"Wir wollten etwas machen. Etwas Neues, Nichtdagewesenes" - so erinnert sich der Schriftsteller Hans Arp an die exzentrischen Spektakel im Zürcher Cabaret Voltaire. Das Vertrauen in die kreative Kraft des Unbewussten und des Irrationalen ermöglichte es den Dadaisten, das Leben mit seinen Geräuschen, Farben und Rhythmen in seine Bestandteile zu zerlegen.
In seinem Tagebuch hielt der Akteur den Auftritt fest: "Meine Beine standen in einem Säulenrund aus blauglänzendem Karton, der mir schlank bis zur Hüfte reichte, sodass ich bis dahin wie ein Obelisk aussah. Darüber trug ich einen riesigen, aus Pappe geschnittenen Mantelkragen, der innen mit Scharlach und außen mit Gold beklebt, am Halse derart zusammengehalten war, dass ich ihn durch ein Heben und Senken der Ellbogen flügelartig bewegen konnte. Dazu einen zylinderartigen, hohen, weiß und blau gestreiften Schamanenhut. Ich hatte an allen drei Seiten des Podiums gegen das Publikum Notenständer errichtet und stellte darauf mein mit Rotstift gemaltes Manuskript, bald am einen, bald am anderen Notenständer zelebrierend." Kein einziges der aufgeschriebenen Wörter ergab irgendeinen Sinn. Gleichwohl deklamierte der Mann mit ernster, geradezu feierlicher Stimme: "gadji beri bimba / glandridi lauli lonni cadori / gadjama bim beri glassala / glandridi glassala tuffm i zimbrabim / blassa galassasa tuffm i zimbrabim […]".
In dem Tagebuch heißt es weiter: "Ich hatte jetzt rechts am Notenständer Labadas Gesang an die Wolken und links die Elefantenkarawane absolviert und wandte mich wieder zur mittleren Staffelei, fleißig mit den Flügeln schlagend. Die schweren Vokalreihen und der schleppende Rhythmus der Elefanten hatten mir eben noch eine letzte Steigerung erlaubt. Wie sollte ich’s aber zu Ende führen? Da bemerkte ich, dass meine Stimme, der kein anderer Weg mehr blieb, die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation annahm, jenen Stil des Messgesangs, wie er durch die katholischen Kirchen des Morgen- und Abendlandes wehklagt."
Nicht wenige der Ohren- und Augenzeugen dieses Auftritts werden sich verwundert nach dem Sinn des gerade Erlebten gefragt haben. Machte sich da jemand bloß über die Zuschauer lustig? Verbarg sich dahinter gar – das Cabaret Voltaire lag ja in der Nähe des Großmünsters – eine blasphemische Absicht? Der Künstler gab jedenfalls keine Hinweise, wie die Aktion zu verstehen sei. Nach seinem Auftritt erlosch das Licht und Freunde trugen ihn, da er in seiner Verkleidung nahezu unbeweglich war, von der Bühne.
"Wir wollten etwas machen. Etwas Neues, Nichtdagewesenes"
Der "magische Bischof" war der 1886 im pfälzischen Pirmasens geborene Hugo Ball. Nach einem Philosophiestudium in München, Basel und Heidelberg war er zwischen 1912 und 1914 an den Münchner Kammerspielen als Schauspieler und Regisseur tätig gewesen. Kriegsuntauglich geschrieben ging er nach Berlin, wo er bei anarchistischen Zeitschriften mitarbeitete. Seit Mai 1915 lebte er – liiert mit Emmy Hennings – in Zürich; mit einer Varieté-Truppe reisten beide durch die Schweiz, er als Pianist und Texter, sie als Schauspielerin.
Bei dem in Zürich lebenden avantgardistischen Choreografen und Tanztheoretiker Rudolf von Laban trafen die beiden auf Geistesverwandte: etwa den aus Straßburg stammenden Schriftsteller Hans Arp und die beiden Rumänen Tristan Tzara, später ein bekannter Surrealist, und Marcel Janco, ein Maler und Architekt. Anfang Februar 1916 gaben die Freunde eine Annonce auf, das Gründungsdokument des Zürcher Dadaismus: "Cabaret Voltaire. Unter diesem Namen hat sich eine Gesellschaft junger Künstler und Literaten etabliert, deren Ziel es ist, einen Mittelpunkt für die künstlerische Unterhaltung zu schaffen. Das Prinzip des Kabaretts soll sein, dass bei den täglichen Zusammenkünften musikalische und rezitatorische Vorträge der als Gäste verkehrenden Künstler stattfinden, und es ergeht an die junge Künstlerschaft Zürichs die Einladung, sich ohne Rücksicht auf eine besondere Richtung mit Vorschlägen und Beiträgen einzufinden."
Offenbar hatten die Einladenden – die meisten waren kaum 30 Jahre alt – keine genaue Vorstellung davon, was da abends auf der Bühne geschehen sollte. Ein Indiz waren allerdings die an den Wänden aufgehängten Gemälde und Plakate: Arbeiten
Es war, im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs, eine merkwürdig bunte, aus mehreren Ländern stammende Künstlergruppe (überwiegend Literaten), zu der inzwischen auch der Autor und Psychoanalytiker Richard Huelsenbeck aus Berlin gestoßen war, die nun Abend für Abend ein wildes Treiben entfachte. Tzara, heißt es in einem Bericht, unterbreche immer wieder seine Rezitationen durch lautes Schreien und Schluchzen und lasse "sein Hinterteil hüpfen wie den Bauch einer orientalischen Tänzerin, Janco spielt auf einer unsichtbaren Geige und verneigt sich bis zur Erde. Frau Hennings mit einem Madonnengesicht versucht Spagat. Huelsenbeck schlägt unaufhörlich die Kesselpauke, während Ball, kreidebleich wie ein gediegenes Gespenst, ihn am Klavier begleitet." Unentwegt suchte und erprobte man neue Formen künstlerischer Darbietungen. Texte russischer und italienischer Futuristen wurden deklamiert, eine Gruppe zur Balalaika singender Russen trat auf, aktuelle Schlager und Chansons wurden dargeboten, es gab Tanzeinlagen, Einpersonentheater, Aktionsmalerei. Ball spielte Musik von Debussy, Rachmaninow, Skrjabin und Franck. Unter Zuckungen und bizarren Körperverrenkungen rezitierte man sogenannte poèmes gymnastiques. Und von bis zu 20 Akteuren gleichzeitig wurden poèmes simultans gelesen, gesungen und gepfiffen.
Mit diesen Auftritten, die Chaos simulieren oder generieren sollten, wollte man auf die
Man probierte herum im Cabaret Voltaire, diesem "Tummelplatz verrückter Emotionen". Das Programm sollte ein alle Sinne ansprechendes exzentrisches Spektakel sein, zugleich eine politische Provokation – es waren Performances oder Happenings, bevor diese Begriffe gebräuchlich wurden. Man setzte auf Spontaneität und Improvisation, vertraute der kreativen Kraft des Unbewussten, des Irrationalen und des Zufalls; man wollte schockieren um jeden Preis und hoffte auf die befreiende Wirkung des Lachens; Proben und Pünktlichkeit wurden verachtet. Arp in der Rückschau: "Wir wollten etwas machen. Etwas Neues, Nichtdagewesenes. Aber wir wussten nicht, was!"
"Der Dadaist kämpft gegen den Todestaumel der Zeit"
Ankündigung für den "1. Dada-Abend" in Zürich im Juli 1916. (© picture-alliance/akg)
Ankündigung für den "1. Dada-Abend" in Zürich im Juli 1916. (© picture-alliance/akg)
Wegen der vielen dadaistischen Spielarten und der höchst unterschiedlichen Ansichten und Absichten seiner Protagonisten gibt es bis heute keine genaue Definition dessen, was Dadaismus war und was er wollte. Einverständnis besteht nicht einmal darüber, wer ihm angehörte. Dessen ungeachtet beeinflusst er bis heute Literatur, bildende Kunst, Film, Theater, Tanz und Fotografie. Widersprüchliche Erklärungen findet man bereits über Herkunft und Bedeutung des Namens. Ball in seinem Tagebuch: "Dada heißt im Rumänischen Ja, Ja, im Französischen Hotto- und Steckenpferd. Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher Verbundenheit mit dem Kinderwagen." George Grosz spricht von einem Zufallsfund in einem französischen Wörterbuch. Marcel Janco behauptet, ein damals gebräuchliches Haarwaschmittel dieses Namens habe den Anstoß gegeben.
In Balls Tagebuch heißt es weiter: "So sind unsere Debatten ein brennendes, täglich flagranteres Suchen nach dem spezifischen Rhythmus […] der Zeit." An anderer Stelle: "Mit dem Dadaismus tritt eine neue Realität in ihre Rechte. Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen, das in die dadaistische Kunst unbeirrt mit allen sensationellen Schreien und Fiebern seiner verwegenen Alltagspsyche und in seiner gesamten brutalen Realität übernommen wird. […] Der Dadaismus steht zum ersten Mal dem Leben nicht mehr ästhetisch gegenüber, indem er alle Schlagworte von Ethik, Kultur und Innerlichkeit, die nur Mäntel für schwache Muskeln sind, in seine Bestandteile zerfetzt."
Die Dadaisten hatten nicht nur kein gemeinsames ästhetisches Programm, auch ihre politischen Zielsetzungen divergierten. Einig waren sie sich allerdings in der Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Normen, Ideale und Moralvorstellungen (ihrer "bösartigen und irrsinnigen Gemütlichkeiten", so Ball), sowie der aktuellen Kunstauffassungen. Und man verachtete jeglichen Nationalismus, Patriotismus und Militarismus.
Bei Hugo Ball dürfte die radikale Ablehnung des Krieges aus einer Reise Ende August / Anfang September 1914 auf die Schlachtfelder an der lothringischen Front resultieren. Zahlreiche seiner Gedichte (etwa Totentanz 1916) belegen seine kompromisslose antimilitaristische Einstellung. "Jedes Wort, das hier [im Cabaret Voltaire, R. S.] gesprochen und gesungen wird, besagt wenigstens das eine, dass es dieser erniedrigenden Zeit nicht gelungen ist, uns Respekt abzunötigen. Was wäre auch respektabel und imponierend an ihr? Ihre Kanonen? Unsere große Trommel übertönt sie." Die Lautgedichte Hugo Balls ("Verse ohne Worte") dürften zu den bekanntesten Erscheinungsformen des Dadaismus zählen, stellen sie doch bis heute einen so irritierenden wie frappierenden Gegenentwurf zur herkömmlichen Lyrik dar. "Das phonetische Gedicht", so der Dadaist Raoul Hausmann, sei "der erste Schritt zu einer vollkommenen nichtgegenständlichen, abstrakten Poesie". Ausführlich handelt das von 20 Künstlern unterzeichnete Dadaistische Manifest von dessen Möglichkeiten: Das "bruitistische Gedicht" schildere "eine Trambahn wie sie ist, die Essenz der Trambahn mit dem Gähnen des Rentiers Schulze und dem Schrei der Bremsen". Das "simultaneistische Gedicht" lehre "den Sinn des Durcheinanderjagens aller Dinge, während Herr Schulze liest, fährt der Balkanzug über die Brücke bei Nisch, ein Schwein jammert im Keller des Schlächters Nuttke". "In typischer Verkürzung", so Ball in seinem Tagebuch, "zeigt es den Widerstreit der vox humana mit einer sie bedrohenden, verstrickenden und zerstörenden Welt, deren Takt und Geräuschablauf unentrinnbar sind." Das "statische Gedicht" schließlich mache, so heißt es im Manifest, "die Worte zu Individuen, aus den drei [!] Buchstaben Wald tritt der Wald mit seinen Baumkronen, Försterlivreen und Wildsauen, vielleicht tritt auch eine Pension heraus". Generell sei der herkömmlichen, auf semantischer Übereinkunft beruhenden Literatur vorzuwerfen, so Ball , dass sie "am Schreibtisch erklügelt und für die Brille des Sammlers" gefertigt sei, "statt für die Ohren lebendiger Menschen".
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Bei ihm mag noch etwas anderes eine Rolle gespielt haben. Er verwendete in seinem Tagebuch zur Charakterisierung seines Vortrags das Wort "zelebrieren", ein Begriff aus der Sphäre des Religiösen und Feierlichen. Und umgekehrt hatte für ihn ein Gottesdienst durchaus poetischen Charakter: "Die Liturgie ist ein Gedicht, das von Priestern zelebriert wird." So knüpfte der wenige Jahre später zum Katholizismus konvertierte Ball mit der Rezitation im Cabaret Voltaire wohl mehr oder weniger bewusst an alte Formen religiös-schamanischen Sprechens an, an die Tradition geheimnisvoll-unverständlich gemurmelter Orakel, Zauber- und Weihesprüche.
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Mit seiner Rezitation im Cabaret Voltaire stand Ball in einer literarischen Tradition, die den Hauptstrom der Lyrik seit der Antike über das Barock (dort waren es vor allem Georg Philipp Harsdörffer und Johann Klaj) bis in die Gegenwart wie ein kleiner, doch nie versiegender Nebenfluss begleitet: das Laut- oder Klanggedicht, dessen akustisch-poetische Eigenschaften sich kaum in ihrem Schriftbild niederschlagen bzw. durch sie wiederzugeben sind. Nur in der konkreten akustischen Präsentation durch den Künstler werden sie lebendig, verständlich und in ihrer ästhetischen Qualität erfahrbar.
Das zentrale Medium solcher Aufführungen ist die menschliche Stimme mit all ihren Möglichkeiten: der Modulation von Lautstärke, von Tonhöhe und -färbung, dem Vortragsstil sowie dem Rhythmus und der Geschwindigkeit – die Stimme als der höchst unterschiedliche Körper, den sie den Worten geben kann.
Aus der Perspektive des Produzenten beschrieb der französische Philosoph Roland Barthes dieses "laute Schreiben" so: "Sein Ziel ist nicht die Klarheit der messages, […] es sucht vielmehr (im Streben nach Wollust) die Triebregungen, die mit Haut bedeckte Sprache, einen Text, bei dem man die Rauheit der Kehle, die Patina der Konsonanten, die Wonne der Vokale, eine ganze Stereophonie der Sinnlichkeit hören kann: die Verknüpfung von Körper und Sprache, nicht von Sinn und Sprache."
Zu den frühesten literarischen Zeugnissen dieser Richtung im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert zählen Paul Scheerbarts Unsinnspoesie Kikakokú (1897), Christian Morgensterns Das große Lalula (1905), Else Lasker-Schülers Elbanaff (1910) und – heute vielleicht am bekanntesten – die Ursonate von Kurt Schwitters (1923). Aufgenommen und individuell weiterentwickelt wurde diese Tradition von Autoren wie Franz Mon, Gerhard Rühm, Werner Laubscher und Oskar Pastior.