Schon immer war Krieg mit Lärm verbunden: mit den stampfenden Marschtritten und dem Gejohle von Soldaten, mit dem Rattern und Rollen von Lafetten, mit dem Pfeifen und Explodieren der Geschosse, mit dem Schreien und Stöhnen der Verwundeten und Sterbenden. Jeder Krieg besitzt eine eigene Klangsignatur, die ihn von früheren oder späteren militärischen Auseinandersetzungen unterscheidet, so auch der Erste Weltkrieg. Dessen spezifische Soundkulisse bestand aus einer Abfolge von Phasen der Stille und tagelangem höllischem Lärm infolge des Trommelfeuers. Michael Salewski hat dieses spezifische Klanggemisch als eine "dynamisch-monotone(n) Kakophonie […] von scharfen hohen und niedrigfrequenten Tönen" beschrieben, das bis weit ins Hinterland als Grollen zu vernehmen war. Lärm indes war nicht nur ein Nebeneffekt des Krieges, er war vielfach auch ein gezielt eingesetztes militärisches Mittel. Seit der Antike nämlich wurde der Feind mit Schlachtrufen und Kriegstrommeln in Schrecken versetzt. Wie kein militärischer Konflikt zuvor war der Erste Weltkrieg so auch ein Angriff auf das Trommelfell und auf die Psyche der Soldaten.
Trommelfeuer aufs Trommelfell Der Erste Weltkrieg als akustischer Ausnahmezustand
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Trommelfeuer
Inbegriff der neuen Geräuschqualität des Krieges war das Trommelfeuer. Es sei ein "Krach wie beim Weltuntergang", ein "Höllenspektakel", ein "höllisches Konzert", notierte Ernst Jünger am 28. / 29. Januar 1916 an der Westfront. Er beschrieb damit ein von Zeitgenossen als geradezu apokalyptisch empfundenes Hörerlebnis. Sein Schriftstellerkollege Ernst Johannsen empfand das Trommelfeuer als "auf die Spitze getriebene[n] Vernichtungswille[n]". Es war eine mörderische Praxis, bei der die Artillerie ihr Feuer vom leichtesten Kaliber bis zu den schwersten Geschützen ohne Unterlass auf die gegnerischen Stellungen richtete.
Das Trommelfeuer war eine Reaktion auf die Taktik der Infanterie, sich in Schützengräben zu verschanzen. Durch den massiven Beschuss sollten die gegnerischen Drahtverhaue, Laufgräben, Unterstände und Geschützstellungen sowie die Nachschubwege zerstört und die Soldaten demoralisiert werden. Verantwortlich für den Beschuss war die Artillerie. Zu ihr gehörten eine Vielzahl von Waffenarten und Munitionstypen: die leichte Feldartillerie mit 18-Pfündern und 4,5-Zoll-Haubitzen, die bis zu einer Entfernung von knapp 6 km Schrapnell-, Spreng- oder Gasgranaten verschoss; die mittlere Artillerie mit 60-Pfündern und 4,7- oder 6-Zoll-Geschützen, die Sprenggranaten mit einer Reichweite von bis zu 10 km abfeuerte; die schwere Artillerie mit Haubitzen vom Kaliber 6- bis 15-Zoll, die 100- bis 1.400-pfündige Granaten bis zu 11 km weit tragen konnte. Hinzu kamen diverse Mörser sowie Maschinengewehre mit einer Sequenz von jeweils 600 Schuss pro Minute.
Das Trommelfeuer konnte mehrere Tage dauern. In Verdun etwa ließ die deutsche Artillerie im Frühjahr 1916 fast 100 Stunden lang ein Dauerfeuer über den gegnerischen Stellungen niedergehen. An der Somme verschossen die Briten nur einige Wochen später sieben Tage lang insgesamt 1,5 Mio. Granaten auf die deutschen Stellungen, allein am 30. Juni waren es 375.000. In einem Bericht heißt es über den britischen Beschuss vom 27. / 28. Juni 1916: "Das Trommelfeuer erschien weiterhin ohne jede Methodik, eine unablässige und anscheinend wilde Schießerei, und dann wieder gezieltes Artilleriefeuer einzelner Batterien, dann Grabenmörsergeschosse und Lufttorpedos oder Gasangriffe bzw. wieder ein plötzlicher Granatentornado, dazwischen gelegentlich Zeiten völliger Stille."
Zwar war der militärstrategische Nutzen des Trommelfeuers gering, seine psychische Wirkung auf die Kampfmoral der Soldaten war jedoch enorm. Denn der Lärm war mehr als nur Nebeneffekt oder akustische Kulisse, er war beabsichtigt, hatte er doch eine nie zuvor gekannte "Belagerung des Ohrs" (Helmut Lethen) zur Folge. Selbst während der Stille blieb das Ohr in Alarmbereitschaft.
Auch die akustische Fernwirkung des Artilleriebeschusses auf die Menschen im Hinterland war gewaltig. Bereits aus großer Entfernung kündigte sich die Front für Soldaten und Zivilbevölkerung als dumpfes Grollen und Brodeln an. Die lothringische Schriftstellerin Adrienne Thomas, die 1915 / 16 als 18-jährige Rotkreuzschwester in Metz eingesetzt war, notierte in ihrem Tagebuch: "Seit drei Tagen hören wir ununterbrochen den furchtbarsten Kanonendonner, Tag und Nacht. Immer wieder und wieder. Es ist grässlich." Das Haus bebe, die Fensterscheiben klirrten beim Einschlag der Bomben. Der Philosoph Theodor W. Adorno berichtete, als Jugendlicher im Juli 1916 während eines Ausflugs in Hinterzarten im Schwarzwald den Kanonendonner aus der Gegend um Belfort gehört zu haben. Dieser kam von einer großen, bei Zillisheim im Elsass stationierten 38-cm-Kanone, Luftlinie knapp 100 km entfernt. Der Schriftsteller Alfred Döblin, als Militärarzt im lothringischen Saargemünd stationiert, schrieb am 29. März 1916 in einem Brief an einen Freund: "Mit den Ohren haben wir die Schlachten um Verdun hier mitgekämpft; orientiere Dich auf der Karte, wie weit wir von Verdun sind, und so stark war die Kanonade tags und nachts, dass bei uns die Scheiben zitterten, dass wir Trommelfeuer unterschieden, ganze Lagen Explosionen; ein ewiges Dröhnen, Bullern, Pauken am westlichen Himmel. Jetzt, seit einer Woche, ist alles still; was das ist, wer weiß?" Saargemünd lag ungefähr 140 km von Verdun entfernt. Andere berichteten, noch im mehr als 200 km entfernten Straßburg den Kanonendonner von Verdun gehört zu haben.
Hören als Überlebenstechnik
Wo die industrialisierte Kriegstechnik die Soldaten in die Gräben zwang und die Schlacht zu einem abstrakten Klangteppich von Projektilen werden ließ, kam es weniger auf den Sehsinn als auf den Hörsinn an. Das Erkennen und die Identifikation von Geräuschen sowie das Vermögen, den unsichtbaren Gegner akustisch zu verorten, wurden zur Überlebenstechnik. In seinem Roman Im Westen nichts Neues, in dem er eigene Kriegserfahrungen verarbeitete, schildert Erich Maria Remarque, wie der herbeigeschaffte Ersatz "aufgerieben" wurde, weil die unerfahrenen Neulinge kaum ein Schrapnell von einer Granate unterscheiden konnten: "Die Leute werden weggemäht, weil sie angstvoll auf das Heulen der ungefährlichen großen, weit hinten einhauenden Kohlenkästen lauschen und das pfeifende, leise Surren der flach zerspritzenden kleinen Biester überhören."
Um zu überleben, mussten die Soldaten lernen, die Geräusche der Geschosse zu unterscheiden und die von ihnen ausgehende Gefahr abzuschätzen. Aus den Geräuschen erschlossen sie die feindlichen Stellungen und die Art des Angriffs. Der spätere NS-Schriftsteller Werner Beumelburg, Teilnehmer der Schlacht von Verdun, berichtet, wie der Soldat mit dem Ohr "instinktiv" die Geräusche prüfte: "Er versteht sich auf Abschuss, Heranheulen und Einschlag. Aus der Lage der Maschinengewehrgarben konstruiert er sich den Feind. Er empfindet, was rechts und links los ist, obwohl er es doch nicht sehen kann." Tatsächlich war die Fähigkeit, aus dem Geräuschteppich den Granatentyp, die Flugbahn und den Einschlagsort herauszufiltern, Teil eines "Frontinstinkts" (Matti Münch), der sich mit zunehmender Aufenthaltsdauer bei den Soldaten in den Gräben herausbildete. Das Gehör tastete den Lärm nach Regeln ab. Es identifizierte Munitionsart und Kaliber aus der Art des Fluggeräuschs und der Explosionen, wobei musikalisch vorgebildete Soldaten im Vorteil waren.
Akustischer Ausnahmezustand
1917: Eine englischsprachige Karikatur thematisiert die traumatisierten Soldaten des Ersten Weltkriegs und spielt mit der möglichen Doppelbedeutung des Begriffs "shell shock". (© picture-alliance, Mary Evans Picture Library)
1917: Eine englischsprachige Karikatur thematisiert die traumatisierten Soldaten des Ersten Weltkriegs und spielt mit der möglichen Doppelbedeutung des Begriffs "shell shock". (© picture-alliance, Mary Evans Picture Library)
"Wir sind nichts als Ohr, als angespanntes Trommelfell", notierte Jünger in seinem Tagebuch. Damit verwies er auf den chronischen Alarmzustand der Truppen in ihren Unterständen. Dieser habe sich von den gegensätzlichen Gewissheiten genährt, so Helmut Lethen, dass der unsichtbare Feind zwar bereits akustisch im eigenen Territorium präsent, aber als Körper noch fern war. Mit dem Trommelfeuer steigerte sich der Alarm zum akustischen Ausnahmezustand. Das tagelange Feuer strapazierte die Ohren. Es zermürbte, es betäubte, es versetzte in eine Art hypnotischen Zustand.
Der Weltkrieg unterscheide sich "einzigartig" von allen früheren Kriegen, heißt es in der Schrift Die Musik der Schlachten des Philosophiestudenten und Infanteristen Hellmuth Falkenfeld über die Westfront 1916, da er seinen schrecklichen Inhalt ebenso sehr dem Ohr wie dem Auge mitteile. "Das Auge kann man schließen, das Ohr aber nur verstopfen; wer den Krieg nicht sehen will, muss ihn hören." Die "gehörten Disharmonien" krepierender Geschosse und die Schreie der Verwundeten würden mehr vom Krieg erzählen als die Bilder des Todes und des Schlachtfelds. Viele, die den Anblick des neuen Krieges noch ertragen konnten, hätte der Lärm "zum Wahnsinn" gebracht. Ganz anders nahm der Maler Max Beckmann den Kriegslärm wahr. Ihn beeindruckte "das wunderbar großartige Geräusch der Schlacht […] diese schaurig großartige Musik", wie er in einem Brief an seine Frau 1914 schrieb. "Ich möchte, ich könnte diese Geräusche malen."
Der Lärm hatte konkrete organische und psychosomatische Auswirkungen. Zahlreich sind die Berichte über geplatzte bzw. perforierte Trommelfelle, über Gehörhyperästhesie, Mittelohrinfektionen und Labyrinthläsionen, über allgemeine Störungen des Hörvermögens, aber auch über Reaktionen wie Sinnesüberempfindlichkeit und erhöhte Schreckhaftigkeit und ebenso über Konzentrationsschwierigkeiten und Schlafstörungen.
Hatte er bislang nur nüchtern bilanzierend die Geräusche kartografiert, so beschrieb Jünger am 25. und 27. Juni 1916 erstmals die Auswirkungen des höllischen Lautinfernos auf den menschlichen Körper: "Das Feuer war nervenzertrommelnd […]. Das anhaltende Feuer und die schlaflosen Nächte hatten uns doch stark mitgenommen." Er berichtet von Panikattacken bei seinen Kameraden und von eigenen Ohrenschmerzen. "Man wurde ganz blödsinnig. Dieses Aushalten im Feuer ist eine starke Nervenprobe." Die immerwährenden akustischen Reize führten zu Angstattacken, zum Abstumpfen der Gefühle und zur Apathie. "Die Nerven tun’s nicht mehr", notierte auch Beumelburg. "Apathie kriecht langsam über uns. Wir hören den Lärm, aber er ruft keinen Eindruck mehr aus uns hervor."
Gehörschutz war das Gebot der Stunde. Etliche Fotografien zeigen Artilleristen in der Nähe von Geschützen, die sich beim Abschuss die Ohren zuhalten. Für den Schutz vor Dauerbeschallung reichte dies nicht aus. Dem Potsdamer Unternehmer Maximilian Negwer bescherte die Not der Soldaten daher einen Großauftrag. 1916 gelang es ihm, die Militärs davon zu überzeugen, den Soldaten
Die neue Klangsignatur des Krieges
Auf vielfältige Weise versuchten bereits die Zeitgenossen die neuen Gehöreindrücke vom Schlachtfeld in Ton, Bild und Schrift festzuhalten. "Vielleicht ließe sich ein […] Tongemenge, aus einer ganz besonderen Schlacht, durch einen Phonographen in einem […] Saal des Museums wiedergeben", spekulierte etwa 1916 der Museumsmann und spätere Direktor des "Vaterländischen Museums" von Hannover, Wilhelm Peßler, um auf diese Weise das "großartige Dröhnen einer Schlacht" als "akustisches Ereignis" verfügbar zu haben.
Ab Beginn des Krieges kursierten sogenannte Hörbilder mit Titeln wie Die Mobilmachung am 1. August 1914 (1914), Füsilier Kutschke im Krieg (1914), Die Erstürmung von Lüttich (1915) oder Im Lager von Paris (1915) auf dem Plattenmarkt, die etwa von der Wiener Grammophonfirma Pichler und der Deutschen Grammophon AG in Berlin produziert wurden. Dies waren dreiminütige, ausschließlich zu patriotischen Zwecken auf Platten gepresste Zusammenstellungen von Soldatenliedern, Kriegsgeräuschen, Kommandorufen, Auszügen aus Ansprachen, Unterhaltungsfetzen und Dankgebeten. Einige sind bis heute erhalten und befinden sich u. a. im Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main. Überliefert ist darüber hinaus eine zweiminütige englische Aufnahme vom 9. Oktober 1918 aus der Gegend von Lille, auf der zunächst die Stimmen von Soldaten zu hören sind, die Befehle weitergeben, bevor das Kommando "Fire" ertönt, gefolgt von Abschüssen und dem Heulen von Gasgranaten.
Da die neuen akustischen Zumutungen nur in Einzelfällen mit
Horchgerät, wie es im Ersten Weltkrieg zur Ortung von angreifenden Flugzeugen benutzt wurde. (© picture-alliance, Mary Evans Picture Library/ALEXA)
Horchgerät, wie es im Ersten Weltkrieg zur Ortung von angreifenden Flugzeugen benutzt wurde. (© picture-alliance, Mary Evans Picture Library/ALEXA)
Ein völlig neues und später nie wieder gehörtes Geräusch erzeugten die sogenannten Fliegerpfeile, jene von Flugzeugen und Zeppelinen auf gegnerische Truppen abgeworfenen, bis zu 15 cm langen Eisenstäbe. Kein anderer hat dieses Geräusch so präzise beschrieben wie Musil in seiner Erzählung Die Amsel. 1915 war er in der Nähe von Trient selbst nur knapp einem solchen Pfeil entgangen. Zunächst habe er nur ein "leises Klingen" vernommen. "Ich wunderte mich zuerst darüber, dass bloß ich das Klingen hören sollte. Dann dachte ich, dass der Laut wieder verschwinden werde. Aber er verschwand nicht. Er näherte sich mir, wenn auch sehr fern, und wurde perspektivisch größer. […] Es war ein dünner, singender, einfacher hoher Laut, wie wenn der Rand eines Glases zum Tönen gebracht wird; aber es war etwas Unwirkliches daran; das hast du noch nie gehört, sagte ich mir. Und dieser Laut war auf mich gerichtet – ich war in Verbindung mit diesem Laut und zweifelte nicht im Geringsten daran, dass etwas Entscheidendes mit mir vor sich gehen wolle. […] Inzwischen war der Laut von oben körperlicher geworden, er schwoll an und drohte." An anderer Stelle hat Musil das Geräusch dieser Pfeile als "Gesang des Todes" beschrieben.
Der Versuch, die neue Klangsignatur des Krieges sprachlich zu fixieren, war nicht nur ein deutsches Phänomen. Die französische Literatur liefert vergleichbare Beschreibungen. So heißt es in Henri Barbusses Antikriegsroman Le feu (dt.: Das Feuer. Tagebuch einer Korporalschaft), in dem dieser 1916 seine Erfahrungen von der Westfront beschreibt: "Tak! Tak! Bum! Gewehrschüsse, Artilleriefeuer. Über uns, überall peitscht es, dröhnt es, in Salven oder vereinzelten Schüssen. Dieses niederdrückende, flammende Gewitter hört nie auf, nie. Seit mehr als 15 Monaten, seit 500 Tagen liegt auf diesem Flecken Erde, wo wir sind, Gewehrfeuer und Artilleriebeschuss, vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen." Oder: "Die Granate jault in 1.000 m Höhe über unseren Köpfen dahin. Ihr Lärm überdeckt alles mit einer tönenden Kuppel. Sie fliegt langsamer, im Vergleich mit den anderen hat man den Eindruck eines dickeren, mächtigeren Geschosses. Sie rauscht vorüber, senkt sich nach vorn mit dem dumpfen, anschwellenden Dröhnen einer einfahrenden Untergrundbahn; dann klingt das orgelnde Pfeifen ab." Wie Remarque und Jünger erwähnt Barbusse die Angewohnheit der Soldaten, den Geschossen aufgrund ihrer Geräusche Namen zu geben. Das Maschinengewehrfeuer hieß "Nähmaschine", ein Zünder "Canarienvogel", eine einschlagende Granate "Kohlenkasten", "Leichenwagen", "D-Zug" oder "Reisekoffer".
Nicht nur die neuen Kriegstechniken, sondern auch die toten Körper erzeugten spezifische Geräusche. Da längst nicht alle Gefallenen von den Leichensammelkommandos weggeschafft werden konnten, lagen die Leichen oft mehrere Tage zwischen den Linien. Der Verwesungsprozess ließ geradezu apokalyptische Geräusche entstehen. "Sie zischen, rülpsen und bewegen sich. Das Gas rumort in ihnen", schrieb Remarque über die Toten im Niemandsland.
Während die Schilderungen ihrer männlichen Kollegen vornehmlich auf das akustische Fronterlebnis fokussierten, hielt Adrienne Thomas in ihrem Tagebuch die neue Klangwelt des Luftkriegs fest, die auch die Bevölkerung weit hinter den Frontlinien erreichte. Über einen französischen Luftangriff auf Metz am 10. September 1915 notierte sie: "Wir traten gerade aus der Haustür, als ein höllisches Geknatter in der Luft anhob. Wir wussten sofort, dass es einen Luftkampf mit feindlichen Fliegern gab." Thomas spricht dann von einem "furchtbar schrillen, fast klirrenden Knall […] mit kurzem Echo", der von neuen Geschützen vom Bahnhof stamme. "Bei jedem der Donnerschläge zuckte ich zusammen. Ein solch entsetzliches Geräusch hörte ich niemals zuvor." Gesteigert wurde der Lärm durch den Einschlag der Bomben. "Mit einmal gab es einen lang anhaltenden Krach, von einem Donnerlaut, dass ich glaubte, mein Kopf müsse zerspringen."
Ernst Jünger und die "Geräusche der Projektile"
Februar bis April 1917: Französische Sammlung verschiedener deutscher Granaten. (© picture-alliance, akg-images)
Februar bis April 1917: Französische Sammlung verschiedener deutscher Granaten. (© picture-alliance, akg-images)
Gewiss am genauesten hat Ernst Jünger in seinen Kriegstagebüchern die neue Klangsignatur des Krieges festgehalten – in geradezu kalt-distanzierendem Ton. Zunächst versuchte er für die ihm unbekannten Geräusche adäquate Worte zu finden, in den Geräuschen Sprachähnlichkeiten zu ermitteln und das Gehörte an vertraute Wahrnehmungen jenseits des Krieges zurückzubinden. Für Jünger "brummten" die Geschütze; Kanonen "donnerten", "grummelten" oder "sprachen"; Kugeln und Projektile "pfiffen" und "sangen", sie "surrten", "klatschten" durch das Gestrüpp und schlugen auf den Boden; Granaten "heulten" und "pfefferten" auf die Stellungen; Zünder "zwitscherten"; Maschinengewehre "rasselten", "ratterten" und "knatterten". Immer auch bemühte er Vergleiche: "Einmal sauste ganz einsam ein Zünder mit seinem Canarienvogelpfeifen über unsere Köpfe und verschwand in der Ferne" (24. April 1915).
Wie seine Schriftstellerkollegen schuf Ernst Jünger dann diverse onomatopoetische Formeln. "Nun ging es los. sst-bum! sst-bum! sst-bum! bum! bum!", heißt es in einem Eintrag am 4. November 1916. Den Klang der Flatterminen beschreibt er mit den Buchstabenkombinationen "Udja – Udja – klack – bums!!!" (10. Januar 1916); Leuchtkugeln machten "Pschschschscht" (21. Juni 1916) und der Granathagel "sst – bum! […] Krach! Krach! Bautz! sst! sst! sst!" (25. April 1915). Menschliche Schmerzlaute umschreibt er mit "Üüh Ühuhü". In anderen Eintragungen verbindet er seine Beobachtungen mit konkreten Verhaltensanweisungen. Am 23. Oktober 1915 notiert er: "Mitunter hört man auch ein flatterndes oder pfeifendes Geräusch mit dumpfem Abschuss. Vorsicht! Deckung! Minen oder Gewehrgranaten!"
In einem Geräusche der Projektile betitelten Abschnitt seines Tagebuchs trug Jünger am 10. Januar 1916 seine bis dato gesammelten Beobachtungen zusammen. "Wenn man längere Zeit im Felde steht, lernt man mancherlei seltsame Geräusche kennen. Erfahrung in dieser Hinsicht ist wichtig, man lernt zu unterscheiden, wer geschossen hat, wohin es ging, was für ein Projektil es war usw." Kugeln und Geschosse "erzählten" für Jünger Geschichten: Man müsse nur ihre Sprache verstehen. Während der Gewehrschuss, der auf einen abgegeben werde, einen eigenartig harten Klang habe und eine "scharfe Schmerzempfindung des Trommelfells" auslöse, sei der Schuss, der aus den eigenen Reihen auf den Feind abgefeuert werde, "dröhnend und lang anhaltend". Eine Kugel aus großer Entfernung klinge anders als eine aus kurzer Distanz. Querschläger erkenne man an ihrem "surrenden Pfeifen". Eine schwere Granate erzeuge "ein Rumoren in der Luft, das an ein Rattern oder Fahren erinnert". Äußerst unangenehm seien die leichten Granaten, die nur ein kurzes Zischen erzeugten. Den Abschuss der Wurfmine höre man kaum. Die Flatterminen ließen demgegenüber genügend Zeit, sich zurückzuziehen.
Von der Unmöglichkeit, den Kriegslärm zu reproduzieren
"Granate in Lille", 1917. Radierung des Künstlers Jakob-Detlef Peters. (© picture-alliance, akg-images)
"Granate in Lille", 1917. Radierung des Künstlers Jakob-Detlef Peters. (© picture-alliance, akg-images)
Die "überwältigende Tonalität des Eindrucks" habe sich in Sprache allein nicht mehr auffangen lassen, so urteilte der Mannheimer Germanist Horst Meixner über die Bemühungen zeitgenössischer Autoren, das Erlebnis Erster Weltkrieg sprachlich zu fassen. Die Reproduktion im Medium Literatur nehme "hilflose Züge" an.
Mit einigen Jahren Abstand zum Weltkrieg begann man auch in Theater, Rundfunk und Film mit neuen Reproduktionsformen zu experimentieren. So legte 1924 der österreichische Schriftsteller und Theaterautor Arnolt Bronnen, selbst Kriegsteilnehmer und inspiriert vom Expressionismus, sein Kriegsdrama Katalaunische Schlacht vor. Orte der Handlung sind u. a. ein Unterstand im Trommelfeuer und ein Ozeandampfer auf der Überfahrt nach Amerika. In Bronnens Stück, 1928 von Kurt Weill vertont, spielt ein zunächst unscheinbares Requisit eine zentrale Rolle: ein Phonograph, der die Geräusche des Trommelfeuers und die letzten Worte eines sterbenden Artilleriebeobachters aufgezeichnet hat. Kritiker lobten Bronnens Stück als eine der stärksten Kriegsdichtungen, gar als "Vision des jüngsten Gerichts".
Ernst Johannsen zählt zu den wenigen, die das Klangerlebnis Weltkrieg in technische Töne zu transformieren versuchten. 1929 strahlte der Münchener Rundfunk sein Hörspiel Brigadevermittlung erstmals aus. Es wurde zu einem der meistgespielten und international bekanntesten deutschen Hörspiele über den Weltkrieg und zu einem der bedeutendsten Hörspiele der Weimarer Republik überhaupt. In der Brigadevermittlung, der Telefonstation eines umkämpften Abschnitts einer Westfront-Division, wird der Telefonist Ohrenzeuge des Schreckens. Die "alten Krieger" in den Unterständen scheinen sich an das Entsetzliche gewöhnt zu haben, während ein direkt von der Schule an die Front kommandierter Soldat an den Erlebnissen fast zerbricht. Eines Morgens kommt die lange angeforderte Verstärkung. Die Batterie geht direkt über der Vermittlung in Stellung, sodass sich dort die Bomben und das Artilleriefeuer des Feindes konzentrieren. Als der feindliche Angriff beginnt, werden dem Neuankömmling durch einen Volltreffer beide Beine abgerissen. Seine Kameraden bereiten ihn mit einer letzten Zigarette auf den Tod vor. Während über ihnen der Feind herandrängt, warten die Übriggebliebenen im Unterstand auf die Handgranate, die ihr Leben auslöschen wird. Nicht unwesentlich zum Erfolg des Hörspiels dürfte das Einspielen von Gefechtslärm beigetragen haben. Es vermittelte den Zuhörern an ihren Apparaten einen scheinbar authentischen Höreindruck vom Kriegsgeschehen.
Hörbeispiel im Internet:Lewis Milestone, "Im Westen nichts Neues" (Tonfilm USA 1930)
Erst dem Tonfilm gelang es Ende der 1920er Jahre, Geräuschkulissen zu erzeugen, die die Lärmsinfonien des Krieges einigermaßen realistisch erscheinen ließen. Maßstäbe bei der Vertonung des Weltkriegs setzten 1930 die beiden Kriegsfilm-Klassiker Westfront 1918 von Georg Wilhelm Pabst, nach Johannsens Roman Vier von der Infanterie, und Im Westen nichts Neues von Lewis Milestone, nach dem gleichnamigen Roman von Remarque. Pabst habe erfolgreich, so der Filmkritiker Siegfried Kracauer, den Ton als "Mittel der Versinnlichung" eingesetzt: "Unartikulierte Ausbrüche von Panik und Wahnsinn vermischen sich mit dem Geknatter der Maschinengewehre und dem Zischen der Bomben – eine entsetzliche Kakophonie, die zeitweilig im anhaltenden, betäubenden Lärm von Artilleriesperrfeuer untergeht." Nie zuvor sei der Krieg in seiner Schrecklichkeit "so realistisch" dargestellt worden. Verantwortlich hierfür seien die Tonaufnahmen einer fast zehnminütigen Kampfsequenz und der Lazarettszene, in der sich der Gefechtslärm und das Schreien der Verwundeten und Sterbenden mischen. Auch Milestones filmisch-fiktionale Darstellung des Weltkriegs bezog ihre Wirkung nicht zuletzt aus der Geräuschkulisse.
Bei den Tonspuren der beiden Filme handelt es sich um akustische Verdichtungen, welche mit den tatsächlichen Hörerlebnissen der tagelang dem Trommelfeuer ausgesetzten Soldaten nicht zu vergleichen sind. Gleichwohl haben sich diese Verdichtungen im kollektiven Hörgedächtnis festgesetzt. Dazu trug nicht unwesentlich bei, dass Tonsequenzen aus den Filmen als vermeintliche O-Töne in späteren Fernsehdokumentationen zum Einsatz kamen. Wenn wir heute den Ersten Weltkrieg im Ohr zu haben glauben, dann sind es allenfalls diese retrospektiven Klanginszenierungen der Filmklassiker. Mit der tatsächlichen Soundrealität des Weltkriegs, jener Mischung aus unerträglicher Stille und tagelangem Trommelfeuer, aus chronischem Alarm- und akustischem Ausnahmezustand, haben diese ebenso wenig zu tun wie Elton Johns peinliches Gesülze auf der 1981 erschienenen Schallplatte All Quiet on the Western Front. Es bleibt offen, so Horst Meixner resümierend, ob bei all diesen Versuchen, den Krieg akustisch zu fixieren, "nur das Medium oder die Reproduktion überhaupt an eine Grenze gelangt" ist.
Für die Hinweise zu August Stramm und zu den Fliegerpfeilen bedanke ich mich bei Herrn Dr. Bernd Ulrich (Berlin).
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Gerhard Paul, Dr., Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Universität Flensburg.