Dr. Aylin Matlé, Research Fellow am Zentrum für Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik
Dr. Aylin Matlé begann ihren Vortrag mit der Regierungserklärung vom 27. Februar 2022, in der Bundeskanzler Olaf Scholz konstatierte:
Kaum mehr als drei Monate später beschloss der Deutsche Bundestag das sogenannte Sondervermögen Bundeswehr in der Höhe von 100 Milliarden Euro. Mit diesen Geldern soll die Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit sichergestellt werden, auch um die Versprechungen gegenüber den Bündnispartnern einzuhalten. Seit Jahren, ja Jahrzehnten absehbare Beschaffungsprojekte wie der schwere Transporthubschrauber CH-47F oder das Kampfflugzeug F-35A als Nachfolger des Tornado zur Sicherstellung der nuklearen Teilhabe könnten somit endlich eingeführt werden; hinzu kämen dringend notwendige Investitionen in Infrastruktur, persönlicher Ausstattung, Kommunikations- und Wirkmittel. Nicht zu vergessen sei die lange verfehlte Verpflichtung aller NATO-Staaten, 2 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts für Sicherheit und Verteidigung aufzuwenden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Zeitenwende sei die Abkehr vom bisherigen Grundsatz, Kriegsgerät nicht in Kriegs- und Konfliktregionen zu liefern. Zwar wurden schon ab 2014 die kurdischen Peschmerga in ihrem Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (Daesh) mit Schutzausstattung, aber auch Kleinwaffen und Fahrzeugen unterstützt, doch waren jene Lieferungen weder quantitativ noch qualitativ mit den Lieferungen an die Ukraine seit dem russischen Angriff im Jahr 2022 zu vergleichen. Zu Beginn jenes Krieges wollte die Bundesregierung noch weitgehend an diesem Diktum festhalten: Für die Lieferung von 5.000 Helmen angesichts eines Großangriffs wurde die Bundesregierung, so Matlé weiter, zurecht national als auch international kritisiert. Inzwischen sei Deutschland der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine in ihrem Abwehrkampf nach den USA.
Seit 2017 ist Deutschland auch als Framework Nation in NATO-Kontingenten aktiv. Im Frühsommer 2022 signalisierte die Bundesregierung die Bereitschaft, eine Kampfbrigade für die enhanced Forward Presence (eFP) der NATO bereitzustellen – diese sollte allerdings in Deutschland stationiert werden. Nach heftiger Kritik erfolgte etwa ein Jahr später die Kurskorrektur aus dem Verteidigungsministerium: Mit der Brigade Litauen aus ca. 4.800 Soldatinnen und Soldaten sind zum ersten Mal bundesdeutsche Truppen dauerhaft im Ausland stationiert.
Große Anteile des Sondervermögens Bundeswehr seien allerdings noch nicht ausgegeben. Probleme reichten von Überregulierung, behördlichen Hürden, den Spezifika des Bundesamtes für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) als Beschaffungsbehörde bis zu Personalien wie der damaligen Verteidigungsministerin Lambrecht. Manche Prozesse seien seit der Übernahme durch den aktuellen Verteidigungsminister Pistorius verbessert worden. So wurden Rüstungsgüter für 32 Milliarden Euro bestellt und 55 Beschaffungsvorhaben von mehr als jeweils 25 Millionen Euro wurden im Jahr 2023 dem Finanzausschuss des Bundestags vorgelegt.
Doch schon jetzt – wie auch zum Beschluss des Sondervermögens – würde deutlich, dass diese Mittel nicht ausreichen werden, um die Bundeswehr nachhaltig zu modernisieren, ganz abgesehen davon, dass durch Inflation, Zinsbelastungen und Mehrwertsteuer letztendlich nur 70 bis 80 Milliarden Euro real zur Verfügung stünden. So fordere die Wehrbeauftragte Högl etwa 300 Milliarden Euro, um Ausrüstungslücken angemessen zu schließen. Allein für die Modernisierung der Infrastruktur wären laut Högl ca. 50 Milliarden Euro notwendig. Auch die Munitionsknappheit werde immer wieder thematisiert. Aus gutem Grund gibt die NATO vor, dass Munitionsvorräte für 30 Tage Kampf vorzuhalten sind – Deutschland habe hingegen Munition nur für wenige Tage vorgehalten. Laut Verteidigungsministerium wären hierfür 20 Milliarden Euro notwendig – doch 2023 waren hierfür nur 1,1 Milliarden Euro eingeplant.
Matlé verwies darauf, dass diese Summen zwar riesig erscheinen mögen, doch entsprächen sie nur den Einsparungen der letzten Jahrzehnte von fast 400 Milliarden Euro seit 1990, der sogenannten „Friedensdividende“. Schon im Jahr 2027 werde der Wehretat bei ca. 52 Milliarden Euro stagnieren – das postulierte Zwei-Prozent-Ziel könne also schon bald nicht mehr erreicht werden, zumal, da das Sondervermögen spätestens 2028 aufgebraucht sei. Viele Versprechen würden so nicht umsetzbar sein. Positive Absichten sind somit laut Matlé erkennbar, doch die Umsetzung sei schlichtweg mangelhaft, vor allem, wenn man bedenke, dass die „eigentliche Zeitenwende“ bereits im März 2014 begonnen habe – schon damals hätte man entschlossen reagieren müssen. Doch neben dem Schließen von Ausrüstungs- und Fähigkeitslücken sei es mindestens ebenso notwendig, eine sicherheitspolitische Kultur in Deutschland zu entwickeln. Der Großteil der Bevölkerung unterstütze zwar die Waffenlieferungen an die Ukraine und die gestiegenen Ausgaben für die Bundeswehr – doch wie nachhaltig sei diese Unterstützung, oder ist sie nur ein aktuelles Stimmungsbild? Der immer länger andauernde Krieg in der Ukraine werde zur Gewohnheit, während neue Tagesereignisse die schrecklichen Geschehnisse im Osten Europas aus den Medien verdrängten.
Dr. Heiko Biehl, Leitender Wissenschaftlicher Direktor, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr
Der leitende Wissenschaftliche Direktor am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Dr. Heiko Biehl, betrachtete in seinem Vortragsteil zuerst die Bundeswehr in der Zeitenwende, die von einer Interventionsarmee wieder zur Verteidigungsarmee umgewandelt werde. Betrachte man diese beiden Varianten als militärsoziologische Idealtypen, kennzeichne letztere ein stabiles (und somit planbares) strategisches Umfeld, eine auf Notwehr basierte (und somit von der Bevölkerung nachvollziehbare) Legitimation, die Rekrutierung von Wehrpflichtigen (da die Bürger ihr Land verteidigen) und eine hohe Integration in die Gesellschaft (Übung im Inland, verteilte Stationierung, zivil-militärischer Austausch durch die Wehrpflicht). Eine Interventionsarmee hingegen werde von einem variablen strategischen Umfeld, einer politischen Zielen folgenden Legitimation, rekrutierten Freiwilligen und einer differenzierten Beziehung zur Gesellschaft charakterisiert.
Betrachte man die deutsche Gesellschaft in der Zeitenwende, so stelle sich die Frage, ob diese in der Tat bereit sei, dem Land zu dienen? Biehl sieht dabei Dienen nicht nur als Aufgabe der Bundeswehr, sondern für die Gesamtgesellschaft. Zwar wurde der Verteidigungsetat (Einzelplan 14 des Bundeshaushalts) von 32 Milliarden Euro (2014) auf 47 Milliarden Euro (2021) erhöht – diese Steigerung sei zwar immens, doch andererseits nicht ausreichend; zudem sei das Sondervermögen kein Vermögen sondern bildete „Sonderschulden“ – Sondersteuern würden hingegen den Bürgerinnen und Bürgern nicht zugemutet.
Biehl stellte daraufhin die Frage, ob die Zivilgesellschaft also bezüglich der Verteidigung ihres Landes tatsächlich engagiert sei, oder ob sie vielmehr nur die „Belästigung“ durch die Bundeswehr dulde? Als mit „Air Defender 2023“ die größte militärische Übung im Luftraum seit 1990 durchgeführt wurde, war die primäre Kommunikation der Bundeswehr, dass man versuche, die Belastung für die Bevölkerung so gering wie möglich zu halten – es gäbe keine Flugausfälle, höchstens einige wenige Verspätungen. Die Chance, jene Großübung zuvorderst als Beispiel für die eigene Verteidigungsbereitschaft zu kommunizieren, sei somit vertan worden. Immerhin sähen nun 82 Prozent der Bevölkerung in Russland die größte Sicherheitsbedrohung (Allensbach 2023; 2022 sahen dies nur ein Drittel), während 12 Prozent Vertrauen in die russische Regierung haben (Körber Berlin Pulse 2023). Die erfolgreiche Umsetzung der Zeitenwende bedeute laut Biehl die Kombination aus der Erfüllung militärischer Notwendigkeiten, der Erhöhung der gesellschaftlichen Unterstützung und der Übernahme politischer Verantwortung.
Dokumentation: Martin Bayer