Sport und Vergnügungskultur
Der Sportpalastwalzer (Wiener Praterleben)
Daniel Morat
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"[Mu]'sike!" erschallt der Ruf des Publikums, ein Pfiff, und schon setzt die Walzermusik ein. Die ersten Takte werden mit einem zufriedenen "Aah!" quittiert: Die Kapelle hat den Musikwunsch richtig gedeutet und den beliebten Sportpalastwalzer intoniert, seit 1923 die Erkennungsmelodie des jährlich im Berliner Sportpalast stattfindenden Sechstagerennens. Der Refrain wird mitgeklatscht und mitgepfiffen. Für Letzteres ist besonders "Krücke" zuständig. Der unter diesem Spitznamen bekannte Reinhold Habisch war nicht nur ein "Berliner Original" und Dauergast im Sportpalast, sondern er machte durch seine Pfiffe den Walzer Wiener Praterleben des österreichischen Komponisten Siegfried Translateur erst zum Sportpalastwalzer. Habisch starb 1964, der Sportpalast wurde 1973 abgerissen, doch der Sportpalastwalzer wird noch heute beim Berliner Sechstagerennen gespielt und mitgepfiffen. Er steht für die enge Verbindung, die Zuschauer, Sport und Vergnügungskultur im 20. Jahrhundert eingegangen sind.
Der Berliner Sportpalast und das Sechstagerennen
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wuchs Berlin zur größten Industriemetropole Deutschlands heran, 1920 war es mit rund 4 Mio. Einwohnern die drittgrößte Stadt der Welt. Die rasante Zunahme der Stadtbevölkerung und die Herausbildung der modernen Arbeitsgesellschaft mit ihrer Aufteilung von Arbeitszeit und Freizeit führten zur Entstehung einer neuartigen Unterhaltungsindustrie, die das städtische Publikum mit immer neuen Vergnügungsangeboten versorgte. Zur Befriedigung der gestiegenen Nachfrage nach diesen Angeboten bedurfte es der entsprechenden Vergnügungsarchitektur. So wurden in den Jahren um 1900 nicht nur neue Theater, Lichtspielhäuser, Tanzdielen und Vergnügungsparks gebaut. Es entstand auch eine neue Art von Großveranstaltungshäusern.
Neben den 1905 / 06 errichteten Ausstellungshallen am Zoo, dem 1908 eröffneten Eispalast in der Lutherstraße und dem 1911 in Betrieb genommenen Admiralspalast in der Friedrichstraße gehörte dazu auch der Sportpalast in der Potsdamer Straße, der 1910 seine Pforten öffnete. Er beherbergte die damals größte Kunsteisbahn der Welt und bot je nach Bestuhlung bis zu 10.000 Menschen Platz. In ihm fanden in erster Linie große Sportveranstaltungen statt: Eishockeyspiele, Eisschnelllaufrennen, Boxwettkämpfe, Radrennen (auf dafür aufgebauten Holzbahnen), Reitveranstaltungen und Turnfeste. Daneben gab es ein umfangreiches Showprogramm mit (Eis-)Revuen, Konzerten und Filmvorführungen, Bällen, Festen und Empfängen. Während der Weimarer Republik und des "Dritten Reiches" wurde der Sportpalast zudem für politische Massenveranstaltungen und Großkundgebungen genutzt. Die berühmteste der dort gehaltenen politischen Ansprachen ist sicher die Durchhalterede von Joseph Goebbels aus dem Jahr 1943. Im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstört, wurde der Sportpalast 1951 in veränderter Form wiederhergestellt. Er diente für weitere zwei Jahrzehnte als Sport- und Konzertarena, bevor er 1973 schließlich abgerissen wurde.
Der Sportpalast war also – anders als etwa das 1913 erbaute Deutsche Stadion in Berlin-Grunewald – keine reine Sportstätte. Von Anfang an fanden im Sportpalast Sport-, Musik- und andere Vergnügungsveranstaltungen im Wechsel statt, wobei die Sportdarbietungen selbst Teil des Vergnügungsangebots waren. Das wird besonders beim Sechstagerennen deutlich, das als eine "Mischung aus Sport, Varieté und Volksfest" (Dietrich Pawlowski) gelten kann. Ursprünglich aus England stammend, etablierte sich dieses Radrennspektakel in der schließlich auch nach Berlin exportierten Form zunächst im New Yorker Madison Square Garden. Dort fand es 1898 zum ersten Mal als Zweiermannschaftsrennen statt, bei dem die beiden Fahrer eines Teams sich mit Fahren und Ruhen abwechselten, sodass tatsächlich 144 Stunden am Stück gefahren werden konnte.
1909 fand das erste Sechstagerennen Europas in Berlin in den Ausstellungshallen am Zoo statt; 1911 wurde es in den Sportpalast verlegt. Nach einer Zwangspause während des Ersten Weltkriegs entwickelte es sich in der Weimarer Republik zu einem regelrechten Gesellschaftsereignis. Dabei richteten die Zuschauer ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf die Radfahrer in ihrer hölzernen Bahn. Auf den Zuschauerplätzen wurde vielmehr gegessen, getrunken und geraucht. Eine Kapelle spielte Musik.
ZitatEgon Erwin Kisch hielt die fieberhafte Atmosphäre des Sechstagerennens in einer Reportage aus dem Jahr 1923 eindrücklich fest:
Von morgens bis mitternachts ist das Haus voll und von mitternachts bis morgens ist der Betrieb noch toller. Eine Brücke überwölbt die Rennbahn und führt in den Innenraum; die Brückenmaut beträgt 200 Mark pro Person. Im Innenraum sind zwei Bars mit Jazzbands, ein Glas Champagner kostet 3.000 Papiermark, eine Flasche 20.000 Papiermark. Nackte Damen in Abendtoilette sitzen da, Verbrecher in Berufsanzug (Frack und Ballschuhe), Chauffeure, Neger, Ausländer, Offiziere und Juden. Man stiftet Preise. Wenn der Spurt vorbei ist, verwendet man die Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Kurve, sondern auf die Nachbarin, die auch eine bildet. Sie lehnt sich in schöner Pose an die Barriere, die Kavaliere schauen ins Dekolleté, rechts, links, rechts, links. Das Sechstagerennen des Nachtlebens ist es. Im Parkett und auf den Tribünen drängt sich das werktätige Volk von Berlin, Deutschvölkische, Sozialdemokraten, rechts, links, rechts, links, alle Plätze des Sportpalasts sind seit 14 Tagen ausverkauft, Logen und Galerien lückenlos besetzt [...].
Das Sportpalastpublikum setzte sich aus allen Bevölkerungsschichten zusammen. Während die Logen und teuren Plätze der besseren Gesellschaft vorbehalten waren, bevölkerten die Arbeiter und Angestellten das Parkett und den sogenannten Heuboden, den obersten Rang oberhalb der Musikkurve. Hier saßen und standen zumeist die echten Radsportenthusiasten, die nicht selten selbst Mitglieder eines Radsportvereins waren und sich tatsächlich für das Rennen interessierten. Die Mitglieder der oberen Gesellschaftsschichten sahen im Sechstagerennen dagegen häufig ein Vergnügungsangebot, das man besuchen konnte, nachdem die Theater und Konzertsäle geschlossen hatten. Sie gingen zum Sechstagerennen mehr um des Sehens und Gesehenwerdens willen und nicht so sehr aus Interesse am Sport.
Die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten blieben allerdings nicht starr voneinander getrennt. Die Volksfestatmosphäre des Sechstagerennens erlaubte vielmehr einen Austausch über die Sitzreihen und die sozialen Grenzen hinweg, wenn auch häufig nur akustisch. Bestes Beispiel hierfür war Reinhold Habisch, der den Spitznamen "Krücke" bekam, weil er als 16-Jähriger unter eine Straßenbahn gekommen und seitdem auf eine Gehhilfe angewiesen war. Sein Traum von einer eigenen Radsportkarriere war damit ausgeträumt, doch blieb er dem Sport zeitlebens als Zuschauer und Anhänger treu. Durch vorlaute Kommentare und sein charakteristisches Pfeifen machte er sich zum Anführer des "Heubodens" und heimlichen König des Sportpalasts, der bald auch mit den Stars und prominenten Gästen vertraut war. Gelegentlich wurde er als "Stimmungskanone" auch für Sechstagerennen in anderen Städten wie Dresden oder Breslau engagiert. In zwei Filmen über das Sechstagerennen spielte er sich selbst. Max Schmeling schenkte "Krücke" 1928 das Startkapital für einen Zigarrenladen, den dieser von da an neben dem Sportpalast betrieb.
Der Sportpalastwalzer wurde 1892 von dem damals erst 17-jährigen Siegfried Translateur als Wiener Praterleben komponiert. Translateur integrierte das für eine Tanzveranstaltung im Wiener Prater charakteristische Händeklatschen als obligate Begleitung in die Komposition. Das Stück war schon relativ populär, als es 1923 erstmals beim Sechstagerennen im Berliner Sportpalast gespielt wurde. Es war "Krücke", der auf die Idee kam, das Händeklatschen durch Pfiffe zu ersetzen: Der Sportpalastwalzer war geboren.
Translateur erinnerte sich: "Im Berliner Sportpalast ersetzte das Galerie-Publikum der Sechstagerennen den Klatschrefrain durch Pfiffe; hier erhielt der Walzer auch den Namen 'Sportpalastwalzer'. Die ganze Galerie pfeift mit; ein Freund von mir hat einmal gezählt, dass der Walzer in einer halben Stunde achtmal gespielt wurde."
Da Translateur nach den Rassegesetzen der Nationalsozialisten als Halbjude galt, wurde der Sportpalastwalzer 1933 verboten, Translateur wurde 1944 in Interner Link: Theresienstadt ermordet. Das Publikum hielt jedoch weiter am Sportpalastwalzer fest und pfiff die Melodie trotz des Verbots. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Walzer wieder offiziell zur Erkennungsmelodie des Sechstagerennens.
Die Geschichte des Sportpalastwalzers macht zwei Dinge deutlich: zum einen, dass sich die Entwicklung des modernen Sportvergnügens in einem internationalen Rahmen vollzog. So wanderte die Musik von Wien nach Berlin, der sportliche Wettkampf selbst wurde aus New York importiert, Sechstagerennen fanden in der Zwischenkriegszeit in vielen Städten weltweit statt. Zum anderen zeigt sie, dass diese international verbreitete Vergnügungsform jeweils lokale Ausprägungen fand: Das Sechstagerennen im Sportpalast war eine spezifisch Berliner Veranstaltung mit hohem lokalem Wiedererkennungseffekt und lokalen Bezugsmustern. Das lag nicht zuletzt am Berliner Publikum und seiner aktiven Mitwirkung am Gesamtereignis des Sechstagerennens.
Eine Grammophonaufnahme aus dem Jahr 1932 gibt noch heute einen lebendigen Eindruck davon. Auf ihr sind neben der Musik der Sportpalast-Kapelle und dem Gesang Alexander Fleßburgs auch die Rufe des Publikums, die Verkaufsgespräche der mobilen Erfrischungshändler, die anzüglichen Wortwechsel zwischen den Geschlechtern und nicht zuletzt "Krückes" Pfiffe zu hören.
Es handelte sich dabei zwar um eine gezielte Inszenierung der Heubodenatmosphäre, für die auch "Krücke" vor das Mikrofon gebeten wurde. Die charakteristischen Rufe des Publikums ("He, he, he!", "Schiebung!", "Ab geht die Post!") sind aber auch aus zahlreichen Berichten über das Sechstagerennen bekannt.
Wie authentisch diese Inszenierung die tatsächliche Atmosphäre auf dem "Heuboden" wiedergibt, ist im Übrigen zweitrangig. Interessant ist vielmehr, dass es die Schallplattenfirma für verkaufsfördernd hielt, neben der Walzermusik auch die typischen Heubodenrufe und -gespräche in der Aufnahme zu verewigen. Dies entsprach dem damals populären Genre der Berliner Humoreske. Dazu zählten nicht nur typische Couplet-Gesänge, sondern auch kurze, zumeist von Kabarettisten dargebotene Kostproben des Berliner Witzes und der "Berliner Schnauze", die auf Platte geprägt und verkauft wurden. Der Sportpalastwalzer wurde so Bestandteil eines spezifischen akustischen (und kommerziellen) Berliner Lokalpatriotismus und "Krückes" Pfiffe zu einer Soundmarke der Stadt.
Neben diesen Berliner Besonderheiten verweist der Sportpalastwalzer auch auf eine allgemeinere Tendenz im Verhältnis von Sport und Vergnügungskultur im 20. Jahrhundert. Der moderne Sport ist Wettkampfsport (im Unterschied zum deutschen Turnen); er bildete sich im 19. Jahrhundert in England heraus und verbreitete sich von dort aus. Der Amateursport des 19. Jahrhunderts professionalisierte sich im 20. Jahrhundert zunehmend, was zu einer Trennung von aktivem und Zuschauersport führte. Letzterer entwickelte sich bald zu einem festen Bestandteil der modernen Massenkultur, der den Alltag und die Gefühlswelt zahlloser Anhänger durchdrang und noch immer durchdringt. Die Sportdarbietungen setzten von Anfang an auf eine aktive Anteilnahme und akustische Beteiligung des Publikums.
Während das Publikum in den Theatern, Konzertsälen und Lichtspielhäusern zunehmend verstummte, um sich ganz auf die künstlerische Darbietung zu konzentrieren, durfte und sollte im Sportpalast – ebenso wie etwa im Fußballstadion – gerufen und gesungen werden. Die Stadiongesänge gehören heute zu den letzten vitalen Resten einer öffentlichen Gesangskultur.
Das Stadion bildet damit, so wie einst der Sportpalast, einen multisensoriellen Erlebnisraum, in dem die emotionale Anteilnahme am Geschehen akustisch gesteigert wird. Auch dieses Element einer vielstimmigen akustischen Erlebnissteigerung ist in der Aufnahme des Sportpalastwalzers aus dem Jahr 1932 hör- und fühlbar.
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Daniel Morat, Dr., Historiker, Dilthey-Fellow der Fritz Thyssen Stiftung am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin.
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