"Die menschliche Stimme scheint eine sehr körperliche Demonstration zu sein, körperlicher als der Körper, dem sie entströmt. Die Stimme des Sängers im Konzertsaal überwölbt, verhüllt, ja verdrängt manchmal die Erscheinung des Sängers. Schon der sprechende Mensch ist eine doppelte körperliche Existenz. Oft verwandelt sich der Schweigende vollkommen, sobald er zu sprechen beginnt. Was wir von ihm hören, verändert den Eindruck, den wir hatten, als wir ihn nur sahen. Die Stimme 'geht uns näher'. Sie scheint unmittelbarer zu sein als das Angesicht, die Hand, die ruht. Ja, die Stimme ist eine direkte körperliche Berührung" – so der Schriftsteller Joseph Roth 1929 in seinen Bemerkungen zum Tonfilm in der Essay- und Reportage-Sammlung Panoptikum.
Diva furiosa – Diva dolorosa
Zu Beginn des zweiten Aktes von Richard Wagners Parsifal wird die "Urteufelin! Höllenrose" vom Zauberer Klingsor aus dem Schlaf geweckt. Erwachend stößt Kundry, so sagt der Nebentext, "einen grässlichen Schrei" aus und lässt "ein Klagegeheul, von größter Heftigkeit zu einem bangen Wimmern sich abstufend, vernehmen". Dieser Schrei durchwandert einen Tonraum von fast zwei Oktaven und, in einem metaphorischen Sinn, die Ewigkeit weiblichen Leides. Kundry lebt in der Vorexistenz der Sünderin – sie hat den am Kreuz sterbenden Christus verhöhnt – und in der sich wiederholenden Existenz der erotischen Verlockung. Sie verkörpert, so Hans Mayer, "die Zeitlosigkeit und die reine Gegenwart". Vielleicht lässt sich von dieser Figur, deren künstlerische Darstellung sich einer "naturalistischen Kühnheit im Erkunden und Darstellen schauerlich kranken Seelenlebens" (Thomas Mann) verdankt, ein neuer oder anderer Blick auf Maria Callas richten, nicht nur, weil auch sie "die Zeitlosigkeit und die reine Gegenwart" verkörpert. Warum sie und nicht Zinka Milanov, nicht Renata Tebaldi, nicht Victoria de los Ángeles, nicht Montserrat Caballé – warum nicht all diese Schönstimmigen, die eine Fülle des Wohllauts ausgeschenkt haben?
Das ist viel, aber nicht genug. Aus vielen Darstellungen von Maria Callas dringt der Klageschrei der Kundry (die sie zu Beginn ihrer Laufbahn auch gesungen hat). Über ihre dank des Timbres unverwechselbare Stimme, vom Dirigenten Tullio Serafin, ihrem Mentor, als "groß und hässlich" beschrieben, und über ihre technische Virtuosität – ein Können, das ein Mehr-können-als-es-können war – ist alles gesagt. Bekannt ist auch, dass in ihr der Typus der romantischen Primadonna, einst verkörpert von Maria Malibran und Giuditta Pasta, auferstand; und ebenso, dass durch sie die Renaissance der Belcanto-Oper möglich und eine Erneuerung des italienischen Gesangs angeregt wurde. Es war eine Erneuerung im emphatischen Sinne, nicht in dem antiquarischer Historie.
Maria Callas machte spürbar, dass sich in jenen Gestalten die Geschichte weiblicher Empfindungen und unabgegoltenen Leides spiegelt. Ihr Gesang lässt den, der hören will und mit Empathie zu hören versteht, nicht los. Diese in jedem Ton, in jedem Seufzer unverkennbare Stimme stellt Gleichzeitigkeit her zwischen dem Lieben und Leiden, den Qualen und Verzweiflungen scheinbar zeitferner Heroinen, wie Medea und Giulia, Amina und Norma, Anna Bolena und Lucia, Violetta und Tosca, und moderner Empfindsamkeit. Ingeborg Bachmann hat dies mit dem Satz verdeutlicht, dass Maria Callas "durchhören ließ durch Jahrhunderte". Wann immer sie die Klangbühne betrat, ließ sie spüren, dass alle erhabenen Melodien unbezwinglich traurig sind. Maria Callas war "a voice in time" – die Stimme des "age of anxiety", also eine politische Stimme.
"A voice in time"
Im Juni 1897 meldete der Sekretär Giacomo Puccinis einen unerwarteten Besucher an, der sich nicht abweisen ließ. Von seinem Klavier aus rief der Komponist: "Chi è lei?" Verlegen lachend trat ein junger Mann ein und antwortete singend: "Chi son? Son un poeta." Der junge Sänger bat darum, sich an der Arie Che gelida manina versuchen zu dürfen, obwohl er nicht sicher war, das hohe C zu erreichen. Und dann sang er so makellos, dass der Komponist voller Rührung rief: "Wer hat dich geschickt? – Gott?!" Der Sänger war der 24-jährige Enrico Caruso.
Legenden sind der Weihrauch der Geschichte und die Episode, die Stanley Jackson in seiner Biografie Giacomo Puccinis erzählt, mag zu jenen gehören, die nicht den Tatsachen entsprechen. Dennoch ist sie, in einem höheren Sinne, wahr. "Du singst wie ein Gott" gehört zu den Leitmotiven der Berichterstattung über den Neapolitaner. Vier Jahre später, nach einer Aufführung von Gaetano Donizettis L’Elisir d’amore im Mailänder Teatro alla Scala, bei der Caruso die Arie Una furtiva lagrima zweimal hatte wiederholen müssen, umarmte Arturo Toscanini den Tenor und sagte zu Giulio Gatti-Casazza, dem Impresario des Theaters: "Per Dio! Se questo Napoletano continua à cantare così, farà parlare di se il mondo intero!" ("Bei Gott! Wenn dieser Neapolitaner weiter so singt, wird die ganze Welt über ihn reden!")
Wieder ein Jahr später, am 11. März 1902, erlebten Alfred Michelis und Fred Gaisberg – als Vertreter der Londoner Gramophone Company auf der Suche nach Sängern nach Mailand gekommen – die magnetische Anziehungskraft des damals 29-jährigen Tenors. Interner Link: Sie boten ihm an, zehn Arien auf Platten zu singen. Caruso verlangte ein Honorar von 100 Pfund. Gegen die strikte Anweisung seiner Firma – "Fee exorbitant … forbid you to record" – bat Gaisberg den Tenor in einen Salon des Grand Hotel in der Via Manzoni. Dort ließ Caruso "das flüssige Gold seiner schönen Stimme" in den Trichter fließen. Gaisberg berichtete später, dass seine Gesellschaft mit diesen Aufnahmen in kurzer Zeit einen Gewinn von 13.000 Pfund gemacht habe. A voice in time lautete der Titel des Erinnerungsbuchs, das Fred Gaisberg geschrieben hat. Über Caruso sagte er: "He made the gramophone." Mit einer Inversion: "The grammophone made Caruso." Carusos 238 (publizierte) Aufnahmen, entstanden zwischen 1902 und 1919, verhalfen der Schallplatte zum Durchbruch. Sein Erfolg lockte alsbald viele seiner Kolleginnen und Kollegen vor den Trichter.
"Die Tränen der Bühne sind falsch, sind Trug"
Enrico Caruso wurde dank seiner betörenden und sinnlich glühenden Stimme zum Idol des Publikums und zum Modell (fast) aller italienischen Tenöre des 20. Jahrhunderts. Dank der Platte löste sich der Ruhm von seinem Träger und der Name des Sängers ging ein in die Mythologie des Alltags. Der Komponist Sydney Homer, dessen Frau Louise in New York mehrmals mit Caruso auf der Bühne stand, notierte in seinen 1939 veröffentlichten Erinnerungen: "Bevor Caruso kam, war ich nie einer Stimme begegnet, die der seinen auch nur entfernt ähnelte. Nach ihm habe ich Stimme um Stimme gehört – große und kleine, hoch liegende und tiefe Stimmen –, die sich der seinen, oft gewaltsam, anzugleichen versuchten." Homer beschrieb damit einen kulturindustriellen Prozess: die Mediatisierung der Tenorstimme. Diese fiel zusammen mit einem Stil- und Ausdruckswandel der Musik selbst, die den Charakter einer Massen- ergo Konsumkunst anzunehmen im Begriffe war.
Carusos Karriere begann kurz nach den Uraufführungen von Pietro Mascagnis Cavalleria Rusticana (1890) und Ruggero Leoncavallos Pagliacci (1892), den prototypischen Opern des sogenannten Verismo. Soziologisch gesehen begann mit dem Verismo die musikalische Massenkunst. Er bot, mit einer Denkfigur von Marcel Proust, "das Erhabene von unten". Die Oper blieb nicht länger das Diletto gehobener Stände, sondern wurde Unterhaltung für das breite Publikum oder romantische Kunst für den Konsum von Emotionen.
Zwar dominierten an den großen Bühnen in Italien, England, Russland und Amerika noch Sänger der alten Schule des Belcanto, aber die kompositorischen Neuerungen, vor allem die Affektsprache des Verismo, wirkten sich nachhaltig und nachteilig auf fast alle Sänger aus, deren Karriere zwischen 1900 und 1920 begann. Die einstige Balance zwischen dem Dekorativen und dem Expressiven wurde preisgegeben und ersetzt durch eine Manier, die Affekte mit naturalistischen Mitteln – Seufzern, Schluchzen und Schreien – nachzuahmen versucht. Ausgerechnet die Kunst, die, wie es im Prolog zu Pagliacci heißt, die Tränen der Bühne als Trug bezeichnete, begann, Affekte durch Tränen zu simulieren. Das signifikanteste Beispiele für eine "Melodie", die durch krasse Ausdrucksmittel starke Emotionen auslöste, war Carusos Aufnahme von Canios Lamento Recitar … Vesti la giubba aus Pagliacci von 1907. Das grelle Lachen nach "Bah, sei tu forse un uom?" und der kleine Schluchzer vor beiden Wörtern der letzten Phrase ("il cor") fanden ihr Echo in den Platten der meisten italienischen Tenöre – und finden es bis auf den heutigen Tag.
Was bei Caruso noch den Eindruck eines unmittelbaren Affekts erweckte, geboren aus kontrollierter Spontaneität, verwandelte sich in einen Allzweck-Effekt: in einen "Gefühlsverstärker", der Leidenschaft oder Verzweiflung nachahmt und zugleich die Identifikation mit der Rolle beglaubigen soll. Benjamino Gigli vergießt etwa im Finalgesang des Edgardo aus Lucia di Lammermoor Ströme von Tränen; die Szene des vor Verzweiflung wahnsinnigen Des Grieux am Ende des dritten Aktes von Puccinis Manon Lescaut ("Guardate, pazzo son") beendet er mit "antikischem Heldenjammergeschrei", mit dem er in den 1940er Jahren, als Bote seiner Regierung, bei Konzerten im Berliner Sportpalast die Massen entzündet, wie es die politischen Agitatoren taten.
Die Formulierung "antikisches Heldenjammergeschrei" stammt aus Thomas Manns Erzählung Mario und der Zauberer von 1930 und ironisiert im narrativen Zusammenhang die Exaltationen eines wehleidigen Jungen am Strand. Doch beschreibt sie auch die von unangenehmen Klängen getrübte Atmosphäre im Badeort Torre di Venere, dem Schauplatz der Erzählung. Sie deutet an, dass sich in der Art und Weise des Sprechens die Mentalitätsgeschichte der damaligen Zeit spiegelt: die faschistische Atmosphäre, die auf die politische Rede ebenso abfärbte wie auf den sängerischen Stil der Affektzuspitzung, der nichts anderes ist als Demagogie in der Sphäre des Ästhetischen. Denn es gibt einen geheimen, manchmal unheimlichen Zusammenhang zwischen der Macht der Stimmen und den Stimmen der Macht.
Macht der Stimmen – Stimmen der Macht
In einer Betrachtung von 1887 beschreibt Friedrich Nietzsche, wie im politisch erstarkten Deutschen Reich nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870 / 71 die Redeweise preußischer Offiziere die Alltagssprache zu durchdringen begann:
Zitat
Man gebe acht auf die Kommandorufe, von denen die deutschen Städte förmlich umbrüllt werden, jetzt wo man vor allen Toren exerziert: Welche Anmaßung, welches wütende Autoritätsgefühl, welche höhnische Kälte klingt aus diesem Gebrüll heraus! Sollten die Deutschen wirklich ein musikalisches Volk sein? – Sicher ist, dass die Deutschen sich jetzt im Klange ihrer Sprache militarisieren: Wahrscheinlich ist, dass sie, eingeübt militärisch zu sprechen, endlich auch militärisch schreiben werden. Denn die Gewohnheit an bestimmte Klänge greift tief in den Charakter: – man hat bald die Worte und Wendungen und schließlich auch die Gedanken, welche eben zu diesem Klange passen!
In Thomas Manns Buddenbrooks (1917) erlebt der junge Hanno erschreckt, dass einige Lehrer und Schüler nach dem Krieg von 1870 / 71 einen Jargon sprechen, der "zugleich salopp und schneidig" ist, und dass die Schule zu einem Staat im Staate geworden und dazu bestimmt ist, für die innere Militarisierung der Schüler zu sorgen.
Im kommunikativen Vollzug übernimmt der Sänger nicht nur eine ästhetische Rolle, sondern auch eine soziale. Zu hören ist dies etwa in den Aufnahmen vieler Bayreuther Wagner-Sänger aus den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – in einem Singen, das nicht allein der ästhetischen Vermittlung diente, sondern zunehmend im Dienst einer pathos-schweren nationalen Botschaft stand. Welches nationale Selbstwertgefühl das damalige Deutschland aus dem Wahn der kulturellen Überlegenheit zog, hat Hans Rudolf Vaget in seinem Buch Seelenzauber – Thomas Mann und die Musik eindringlich gezeigt. In Bayreuth, und nicht nur dort, entwickelte sich ein Singen aus dem Ungeist eines welterobernden Künstlertums. Ob sich die Sänger oder Dirigenten dessen bewusst waren, ist nicht von Belang; sie waren Repräsentanten oder Partizipanten eines musikalischen Klimas, das sich von der Mentalität der Epoche nicht ablösen lässt, wahrscheinlich diese Mentalität nährte.
Stimmwunder
In seinem Nachruf auf Maria Callas zitiert Walter Legge, der Produzent vieler ihrer Aufnahmen, den Dirigenten Tullio Serafin mit dem Satz: "In meinem Leben habe ich drei Wunder erlebt – Caruso, Ponselle und Ruffo. Daneben hat es einige wundervolle Sänger gegeben." Serafin hat hier, genau besehen, in erster Linie von Stimmen gesprochen und erst in zweiter von Sängern. Fragt man nach Sängern, die eine Richtung gewiesen haben, sind neben Caruso der Bass Fjodor Schaljapin und Maria Callas zu nennen und insbesondere auch Dietrich Fischer-Dieskau. Wunder waren die italo-amerikanische Sopranistin Rosa Ponselle und der italienische Bariton Titta Ruffo durch den einzigartigen klanglichen Reichtum, die opalisierenden Farben und die vibrierende Intensität ihres Singens. Sie erweckten den Eindruck vollkommener Natürlichkeit, weil das ganze technische Können in Natur aufgegangen und zweite Natur geworden war. Das "Material" aber war nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Verwirklichung, so wie technische Fertigkeiten keineswegs leere Virtuosität bedeuten müssen.
"Verwirklichung" ist die zentrale Kategorie in Richard Wagners Ästhetik des musikalischen Dramas. Der Sänger bzw. der Darsteller sei, so schrieb er am 20. Juli 1850 an Franz Liszt, "der einzige wahre Künstler. Unser ganzes Dichter- und Komponisten-Schaffen ist nur Wollen, nicht aber Können: Erst die Darstellung ist das Können – die Kunst." Die ersten Wagner-Aufnahmen, die mehr sind als Momentaufnahmen von Sängern, konnten erst in den späten 1920er und 1930er Jahren entstehen, als die Aufnahmetechnik der Musik gerecht wurde. Die Musikdramen waren im Repertoire verankert. Die führenden Bühnen – nicht nur in Deutschland, sondern auch in London und New York – hatten Ensembles mit Sängern aufgebaut, die ihre Technik und ihren Stil an den Werken Wagners entwickelt hatten. Die Jahrzehnte nach 1925 bleiben als eine Hoch-Zeit des Wagner-Gesangs in Erinnerung: durch Frida Leider, Lotte Lehmann, Kirsten Flagstad, Helen Traubel, Lauritz Melchior, Franz Völker, Friedrich Schorr, Alexander Kipnis und viele andere, bei denen der Reichtum der Stimme, deren vollkommene Beherrschung und dazu gestalterische Phantasie – die Fähigkeit, in Klängen zu denken – erst die Verwirklichung ermöglichte.
Wie Caruso hat auch Fjodor Schaljapin dem Singen eine neue Richtung gewiesen. Als der Russe 1901 neben Caruso am Mailänder Teatro alla Scala debütierte, wurde er als Sänger und mehr noch als Darsteller zur Sensation. In der Hierarchie des Theaters hat Schaljapin für die Rangerhöhung des Basses gesorgt. Theatergeschichtlich war er der erste herausragende Sänger-Darsteller – und als solcher wichtigster Herold der russischen Oper. Er war es, der zunächst in Moskau und dann in Paris Modest Mussorgskys chef d’œuvre Boris Godunow durchsetzte. Sein Genie lag in einer mimetischen Urkraft. Es ist, wie Richard Wagner in seinem Aufsatz Über Schauspieler und Sänger schrieb, eine produktive Kraft: die Fähigkeit des Darstellers zur Selbstentäußerung zugunsten eines Bildes der bloßen Anschauung, dies aber bei klarster artistischer Kontrolle.
Es waren, so sagte der Sänger selbst, "immer zwei Schaljapins auf der Bühne: der singende und spielende und der sich selber dabei beobachtende". Sein Biograf Victor Borowski zitiert die Beobachtungen russischer Kritiker, dass "alle seine Bewegungen der Musik so genau entsprachen, als ob die Musik einer vom Geschehen der Bühne diktierten Aktion oder Position entfließe". Die Idee, einen Charakter aus der eigenen Persönlichkeit zu entwickeln, lag ihm fern. Borowski: "Die Darstellung eines Charakters aus der inneren Welt des Darstellers kann nicht das künstlerische Ziel eines Schauspielers sein. Schaljapin dachte nie darüber nach, wie er dem Charakter ähnelte oder wie er sich, wäre er an Stelle dieses Charakters, verhalten hätte. Stattdessen dachte er über die objektive Existenz und Essenz der dargestellten Figur nach."
Hörbeispiel im Internet:Fjodor Schaljapin, "Boris Gudonow" (1928)
Der russische Opernchronist Sergej Levik, der neben Schaljapin auf der Bühne stand, hat in seinen Memoiren auf vielen Seiten dessen Intonationen beschrieben, etwa die der ersten Worte des Boris: "Skorbít dúsha!" ("Meine Seele ist schwer"). Sie erklingen mit der tiefdunklen Stimme würgender Angst. "Kakóy-to strakh nevól’ny zlovyéshchim predchúvstviem skovál mnye syérdtse." ("Ein seltsames Angstbeklemmen erfüllt mein Herz.") Man muss die Worte nicht verstehen, um die innere Unruhe und Getriebenheit des Zaren zu fühlen. Schaljapin war ein Virtuose der timbralen Nuancierungen und seine Einwirkung auf spätere Bässe wie Ezio Pinza, Alexander Kipnis und Boris Christoff ist kaum zu überschätzen. Wie Caruso gehörte er zu den Unnachahmlichen, die viele Nachahmer gefunden haben.
Die durch Caruso ausgelöste "Mediatisierung" betraf nicht nur die Stimme des Tenors. Durch die Schallplatte wurde die maniera verista – der Stil der Schluchzer und Seufzer (singhiozzo) – allseits durchgesetzt. Dies führte zu einer zunehmenden Verkümmerung jener technischen Mittel, die für den belcantischen Gesang – für Händel und Mozart, Rossini und Bellini – unabdingbar gewesen waren: Legato, Agilität, Triller, Mezza voce und Messa di voce. Vor Caruso – und auch vor Ponselle und Ruffo – gehörten Verzierungen und dynamische Nuancen wie Crescendi, Diminuendi und mezze voci (ihrerseits Verzierungen) zum Arsenal der Sänger. Aber die wenigsten Soprane der 1940er und 1950er Jahre zeigten sich den Ansprüchen der verzierten Musik noch gewachsen. Und ein Tenor wie Mario del Monaco, einer von den "Nachfolgern", kannte nur noch zwei dynamische Grade: Forte und Fortissimo.
Maria Callas sorgte nicht allein für eine Erneuerung des Repertoires, sie erinnerte an die technischen Voraussetzungen für die Ausführung. Dank der von ihr gegebenen Impulse fand der Tenorgesang in den 1960er Jahren in Carlo Bergonzi, Plácido Domingo und Luciano Pavarotti stilistisch differenziertere Sänger. Vor allem bewirkte sie, dass sich Sängerinnen wie die australische Sopranistin Joan Sutherland und die amerikanische Mezzosopranistin Marilyn Horne in den 1960er Jahren zurück in das "Age of Belcanto" begaben, in die Welt der virtuosen Vokalmusik des 18. Jahrhunderts. Ihnen folgten Sängerinnen und Sänger wie Renata Scotto, Montserrat Caballé, Beverly Sills, Teresa Berganza und Samuel Ramey. Dies ermöglichte in den 1970er Jahren die Wiederentdeckung eines Archipels: Gioachino Rossinis und des canto fiorito. Endlich gibt es neben Sängerinnen wie Cecilia Bartoli, Joyce DiDonato und Elina Garança auch brillante Koloratur-Tenöre wie den Peruaner Juan Diego Flórez, der mit seinem silbrigen Tenor in die vokale Stratosphäre aufsteigen kann. Cecilia Bartoli, die zu den Wundern unserer Zeit gehört, kann dank ihres Könnens und ihrer Ausstrahlung – sie gleicht einem Cherub – verborgene Schätze bergen: Musik von Gluck, Vivaldi, Salieri und all den Komponisten, die für die größten Gesangsvirtuosen aller Zeiten geschrieben haben: für die Kastraten.
"Was heut müde gehet unter, hebt sich morgen neugeboren"
Wenn Größe darin liegt, eine Richtung zu weisen, gehörte Dietrich Fischer-Dieskau zu den Jahrhundertsängern, zugleich zu den Epochenfiguren der Zeit nach dem Kriege. Für die Bildung der ästhetischen Vorstellungen und moralischen Normen, der sozialen und symbolischen Ausdrucksformen hat er keine geringere Rolle gespielt als Heinrich Böll oder Friedrich von Weizsäcker. Wenige Jahre nach Beginn seiner Karriere wurde der Berliner Bariton nicht nur als Genie des Gesangs bewundert. Er war umgeben von der Aura eines Künders, eines Kunstpriesters. Die vom Singen des ernsten, im Habitus strengen Künstlers mit der weichen, resonanten, balsamischen Stimme ausgelöste Erschütterung erklärte sich aus den kollektiven Leiderfahrungen des Krieges. Mit den "schauerlichen Liedern" von Franz Schuberts Winterreise traf er ins Herz von wahl- und qualverwandten Hörern. Er sang mit einer Intensität, die seine Hörer berührte, ja sie verletzte wie Gustav Mahlers "glühend Messer" aus den Liedern für einen fahrenden Gesellen. Viele von uns, so schrieb Ivan Nagel zum 60. Geburtstag des Sängers, "haben mit Dietrich Fischer-Dieskau ein halbes Leben verbracht, wir wüssten weniger ohne ihn oder wir hätten weniger gelebt. Nein, wir hätten, ohne ihn, weniger erlebt." Er hat eine ganze Welt erschlossen.
"Für mein Ohr hat sie einen besonderen Klang, weil keine emotionellen Nebensächlichkeiten [emotional irrelevancies] uns von der absolut reinen Qualität ihrer Hervorbringung ablenken; es gibt keinen vergleichbaren Klang in der Musik, und wenige andere Klänge sind dermaßen wahrhaftig musikalisch.
Im Jahre 1942 wurde Tippett mit einer Komposition für den Cathedral Choir von Canterbury beauftragt. Er gab ihr den Titel Plebs Angelica. In dieser Zeit bearbeitete er eine Ausgabe der Oden und der weltlichen Gesänge von Henry Purcell, die ursprünglich für den mit dem Falsett singenden Counter-Tenor oder Altus geschrieben worden waren. Tippett glaubte, dass es seit rund 150 Jahren keinen solchen Sänger mehr gegeben habe. Doch dann hörte er im Chor der Kathedrale von Canterbury den jungen Alfred Deller (1912 – 1979) und spürte "die Jahrhunderte an sich vorüberziehen". Deller und die Singularity of Voice (Titel einer Biografie) wurden rasch berühmt, obwohl es außergewöhnlichen moralischen Mutes bedurfte, sich mit seiner Art des Singens zu behaupten. Denn der feine, hell lasierte Klang wirkte auf die meisten Hörer anders als auf Tippett – nicht rein, sondern weibisch. Es ist ein Klang von tiefer sexueller Ambiguität, zugleich keusch und sinnlich. Sieht man von dem Amerikaner Russell Oberlin ab, so war Deller lange Zeit der einzige mit dem Mut zu einer klanglichen Ausdrucksform, die in der Popmusik der 1960er Jahre von androgynen Stars wiederbelebt wurde.
Nicht nur in der Popmusik. Der Rückgriff auf die Geschichte in Schallplatten-Reihen wie Das alte Werk erforderte den Einsatz von Counter-Tenören. Diese wurden unverzichtbar, als vor drei Jahrzehnten die Barockoper wiederentdeckt wurde und viele Kastraten-Partien mit Counter-Tenören besetzt wurden, die dank ihrer resonatorisch glänzend geschulten Stimmen auch sehr hohen technischen Anforderungen gerecht werden. Wunderbare Sänger wie Andreas Scholl, David Daniels, Bejun Mehta oder Philippe Jaroussky haben den Status von Stars erreicht.
Warum wurden diese Stimmen so lang vergessen, warum fielen sie aus der Zeit, warum waren sie verpönt? Und weshalb findet unsere Zeit in den changierenden, oszillierenden Klängen dieser Stimmen einen besonderen Reiz? Zweifellos zeugt der Erfolg der Counter-Tenöre von Veränderungen der Mentalitätsgeschichte und der moralischen Empfindungen. Nicht nur im Film, in der Mode, in den Unterhaltungssendungen verfließen die Grenzlinien zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen. Was sich in Szene-Veranstaltungen als Bruch mit Tabus präsentiert, erweist sich allerdings oft als das Geschäft mit dem scheinbar Verruchten. Im Opernpublikum ist es insbesondere die Gay-Community, die sich vom Transgestismus dieser Rollen und Stimmen verzaubern lässt. Wo anders und wie anders ist dieser Traum zu träumen als in einer jedem Realismus abholden Kunst, die aufgeht in Liebe und Lust und Schönheit?
Musikalische Bildung hat zahlreiche Berührungspunkte und Schnittmengen mit politischer Bildung, zum Beispiel, wenn Menschen sich mit politischen Inhalten von Songs auseinandersetzen, wenn sie selbst…
Auch 200 Jahre nach seiner Geburt gehört Richard Wagner zu den kontroversesten deutschen Künstlergestalten. Sowohl er selbst als auch die Geschichte seiner Rezeption eignen sich als historische…
Jürgen Kesting, Musikkritiker und Fachbuchautor in Hamburg.
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