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Roaring Twenties | Sound des Jahrhunderts | bpb.de

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Roaring Twenties Die populäre Musik der 1920er Jahre

Carolin Stahrenberg

/ 15 Minuten zu lesen

"Schöner Gigolo, armer Gigolo, / Denke nicht mehr an die Zeiten / Wo du als Husar, goldverschnürt sogar / Konntest durch die Straßen reiten! / Uniform passée, Liebchen sagt: Adieu! / Schöne Welt, du gingst in Fransen. / Wenn das Herz dir auch bricht / Zeig ein lachendes Gesicht / Man zahlt, und du musst tanzen." Es gibt viele verschiedene akustische Manifestationen, die uns angesichts des Liedtextes von Julius Brammer aus dem Jahr 1928 (Musik: Leonello Casucci) in den Sinn kommen können. Denken wir z. B. an die tiefe Stimme der Marlene Dietrich, die melancholisch ihre englische Version Just a Gigolo ins Mikrofon haucht. Oder an den jungen Max Raabe, dessen leicht näselnde Kopfstimme uns den Text eher zackig, mit stark rollendem "r" und prägnanten Konsonanten präsentiert. Oder an Louis Armstrongs unverwechselbare Stimme, der das Lied 1930 in den USA herausbrachte. Drei Stationen eines Schlagers (1930, 1978 und 1989) mit einem jeweils unterschiedlichen Klang. Wie aber gestaltete sich der "originale" Sound der 1920er Jahre? Und wie hörten die Menschen zu dieser Zeit die Musik?

Die vermutlich erste Einspielung vom Schönen Gigolo ist heute nur wenigen bekannt. Es handelt sich um eine Aufnahme vom 22. August 1929 mit dem Orchester Dajos Béla und dem Refraingesang von Kurt Mühlhardt. Im Gegensatz zu vielen späteren Versionen, die das Lied musikalisch eher der Ballade oder auch dem Swing annäherten (z. B. die bekannte Version von Louis Prima, 1956), steht hier noch deutlich der Tango-Rhythmus im Vordergrund. Ein Hinweis, dass und auf welche Weise zu dieser Musik getanzt wurde? Die Aufnahme ist geprägt von den Nebengeräuschen der alten Grammophonplatte, dem leicht flachen Klang der Streicher, den gedämpften Blechbläsern und dem insgesamt trockenen Eindruck von Schlagzeug und Begleitinstrumenten. Ein dürrer Klang, der sich von der Live-Präsentation durch ein Tanzorchester gravierend unterschieden haben muss. Und doch faszinierte diese Aufnahme die Menschen, weil sie so die Musik an verschiedene Orte "mitnehmen" konnten. Um der populären Musik der 1920er Jahre auf die Spur zu kommen, müssen wir nicht nur fragen, wo und von wem diese Musik gespielt oder gehört wurde; es geht auch darum, sich den Klang der alten Aufnahmen wieder "vor Ohren" zu führen.

Tanzpaläste, Theater, Bars und Kabarett – Szenen populärer Musik in den 1920er Jahren

Schöner Gigolo: … – Die Geschichte, die das Lied erzählt und die primär über den Refrain vermittelt wird, handelt vom Abstieg eines ehemaligen Soldaten, der sich nach Ende des Krieges sein Geld als Eintänzer verdient: "Man zahlt und du musst tanzen." Das eigentliche Vergnügen wird hier zur lästigen Pflicht, die Arbeit ist anstrengend, erfordert neben tänzerischen Fähigkeiten auch Fremdsprachenkenntnisse, Einfühlungsvermögen und vor allem Ausdauer, wenn der junge, schöne Mann den Damen zu ihrem (Tanz-)Vergnügen zur Verfügung stehen muss. Die Kennzeichnung des Soldaten als ehemaliger Husar, also als Teil der mit prunkvollen Uniformen ausgestatteten Reiterei, deren Mitgliedern neben Tapferkeit, Schnelligkeit, Klugheit und Furchtlosigkeit auch ein anziehendes Wesen und Eleganz nachgesagt wurden, macht den Niedergang noch deutlicher. In seiner Melancholie spiegelt der Text nicht nur Enttäuschung und Lethargie angesichts des für den ehemaligen Soldaten verlorenen Krieges, sondern er passt mit seiner Grundstimmung in die Zeit der beginnenden Weltwirtschaftskrise 1929. Waren für die Besucher die Bars, Theater und Tanzpaläste Orte des Vergnügens und der Erholung, waren sie für Musiker, Sänger und Tänzer mehr oder weniger attraktive Arbeitsorte. Ob Geld verdienend oder Geld ausgebend – von Musik waren hier alle umgeben und alle partizipierten daran, musizierend, (mit-)singend, tanzend oder (zu-)hörend.

Hörbeispiel im Internet:"Schöner Gigolo – armer Gigolo" (1929)

In den Großstädten konzentrierten sich die verschiedenen Vergnügungsetablissements oft in bestimmten Zentren, die in der Nähe von Verkehrsknotenpunkten lagen. In Berlin z. B. hatten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwei solcher Zentren herausgebildet: Vor dem Ersten Weltkrieg entstand eins rund um den Bahnhof Friedrichstraße, wo sich mit den renommierten Hotels Adlon und Kaiserhof und dem Varieté Wintergarten auch in den 1920er Jahren noch wichtige Stätten von Tanzmusik und populärer Kultur befanden. Aufstrebend und nach dem Ersten Weltkrieg federführend in Sachen Unterhaltung waren die Etablissements im "Neuen Westen" Berlins um den Kurfürstendamm. So berichtete etwa der Publizist Karl Scheffler 1931: "Dort sind […] die großen in Licht glitzernden Kinos, die allabendlich viele 1.000 Besucher aufnehmen und zu bestimmten Stunden entlassen, dicht gedrängt sodann die Restaurants, Konditoreien und Cafés mit ihren im Sommer von Markisen überdachten Vorplätzen, die Tanzlokale und Kabaretts. […] Dort versammeln sich, wie auf einem Korso, die gut Gekleideten, die theatralisch Geschminkten, die Schauspieler und Schauspielerinnen, die freiwillig die Revue des Großstadtlebens agieren. […] Dieses ist die Feierabend-Apotheose der Großstadt, ist der Triumphgesang, den das neue Berlin sich immer wieder von neuem selber singt."

Werbemaßnahmen für Interpret und Plattenfirma wurden eng miteinander verzahnt - hier ein Plakat von "Friedl" für die Comedian Hamonists / Odeon, ca. 1929, Deutsches Plakat Museum Essen (© picture-alliance/akg)

Zwischen den Tanzlokalen, Kabaretts, Bühnen, Cafés und Bars herrschte an solchen Kulminationspunkten ein reger Austausch; sowohl die Künstler als auch das Publikum wechselten zwischen den Orten hin und her. Was auf diese Weise im unmittelbaren Umfeld an Programm- und Repertoireaustausch stattfand, erreichte über die neuartigen Kanäle der Massenkommunikation – Zeitungen, Rundfunk, Grammophonplatten – auch ein weit entferntes Publikum. Die Absatzmärkte wurden im Zusammenspiel verschiedener medialer Strukturen bedient, wie das Beispiel der Vermarktung der bekannten Gesangsgruppe Comedian Harmonists zeigt. Auf die Produktion einer neuen Platte folgten z. B. nicht nur Werbemaßnahmen in Zeitungen, sondern auch Konzerttourneen, für die wiederum die externen Plattenverkaufsstellen warben. Nur die geschickte Nutzung der verschiedenen Medien und Distributionskanäle ermöglichte die erstaunliche Karriere des Ensembles, das bis heute durch Schlager wie Veronika, der Lenz ist da bekannt ist. Solche Schlager wurden in verschiedenen Arrangements auch als Notenausgaben verbreitet, was es Alleinunterhaltern, Caféhausmusikern oder Tanzorchestern ermöglichte, diese in ihr Repertoire aufzunehmen.

Hörbeispiel im Internet:"Veronika, der Lenz ist da"

Die enge Bindung von Song und Interpret, wie wir sie aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennen, bestand in den 1920er Jahren noch nicht. Oft wurde ein Schlager bereits kurz nach Erscheinen von verschiedenen Plattenfirmen mit unterschiedlichen Orchestern bzw. Interpreten produziert. So war z. B. auch Casuccis Schöner Gigolo Ende der 1920er Jahre auf Schallplatten der Labels Odeon, Elektrola, Parlophone, Beka und Homokord zu hören, es sangen Richard Tauber, Luigi Bernauer oder Walter Jurmann und die Orchester von Dajos Béla, Marek Weber, Bernard Etté, das Saxofon-Orchester Dobbri usw. begleiteten.

"Fräulein, bitte woll’n Sie Shimmy tanzen?" – Schlager und Tanzmusik

Schlager und Tanz wurden in den 1920er Jahren mehr und mehr zu einer untrennbaren Einheit. Im Lied vom Schönen Gigolo steht der Tanz nicht nur inhaltlich im Mittelpunkt, indem der Gigolo selbst tanzt und den Frauen als Tanzpartner zu Diensten ist – das Lied ist als Tango auch formal Tanzmusik und erklingt durch die Interpretation von Tanzorchestern, wie dem Orchester Dajos Béla, live oder auf Platte bei Tanzveranstaltungen. Sollte ein Lied populär werden, "einschlagen", so musste es vor allem "tanzbar" sein: "Die Praxis hat bewiesen, dass die Schlager Erfolg haben, die nicht nur musikalisch und textlich dazu geeignet sind, sondern auch den zur Zeit modernen Tanzschritten entsprechen", hieß es dazu 1932 in einer Zeitschrift.

Moderne Tanzschritte – das waren in den 1920er Jahren zunächst (noch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bekannt) Tango, Boston und Onestep sowie der sich aus Letzterem entwickelnde Foxtrott. 1920 folgte mit dem Shimmy der Vorläufer des Charleston, wie dieser ein Platztanz, bei dem keine eigentliche Fortbewegung im Raum erfolgt. Auch Tänze südamerikanischen Ursprungs wie die Rumba fanden ihren Weg auf das Tanzparkett.

Tatsächlich kam kaum ein Schlager der 1920er Jahre ohne Bezeichnungen wie "Foxtrott", "Valse Boston", "Shimmy", "Tango" oder "Onestep" aus. Mit dem Bezug auf die Tanzformen gingen auch musikalische Veränderungen einher: Sie zeigen sich vor allem in einer stärkeren Betonung des rhythmischen vor dem melodischen Element und in weiteren Einflüssen afroamerikanischer und südamerikanischer Musik. Diese werden gelegentlich auch als "Einbruch des Jazz" bezeichnet und schlagen sich z. B. in Form neuartiger Kombinationen von Musikinstrumenten wie dem Saxofon oder Banjo mit alten Salonorchestertraditionen (Stehgeiger) nieder.

Hörbeispiele im Internet:Foxtrott und Shimmy

Was aber machte einen Schlager außerdem erfolgreich? Der im Jahr 1926 zu diesem Thema befragte Komponist Ralph Benatzky, der u. a. für einen Großteil der Musik zur Revueoperette Das weiße Rößl verantwortlich zeichnete, stellte musikalische, formale, textliche und marktstrategische Komponenten heraus, ohne diese zu hierarchisieren: "a) die […] natürliche Übereinstimmung von Text und Musik; b) ein möglichst geringer Tonumfang und eine leicht singbare Tonlage; c) ein Ins-Ohr-gehen, aber auch ein Nicht-zu-sehr-ins-Ohr-gehen; d) irgendeine […] unerwartete harmonische oder rhythmische, aber ja nicht melodische Wendung, der Angelhaken, mit dem die Aufmerksamkeit des Hörers gefangen wird; e) eine gute und logisch vorbereitete kurze Vorstrophe; f) die richtige Länge oder Kürze des ganzen Opus; g) der psychologisch richtige Moment des Erscheinens; h) Aufnahmefähigkeit des Marktes, verursacht durch Aktualität des Opus und i) etwas Chance und 1.000 andere Imponderabilien, die sich nicht erklären lassen."

Joséphine Baker im berühmten "Bananenröckchen" in der Pariser Revue "La Folie Du Jour", Folies-Bergère, 1926. (© picture-alliance/akg)

Zwei der Elemente, die Benatzky (mit einem Augenzwinkern) hervorhebt, erscheinen besonders wichtig und hängen mit außermusikalischen Entwicklungen zusammen. So steht die "richtige Länge oder Kürze" eines Liedes in den 1920er Jahren nicht mehr in einem dramaturgischen oder anderweitigen Kontext, sondern bereits in unmittelbarem Zusammenhang mit der Aufnahmefähigkeit einer Schellackplattenseite, die etwas mehr als drei Minuten Spielzeit (bei den 10-Zoll-Platten) umfasste. Zudem ist mit der "Aktualität des Opus" ein entscheidender Punkt angesprochen, der einen Großteil der Schlager der 1920er Jahre betrifft. "Schlagend" waren sie deshalb, weil sie einerseits aktuell in der Wahl der musikalischen Ausdrucksform (z. B. eines Shimmys oder Tangos) waren, andererseits in ihren Texten an aktuelle Themen anknüpften oder zumindest mit diesen in Verbindung zu bringen waren. So besingen Schlager etwa die noch neuartige Errungenschaft des Wochenendes (z. B. Weekend, Wochenend und Sonnenschein) oder den Rundfunk (Hallo, hallo, hier Radio). Der englischsprachige Song Yes! We have no bananas (Frank Silver / Irving Cohn) kam als Ausgerechnet Bananen zwar schon vor dem Gastspiel der Tänzerin Josephine Baker nach Deutschland (nämlich im Jahr 1923), erhielt aber durch ihren Auftritt im Bananenkostüm einen zusätzlichen Popularitätsschub.

Hörbeispiel im Internet: "Kannst du Charleston, tanzt du Charleston"

Aber nicht nur die Aktualität machte einen – mit Blick auf den Erfolg – guten Text aus. Entscheidend war auch der Refrain, wurden doch die Tanzarrangements normalerweise nur mit Refraingesang produziert. Neben Liebesthemen bevorzugte man vor allem in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren Nonsens-Reime, die man sich dank ihres Wortwitzes gut merken konnte (Mein Onkel Bumba aus Kalumba tanzt nur Rumba, Was macht der Maier am Himalaja, Benjamin, ich hab nichts anzuziehn), oder Schlager, die kurze Geschichten erzählten oder versteckte Anzüglichkeiten enthielten (Mein kleiner grüner Kaktus, Mein Mädel ist nur eine Verkäuferin, Veronika, der Lenz ist da).

Die Schlager der 1920er Jahre, die vom Produktionszentrum Berlin aus über Schallplatten und Notenausgaben schon unmittelbar nach Erscheinen ihren Weg ins ganze Reich, ja selbst in abgelegene Gegenden fanden, waren akustischer Ausdruck ihrer Zeit. In der neuen Körperlichkeit, die sich z. B. in den Schütteltänzen äußerte, offenbarte sich nicht nur ein – wortwörtlich ausgeführtes – "Abschütteln" des Korsetts bürgerlicher Zwänge und preußischer Ordnung, sondern wohl auch ein Unbehagen gegenüber der zunehmenden Technisierung und Rationalisierung der Welt: Die Freiheit und Individualität des Tanzes sowie die in Mode kommenden "Hot"- ("heißen" oder "scharfen") Jazz-Improvisationen, in denen sich der Musiker losgelöst vom starren Notentext musikalisch entfaltete, standen dem durch und durch geplanten, industrialisierten Element entgegen. Die neu entdeckte Freiheit des Körpers als Zeichen für eine Natürlichkeit, die sich z. B. auch in Nackttänzen äußerte, bildete ein Gegengewicht zu einer zunehmend von Maschinen und technischen Neuerungen geprägten Realität. Auch die albernen Nonsens-Verse der Schlager können in diesem Sinne als eine Art Gegenbewegung zur als drückend empfundenen Herrschaft der Vernunft empfunden werden.

Revuen, Operetten … – Revueoperetten! Populäres Musiktheater der 1920er Jahre

Kaum ein Bild hat die Rezeption der populären Kultur der 1920er Jahre so geprägt wie die Fotografien von den Girl-Reihen der großen Ausstattungsrevuen – doch welcher Klang gehörte eigentlich zu den bekannten Bildern der Girls und wie war er in die dramaturgische Konzeption eingebunden?

Ausgehend von der ursprünglich französischen Tradition der Jahresrevuen und unter Aufnahme englischer und US-amerikanischer Einflüsse aus den Music Halls hatte sich in Deutschland mit dem Zentrum Berlin schon vor dem Ersten Weltkrieg der Typus der Jahresrevuen und Revuepossen etabliert. In den 1920er Jahren wurde die dramaturgische Konzeption, die zunächst noch von einer losen Rahmenhandlung zusammengehalten wurde, freier und fügte sich zu einer Reihung von Bildern, die mit großem Ausstattungsaufwand inszeniert wurden und sich höchstens noch assoziativ unter ein Rahmenthema zusammenfassen ließen. Im von Privattheatern dominierten System etablierte zuerst James Klein seine Revuen mit Titeln wie Das hat die Welt noch nicht gesehn oder Donnerwetter 1 000 Frauen in der Komischen Oper (ab 1921). Kurz darauf folgten Herman Haller im Admiralspalast und Erik Charell im Großen Schauspielhaus mit anspruchsvolleren Produktionen.

Musikalisch wie dramaturgisch waren die Revuen so gebaut, dass sich die sogenannten Zugnummern, d. h. die musikalischen Hauptschlager, auskoppeln ließen; ihre Vermarktung ging mit der Produktion Hand in Hand, ihr Erfolg wurde teilweise schon vor Beginn der Aufführungsserie durch das gezielte Engagement von Stars gesichert. Einer war Claire Waldoff, die mit "Berliner Schnauze" krähend ihre Lieder vortrug und in ihrem Aussehen nicht dem Klischee der schönen Revuegirls entsprach. Sie war nicht nur volksnah und komisch, sondern nutzte ihre Popularität auch außerhalb des Theaters als Vorkämpferin für die Emanzipation der Frauen.

Claire Waldoff, Berliner Sängerin, Schauspielerin und Kabarettistin - Aufnahme um 1927 (© picture-alliance, akg)

Die Auftritte populärer Sänger und Komiker bildeten einen Kontrast zu den opulenten Ausstattungsnummern, die durch Masse statt durch individuelle Künstler wirkten. Neben den Stars wurden auch bekannte Schlager, oft Adaptionen US-amerikanischer Songs, in die Revuen integriert und gezielt im Programmheft beworben. Die Mehrfachnutzung von Text und Musik in unterschiedlichen Kontexten wurde bereits bei der Komposition bzw. der Textproduktion mitgedacht.

Schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert waren Bühnenwerke hauptsächlich über die Sekundärrezeption ihrer Musik außerhalb des Theaters bekannt geworden (z. B. in Form von Arrangements oder Drehorgelklängen) – nun verschärfte sich diese Situation angesichts von Rundfunk und Grammophonplatten nicht nur, sondern wurde auch gezielt für Werbemaßnahmen genutzt. Auf den Titeln der Schallplatten und Notenblätter fand sich der Zusatz "aus der Revue …"; die Musiknummern wiederum wurden strategisch an herausgehobenen Punkten in die Dramaturgie des Theaterabends eingebaut, sodass ein Wiedererkennungseffekt eintreten konnte. Die Bedeutung verschiedener medialer Kanäle für den Erfolg einer Revue ist z. B. aus dem Schlager Ich bin die Marie von der Haller-Revue herauszulesen, der in der Revue Schön und schick gesungen wurde: "Ich bin die Marie von der Haller-Revue, im Tanzen bin ich ein Genie, von mir steh’n Artikel bei Mosse und Scherl, man hält mich sogar für ein Tiller-Girl! Ich bin die Marie von der Haller-Revue, sie seh’n meine Fotografie in der BZ, drunter steht’s fett: Marie von der Haller-Revue!"

Die Tillerettes-Tänzerinnen im Variete Wintergarten in Berlin - 1932 (© Bayerische Staatsbibliothek München, Scherl's Magazin Seite 94 - 1296 6.1930, H.12, Dezember)

Man kennt also das Girl Marie aus der Zeitung, wie die Nennung der Verlagshäuser Mosse und Scherl sowie der Berliner Zeitung BZ im Schlager verdeutlicht, und nicht etwa von der Bühne, wo sie in der Masse der anderen Girls unterging. Die Anspielung auf die berühmtere Tanzformation der Tiller-Girls zeigt zudem, wie auf bereits bekannte Vorbilder Bezug genommen wurde und diese zur Steigerung der eigenen Bedeutung funktionalisiert wurden. Spätestens als ganz Berlin und damit auch das ganze Deutsche Reich die Melodie des Schlagers pfiff, sang und dazu Foxtrott tanzte, war die Haller-Revue buchstäblich in aller Munde und die Werbestrategie der Autoren aufgegangen.

Die Dramaturgie der Revue, deren Wesen der Kritiker Hans Heinz Stuckenschmidt einmal als "es ist ihre Form, keine Form zu haben" beschrieb, sowie die selbstverständliche Integration "jazziger", d. h. tanzmusikalischer Musiknummern, hatten enormen Einfluss auch auf andere Bereiche des Musiklebens. Nicht nur das avancierte Musiktheater experimentierte mit neuartigen dramaturgischen Formen und Jazz-Elementen wie z. B Brecht / Weills Dreigroschenoper oder auch Hindemiths Oper Neues vom Tage. Auch in der Operette versuchte man mit Revue-Elementen zu arbeiten. So brachte etwa Hermann Haller 1930 Emmerich Kálmáns Cszardasfürstin als Revue-Operette mit neuen (zusätzlichen) Musiknummern heraus.

Auch Charell experimentierte mit Operetteninszenierungen und produzierte u. a. das Dreimäderlhaus, den Mikado und Die lustige Witwe in Neufassungen. Den größten Erfolg landete er 1930 mit seiner letzten Revueoperette im Großen Schauspielhaus, dem Weißen Rößl, das er anschließend auch in London, Paris und New York inszenierte. Charell erweiterte die Musik des damals bereits als Revue- und Operettenkomponist bekannten Wieners Ralph Benatzky um Schlager von Robert Stolz (Die ganze Welt ist himmelblau), Robert Gilbert (Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist) und Bruno Granichstaedten (Zuschau’n kann i net). Sie erwiesen sich neben Benatzkys Hauptschlagern (Im weißen Rössl am Wolfgangsee oder Im Salzkammergut, da kann man gut lustig sein) als Zugnummern und trugen wesentlich zum modernen, Jazz-geprägten musikalischen Erscheinungsbild des Stückes bei. Mit seinen heterogenen Elementen wies Das weiße Rößl Merkmale auf, die laut Stuckenschmidt kennzeichnend für die Revue waren, nämlich den "Kontrast, das Gegeneinander und Nebeneinander sensualer Effekte, die Wechselwirkung heterogener Reizeindrücke".

Die "Kurz-Kunst": Kabarett

Die kleinste populäre Musiksphäre in den 1920er Jahren war sicherlich die des Kabaretts. Auch wenn es kein Massenpublikum erreichte, erwies sich sein Einfluss bzw. die Wechselwirkung mit den großen Theatern, den Tanzpalästen und der Filmmusik als bedeutend. Das musikalische Programm im Kabarett der frühen 1920er Jahre war vielfältig: Avantgardistische Tänze einer Anita Berber standen neben Balalaika-Orchestern, Violin-Solovorträgen oder Liedern. Die Chansons wurden gedichtet von Schriftstellern wie Walter Mehring, Kurt Tucholsky, Klabund oder Marcellus Schiffer; die Musik schrieben Komponisten wie Interner Link: Friedrich Hollaender, Werner Richard Heymann oder Mischa Spoliansky, alle drei waren später mit Theater- und vor allem Filmmusiken erfolgreich. Musikalische Beiträge wechselten sich mit Marionettentheater, Einakter oder Stummfilmexperimenten ab.

Das Spektrum der Kabarett-Bühnen reichte von volkstümlichen Vorstadt-Theatern oder dem Linden Cabaret, wo z. B. die oben erwähnte volksnahe Claire Waldoff sang, über Rudolf Nelsons elegant-mondänes Künstlertheater bis hin zu literarisch engagierten und avantgardistisch orientierten Bühnen wie dem "Schall und Rauch" des Regisseurs Max Reinhardt, der "Rampe" der Schauspielerin Rosa Valetti oder der kleinen "Wilden Bühne", die von der Operettensängerin und Schauspielerin Trude Hesterberg geleitet wurde. Die Unternehmen waren meistens kurzlebig. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre erweiterte sich das Spektrum mit dem "Kabarett der Komiker" um eine langlebige und größere Spielstätte, die auch Varieté-Elemente in ihr Programm integrierte. "Die Katakombe", gegründet 1929 vom Kabarettisten Werner Finck, galt als dezidiert politische Bühne in einer Zeit sich verschärfender Krisen.

Das Programm im Kabarett lebte von der Parodie und der Karikatur aktueller Zeitströmungen. So wurden neben Theaterstücken und Revuen auch populäre Schlager zum Ziel des Spotts bzw. Objekt von Umdichtungen. Mit der Beteiligung von Schauspielerinnen und Schauspielern wie Kate Kühl, Kurt Gerron oder Rosa Valetti standen Vertreter des späteren Brecht-Theaters auf der Bühne, deren Persönlichkeiten teilweise noch die Nachkriegszeit prägten. Dass der Klang ihrer Stimmen und ihre Chanson-Interpretationen aus der Nachkriegszeit allerdings nicht einfach mit dem Klang der 1920er Jahre gleichgesetzt werden können, zeigen einige der wenigen überlieferten Aufnahmen aus dem Kabarett der Zwischenkriegszeit: So offenbart z. B. das Chanson Charlot, gesungen von Kate Kühl, in einer Aufnahme von 1929 eine deutlich höhere Stimmlage der Sängerin als wir sie von Aufnahmen aus der Nachkriegszeit kennen. Auch die Begleitung mancher Lieder, die ursprünglich nur mit Klavier gesungen wurden, wurde in der Nachkriegszeit neu arrangiert.

Wesentlich ist für die Musik im Kabarett ein Merkmal, welches Werner Richard Heymann für das Kabarettchanson beschreibt und das wir auch im Schlager der 1920er Jahre wiederfinden: "Kabarett wird oft als Kleinkunst bezeichnet, man müsste es eigentlich ‚Kurz-Kunst‘ nennen. Man hat nämlich beim Kabarett keine Zeit. Das wesentlichste Merkmal der Dichtung und Musik beim Kabarett scheint mir zu sein, dass man mitten hineinspringen muss, dass man keine Zeit hat, vorzubereiten, sondern mit beiden Füßen sofort in der zu beschreibenden oder zu erlebenden dramatischen Situation drin sein muss." Die gegen Ende der 1920er Jahre im Schlager-Refrain perfektionierte Prägnanz und Kürze findet sich also bereits zu Beginn der 1920er Jahre im Kabarett, auch wenn hier ein anderer (literarischer) Anspruch damit verbunden wird.

Der "Sound" der 1920er Jahre war in Sachen populärer Musik geprägt von Tanzmusik und Schlager, die sich ihren Weg nicht nur in Tanzpaläste, Bars und Caféhäuser bahnten. Auch kleinere und größere Bühnen bis hin zu Oper und Film wurden von den neuen Klängen angesteckt und integrierten sie in ihr spezifisches Repertoire und ihre Tonsprache. Durch Grammophon und Rundfunk konnten breite Bevölkerungsschichten noch weit von den Aufführungsorten entfernt an populärer Musik teilhaben und diese in ihren Alltag integrieren: die Nadel kratzte auf der Schallplatte, der Radioapparat rauschte, während die richtige Frequenz gesucht wurde, dann erklang aus dem Gerät der neuste Schlager. Auch inhaltlich knüpften die Lieder mit Figuren wie dem Gigolo oder der Verkäuferin an den Alltag dieser Bevölkerungsschichten an. Weiterhin bedeutungsvoll blieb aber auch live gespielte Musik, die allabendlich in unzähligen Kneipen, Ballhäusern, Tanz- oder Kellerlokalen, Bars und Theatern zu hören war. Dort mischte sie sich mit dem Klang der Menge, dem Schleifen der Schuhe auf dem Tanzparkett, den Gläsern, Gesprächen und dem Applaus. So teilten und prägten Musiker und Publikum in den 1920er Jahren den ganz spezifischen "Sound" populärer Musik, den uns die Tondokumente der Grammophonplatten nur eingeschränkt, aber doch zumindest ein wenig wieder lebendig machen können.

Quellen / Literatur

Nils Grosch: Zur medialen Dramaturgie des populären Musiktheaters in der Weimarer Republik, in: Jessica Nitsche / Nadine Werner (Hrsg.): Populärkultur, Massenmedien und Avantgarde 1919 – 1933, München / Paderborn 2012, S. 239 – 250 

Werner Richard Heymann: "Liebling, mein Herz lässt dich grüßen". Der erfolgreichste Filmkomponist der großen UfA-Zeit erinnert sich, hrsg. von Hubert Ortkemper, Berlin 2001 

Wolfgang Jansen: Glanzrevuen der zwanziger Jahre, Berlin 1987 

Walter Rösler: Das Chanson im deutschen Kabarett 1901 – 1933, Berlin 1980 

Christian Schär: Der Schlager und seine Tänze im Deutschland der 20er Jahre. Sozialgeschichtliche Aspekte zum Wandel in der Musik- und Tanzkultur während der Weimarer Republik, Zürich 1991 

Karl Scheffler: Berlin. Wandlungen einer Stadt, Berlin 1931 

Sabine Schutte (Hrsg.): Ich will aber gerade vom Leben singen … Über populäre Musik vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1987

Hans Heinz Stuckenschmidt: "Lob der Revue", in: Anbruch 8 (1926), S. 170 – 173 

Peter Wicke: Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik, Frankfurt a. M. 2001 

Knud Wolffram: Tanzdielen und Vergnügungspaläste. Berliner Nachtleben in den dreißiger und vierziger Jahren, von der Friedrichstraße bis Berlin W., vom Moka Efti bis zum Delphi, Berlin 1992

Fussnoten

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Carolin Stahrenberg, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.