziehe, jedoch aktuell nur einen kleinen Teil (freiwillig) zum Militär einziehe. Laut Worschech komme man in demokratischen Gesellschaften mit Zwang nicht weiter: „Zivilgesellschaft braucht Räume, wo man sich treffen kann, und das Verständnis, dass man freiwillig etwas leistet“; somit sei eine gesamtgesellschaftliche Verantwortungsethik vonnöten.

Auf die Frage aus dem Publikum nach der empirischen Evidenz (zumal Service-Learning in den USA zu einer größeren Bereitschaft an ehrenamtlichem Engagement führe) meinte Worschech, diese gebe es zwar nicht, jedoch eine theoretische, da eine Zivilgesellschaft freiwillig und selbstorganisiert sein müsse, ansonsten sei sie keine Zivilgesellschaft – und genau diese Zivilgesellschaft müsse man über Förderprogramme und Wertschätzung entwickeln. Nach der Rückfrage, wie verhindert werden könne, dass in solchen Formaten stets spezifische (bildungsbürgerliche) Gruppen vorherrschten, während man andere Klientele nur wenig erreiche, antwortete Worschech, dies könne zwar sein, doch sei dies „eine andere Zielgruppe und eine andere Debatte“.

Zum Abschluss erklärte ein im Publikum anwesender Offizier, dass er schon seit 38 Jahren freiwillig diene, und zwar „nicht nur für den Staat, sondern für die Gesellschaft“. Ein Zwischenrufer negierte dies jedoch: der Soldat erhalte doch Geld dafür; ein Umstand, der mit einem freiwilligen Engagement nicht zu vergleichen sei. Allein hieran zeigte sich, wie unterschiedlich die Vorstellungen von Dienst, von Freiwilligkeit oder auch den Spezifika des Soldatenberufs sind.

Dokumentation: Martin Bayer

Fussnoten

Weitere Inhalte