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Es ist Zeit, dass wir auf Abwehr sinnen! Lärmschutz im frühen 20. Jahrhundert

Peter Payer

/ 13 Minuten zu lesen

"Wir müssen dem Lärm begegnen wollen, wir müssen ihn als einen Schädiger der Großstadtmenschen erkennen und dann als solchen bekämpfen. […] Es ist Zeit, dass wir auf Abwehr sinnen!" Mit drastischen Worten rief der Wiener Sozialreporter Max Winter im Mai 1908 zum Kampf gegen den Lärm auf. Verschiedenste Schutzstrategien wurden ­diskutiert und erprobt, von sozialen Widerstandsbewegungen bis hin zu baulichen, technischen, juristischen und planerischen Maßnahmen. Und wenngleich ihnen nicht immer der erhoffte Erfolg beschieden war, sollten sie letztlich wegbereitend werden für die künftige Auseinandersetzung mit der akustischen Umwelt.

Theodor Lessings "Antilärmverein"

Der Antirüpel, November 1908 (© Slg. P. Payer)

Der Publizist und Kulturphilosoph Theodor Lessing, Privatdozent an der Technischen Hochschule in Hannover, hatte bereits zwei große einschlägige Artikel veröffentlicht, ehe er 1908 das Buch Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens vorlegte. Darin fasste er die zeitgenössischen Diskussionen zusammen und entwickelte daraus – in enger Anlehnung an Schopenhauer – eine Philosophie des Lärms, interpretiert als Degenerationserscheinung der westlichen Kultur. Lessing verstand sein Buch allerdings weniger als theoretisches Werk denn als Aufruf, gegen den Lärm aktiv zu werden. Mit besonderem Interesse hatte Lessing die aufstrebenden Lärmschutzbewegungen in New York und London verfolgt. Im Oktober 1908 gründete er den Deutschen Lärmschutzverband, der bald unter der populäreren Bezeichnung "Antilärmverein" bekannt werden sollte.

Sitz des Vereins war Lessings Privatwohnung in Hannover, wo er den "Kampf zur Befreiung von Lärm" organisierte. Noch im November des Jahres rief er eine eigene Vereinszeitschrift ins Leben, die in ihrem Titel die Programmatik der Initiative auf den Punkt brachte: Der Antirüpel / Das Recht auf Stille. Monatsblätter zum Kampf gegen Lärm, Roheit und Unkultur im deutschen Wirtschafts-, Handels- und Verkehrsleben. In der ersten Ausgabe gab Lessing sich euphorisch, wenngleich er sich der Schwierigkeit der Aufgabe durchaus bewusst war: "Gewiss, heute sind wir noch in der Defensive! Wir kämpfen, wenn wir die Rohheit, die Rüpelhaftigkeit, die uns umgibt, beanstanden […] nur um unsere Existenz. Wir sind die 'leidende Minorität' inmitten schreiender, feilschender, roh sich überlärmender Millionen. Aber wir wenigen von heute sind die vielen von morgen! Wir fühlen am deutlichsten, wohin die Entwicklung der Massen steuert."

Eine durchaus elitäre Haltung also, der es auf pragmatischer Ebene zunächst einmal darum ging, das "Recht auf Stille" als bürgerliches Menschenrecht zu etablieren und durchzusetzen. Mit der Vereinszeitschrift erhielten Lärmgeplagte erstmals eine mediale Plattform, die ihre Beschwerden veröffentlichte und ausführlich über mögliche rechtliche Schritte informierte. Zudem offerierte der Verein Unterstützung bei Eingaben an amtliche Stellen, Beschwerdekarten mit der Aufschrift "Ruhe ist vornehm" wurden verbreitet, "Blaue Listen" erstellt, die auf ruhige Unterkünfte hinwiesen, und "Schwarze Listen", die unverbesserliche Lärmsünder anprangerten.

Polemik gegen die Lärmschutzbewegung. Karikatur 1908. (© Slg. P. Payer)

In zahlreichen Städten konnte Lessing Sympathisanten für seinen Kampf gewinnen, neben Hannover u. a. in Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, München, Bremen, Dresden, Leipzig, Köln und Wien. Nach einem durchaus hoffnungsvollen Beginn entwickelten sich die Mitgliederzahlen jedoch nur äußerst zäh. Im Oktober 1910 gab es erst 1.085 Mitglieder. Zumeist waren es Ärzte, Juristen, Literaten und Künstler, darunter auch der prominente, bekannt hypersensible Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal. Er schrieb an Lessing: "Ihren Feldzug halte ich für notwendig und nützlich im höchsten Grade. Ich leide aufs Peinlichste unter Geräuschen und in einer Weise, die meine Arbeit oft gefährdet, obwohl ich auf dem Lande lebe, um Ruhe zu finden." Lessing war stolz auf den berühmten Fürsprecher und veröffentlichte dessen Brief sogleich in der Vereinszeitung.

Die Reaktionen der Öffentlichkeit waren dagegen ambivalent. Es gab diejenigen, die überschwänglich begrüßten, dass nun endlich etwas gegen die Interner Link: Lärmseuche unternommen werde. Aber es gab auch zahlreiche Gegner, die in Lessing und seinen Anhängern schlicht übersensible Fanatiker sahen, die sich dem Interner Link: Fortschritt der Zeit widersetzten. Man denunzierte sie als verweichlichte Zeitgenossen, denen die Kraft zum Ertragen des Lärms fehle, an den man sich bei etwas gutem Willen durchaus gewöhnen könne. Trotz der Anfeindungen kämpfte Lessing unermüdlich für seine Sache. Er publizierte intensiv in Tageszeitungen und Zeitschriften, hielt Vorträge in allen wichtigen Städten und erlangte auf diese Weise eine hohe mediale Bekanntheit. Dennoch konnte er für sein Anliegen nicht genügend Sympathisanten jenseits des bildungsbürgerlichen Milieus gewinnen.

Mitte des Jahres 1911 übergab Lessing die Geschäftsführung an Hermann Hasse, der den Sitz des "Antilärmvereins" nach Berlin verlegte. Er versuchte, den Verein mit Organisationen aus anderen Ländern zu einer internationalen Lärmschutzbewegung zusammenzuschließen, scheiterte damit aber. Das Interesse blieb zu gering, der "Antilärmverein" und seine Ortsgruppen lösten sich noch vor dem Ersten Weltkrieg auf.

"Geräuschloses Pflaster"

Schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte eine breite Diskussion über die "Pflasterungsfrage" eingesetzt. Die Gegner des Asphaltpflasters monierten seine geringe Witterungsbeständigkeit und die besonders bei nassem Wetter erhöhte Rutschgefahr für Pferde und Fuhrwerke, während die Befürworter auf die sanitären Vorteile der fugenlosen Oberfläche, die leichtere Reinigung und nicht zuletzt die deutlich geringere Lärmerzeugung hinwiesen. Für die Vereinigungen zur öffentlichen Gesundheitspflege schien es mehr als evident, dass asphaltierte Straßen auf "die ohnehin genug angegriffenen Nerven des Großstädters in hohem Maße beruhigend" wirkten. In einem Vortrag, gehalten im März 1902, hob der Hygieniker Konrad Rumpf eindringlich die "nervenhygienische Notwendigkeit" des Asphaltpflasters und seine zentrale Bedeutung für die künftige Großstadtentwicklung hervor.

Die Fortschritte bei der Asphaltierung waren allerdings regional äußerst unterschiedlich, wie Rumpf anhand von Statistiken zeigte: So gab es in Berlin bereits rund 842.800 Quadratmeter "geräuschloses Pflaster", während es in Wien erst 92.500 waren, in Leipzig 80.800, in Hamburg 24.400 und in München gar nur 10.600. Das Ausmaß, in dem Straßen mit dem neuen Belag versehen waren, geriet zu einem Kennzeichen für Fortschritt und Modernität. Internationales Vorbild war Paris, wo um 1900 bereits ein Drittel aller Verkehrsflächen asphaltiert waren.

Verlegt wurde das Asphaltpflaster zunächst vor allem in besonders ruhebedürftigen Zonen, vor Schulen und Krankenhäusern. Hier hatte man bislang zu diesem Zweck Stroh auf die Straße gestreut, in manchen Städten auch Torf oder Sand. Die Verlegung des "geräuschlosen Pflasters" war – zumindest in den Anfangsjahren – auch eine zutiefst soziale Frage. Denn bevorzugt wurden eindeutig die Innenstadtbereiche, aristokratisch-bürgerliche Viertel und weniger die proletarischen Vorstädte. Erst in den folgenden Jahrzehnten sollte der Asphalt in periphere Stadtbereiche vordringen. Womit nicht zuletzt auch für die Fortbewegung im Automobil der ideale Untergrund gefunden war und der Asphalt endgültig zum mythisch aufgeladenen "Stoff der Großstadt" avancierte.

Technische Innovationen

Der Erfinder des luftgefüllten Gummireifens, der englische Tierarzt John Boyd Dunlop, fährt Fahrrad. Um 1920. (© picture-alliance, akg-images)

"Haben die Techniker es zustande gebracht, so viel Lärm in der Welt zu machen, so müssen sie auch das Genie besitzen, ihn wieder zu bekämpfen", forderte ein lärmgeplagter Zeitgenosse im November 1908. Man setzte größte Hoffnungen in die technische Lösung des Lärmproblems. Erneut stand der komplexe Bereich des Verkehrs im Mittelpunkt; hier probierte man – abgesehen von den oben erwähnten Straßenbelägen – zahlreiche neue Erfindungen aus.

Als überaus wohltuend für die Ohren erwiesen sich Fahrzeugräder mit luftgefüllten Gummireifen anstelle der bisher üblichen Reifen aus Vollgummi, Metall oder Holz. 1888 / 89 vom britischen Tierarzt John Boyd Dunlop und dem französischen Industriellen Edouard Michelin erfunden, verbreitete sich die pneumatische Gummibereifung sogleich in vielen europäischen Städten. Fahrräder, Autos und Fiaker wurden damit ausgestattet. Letztere, in Wien "Gummiradler" genannt, waren etwas teurer als die herkömmlichen Lohnkutschen, dafür aber besonders begehrt, da sie eine deutlich angenehmere Fahrt ermöglichten.

Ebenfalls deutlich lärmmindernd wirkte sich die technische Verbesserung der Wagenfederung aus, insbesondere bei den bisher oft völlig ungefederten Lastfuhrwerken. Um auch das Getrappel der Zugtiere etwas zu dämpfen, experimentierte man in manchen Städten damit, Hanfstricke in die Hufe der Pferde zu legen. Und nicht zuletzt war auch die Erfindung von leiseren bzw. ein- statt mehrtönigen Hupen ein wichtiger Beitrag zur Reduzierung der so störenden Verkehrsgeräusche.

Dem schwierigen Problem der Straßenbahngeräusche begegneten die Techniker mit einer effizienteren Verklammerung der Schienenstöße, die das von den Gleisverbindungen verursachte Rattern, Stoßen und Kreischen minimieren sollte. Für die in den Großstädten teils in Hochlage verkehrende Stadtbahn erwiesen sich zudem Viadukte aus Stein statt aus Eisen als akustisch vorteilhafter, ebenso wie die Verlegung der Gleise in einer genügend starken Kiesbettung. Die Störgeräusche im Inneren der Abteile sollten durch vermehrte Verwendung von Holz, verbesserte Wagenfederungen und Drehgestelle sowie exakt montierte Fensterverschlüsse minimiert werden, von einem "wirklich ruhigen Fahren" war man aber, so die Klage eines Zeitgenossen, noch weit entfernt. Auch die zur Jahrhundertwende in Angriff genommene Elektrifizierung der Straßen- und Stadtbahnen hatte einen lärmmindernden Effekt, der sich für Passanten wie für Anrainer wohltuend bemerkbar machte. Der jetzt noch verbliebene Lärm der Straßenbahnen könnte schließlich, so die Hoffnung, durch Umwandlung derselben zu Untergrundbahnen in die Tiefe versenkt werden.

Baumaßnahmen und "öffentliche Ruhehallen"

Eine Lärmreduktion sollte auch bei der Errichtung von Wohnbauten erreicht werden. Der Einbau von Doppelfenstern, in die gegebenenfalls schalldämpfende Polster gelegt werden konnten, war – zumindest in den Städten – bereits weitgehend Standard. Doppeltüren hingegen waren fast ausschließlich in Hotels verbreitet. Bei der Verlegung von Böden plädierte man dafür, die Dielen nicht direkt auf die Trägerbalken zu nageln, sondern auf in Schüttungsmaterial eingebettete Spurleisten. Zur (nachträglichen) Schallisolierung der Wände wurde Korkstein empfohlen.

Die Disziplin der Bauakustik, deren Augenmerk sich auf alle Lebensbereiche erstreckt, befand sich zur Jahrhundertwende noch in den Kinderschuhen. Hans Christian Nußbaum, Professor für Hygiene in Hannover und einer der führenden Protagonisten der jungen Fachrichtung, legte Architekten nahe, die unterschiedlichen Ausbreitungsarten des Schalls in Form von Luft- und Bodenschall zu berücksichtigen. Auf Vorträgen gab er zahlreiche Anregungen zur Verbesserung des gebäudebezogenen Schallschutzes; er plädierte zudem dafür, Häuserblocks mit großzügigen Innengärten auszustatten und sämtliche Wohn- und Schlafräume weg von der Straße hin zum Hof zu orientieren.

Zentralblatt der Bauverwaltung, Nr 40, 1911: Die Internationale Hygieneausstellung in Dresden mit ihrer Ruhehalle. Bitte klicken Sie auf das Bild, um das PDF zu öffnen. (© Public Domain, ZLB Berlin, Externer Link: http://digital.zlb.de/viewer/image/14688302_1911_040/1/LOG_0003/)

Einen eigenständigen architektonischen Weg beschritt Robert Sommer, Medizinalrat in Gießen. Er schlug die Errichtung von speziellen "öffentlichen Ruhehallen" in Großstädten vor. Den durch Lärm, Hektik und Nervosität belasteten Stadtbewohnern sollte ein akustischer Erholungsraum geboten werden. Der Prototyp wurde im Jahr 1911 auf der großen Hygiene-Ausstellung in Dresden in einem ruhigen Winkel des Königlichen Gartens errichtet. Das relativ einfach konstruierte Gebäude bestand aus zwei großen Höfen, um die jeweils fünf Einzelkabinen – streng nach Geschlechtern getrennt – angeordnet waren, plus Toilettenanlagen und Räume für das Betreuungspersonal. Nach Bezahlung einer geringen Eintrittsgebühr konnten die Besucher eine Stunde lang in bequemen Liegestühlen Platz nehmen, sich im Freien oder drinnen erholen, die Ruhe genießen oder die Zeit mit Lektüre verbringen. Anders formuliert: Ausgestellt wurde hier erstmals in der Geschichte nichts anderes als – die Stille.

Der Erfolg sprach für sich: "vorzügliche Einrichtung", "ausgezeichnete Idee" urteilten die Zeitgenossen. "Man staunt, dass Derartiges erst so spät zur Einführung gelangt. Sollte überall anzutreffen sein zum Wohle der Menschheit." Angesichts des derart positiven Feedbacks erweiterte Sommer sein ursprüngliches Konzept.

Bereits im folgenden Jahr, auf der Städteausstellung in Düsseldorf, ließ er einen weit größeren Pavillon errichten. Unermüdlich propagierte er seine Idee. Denn seiner Überzeugung nach hatten nicht nur die Besucher von Großausstellungen, sondern letztlich alle durch Lärm und Hektik belasteten Großstädter ein Recht auf derartige Erholungsorte. Die von ihm angeschriebenen Stadtverwaltungen reagierten jedoch mit Vorbehalt. Zu gering erschien ihnen die Nachfrage; an die neuen akustischen Verhältnisse würden sich die Menschen schon gewöhnen, hieß es. Der Traum des Arztes Robert Sommer, "öffentliche Ruhehallen" in allen Großstädten Deutschlands zu errichten, blieb Utopie.

Gesetzliche Regelungen

Mit juristischen Mitteln gegen den Lärm vorzugehen, ist ein nicht gerade einfaches Unterfangen. Lessing ging in seiner Kampfschrift sowohl grundsätzlich als auch in Form von Fallbeispielen ausführlich auf diese Frage ein, um letztlich einzugestehen, dass der Lärm eine hohe subjektive Komponente aufweise, die es – zumindest bisher – verhindert habe, ein geeignetes juristisches Instrumentarium zu entwickeln. Sprachliche Hilfskonstruktionen, die Bezug nehmen auf Empfindungen von "normalen Durchschnittsmenschen", auf "Ortsüblichkeit" oder "Gewöhnlichkeit" belegten seiner Meinung nach anschaulich die Schwierigkeiten, das Phänomen juristisch in den Griff zu bekommen.

Rein faktisch gab es eine Fülle von gesetzlichen Möglichkeiten, gegen den Lärm vorzugehen. "Der rechtliche Schutz des Gehörs" wurde, wie der deutsche Jurist Hermann Beuttenmüller in seinem gleichnamigen, 1908 erschienenen Standardwerk feststellte, in zahlreichen Gesetzesmaterien thematisiert, vom Strafgesetzbuch und der Gewerbeordnung über bezirks- und ortspolizeiliche Vorschriften, Straßenverkehrsordnungen und Hausordnungen bis hin zum Bürgerlichen Gesetzbuch.

Im völligen Gegensatz dazu stand jedoch das Handeln der Behörden. Denn de facto hatte man als Betroffener nach wie vor nur wenig Chance, sich auf juristischem Weg gegen unzumutbaren Lärm zu wehren. Allzu nachsichtig und lax interpretierten die Behörden die Frage der Lärmbelästigung, wie Kritiker betonten, unter ihnen Eduard Ritter von Liszt, selbst Jurist und Mitglied des "Antilärmvereins" in Wien: "Gesetzgebung und Behörde gehen in ihrem Bestreben zur Erreichung wirklicher oder eingebildeter Ziele oft genug ganz rücksichtslos vor. Rücksichtslosen Ruhestörern gegenüber aber ergehen sie sich in zartester Scheu, in einem sonst ganz ungeahnten Respekt vor der menschlichen Freiheit. […] Aber es ist denn doch nicht einzusehen, […] weshalb gerade immer nur allein der ruhebedürftige, friedliebende Mensch seine Rechte aufgeben soll, während Gesetzgebung wie Behörde sich geradezu ängstlich hüten, rohe und rücksichtlose Ruhestörer zur Befolgung der einfachsten Anstandspflichten zu verhalten."

Die kritisierte Laxheit der Behörden resultierte nicht zuletzt aus dem Mangel an wissenschaftlichen und praktischen Untersuchungen, anhand derer man Lärmschädigungen exakt hätte nachvollziehen können. So blieben letztlich ein relativ großzügiger Interpretationsspielraum und eine Fülle an Einzelmaßnahmen, die eine systematische und grundlegende juristische Auseinandersetzung mit der Lärmproblematik erschwerten.

Städtebau und Stadtplanung

Unter dem Eindruck des enormen Städtewachstums tauchten bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Forderungen nach einer Gesamtplanung urbaner Agglomerationen auf. Reinhard Baumeister, Ingenieur in Karlsruhe, hatte 1876 seine wegweisende Publikation Stadt-Erweiterungen in technischer, baupolizeilicher und wirthschaftlicher Beziehung veröffentlicht – die Gründungsschrift des modernen Städtebaus. Darin wies er erstmals auf die Notwendigkeit einer umfassenden Planung hin, wollte man die Personen- und Güterzirkulationen effizienter organisieren und die grenzenlose Ausbreitung der Stadt verhindern. Bald schlossen sich auch die Hygieniker den Forderungen der Techniker nach einem rational gestalteten und funktionell definierten Stadtraum an.

Eine möglichst saubere Trennung der Wohn-, Industrie- und Erholungsgebiete wurde gefordert, umzusetzen mithilfe neu erstellter Generalregulierungs- und Bauzonenpläne. Aus hygienischer Perspektive wurde eine Verringerung der Belastung mit Staub und üblen Gerüchen als Grund für diese räumliche Entflechtung der Stadtfunktionen angeführt; immer stärker kam aber auch der Lärm als Argument zum Tragen. Große lärmintensive Betriebe sollten an den Stadtrand verlagert, Grünräume als Ruhegebiete erhalten werden. Auch bei der Erstellung von Bebauungsplänen und Bauordnungen wurde der Schallschutz allmählich zu einem beachteten Thema.

Insgesamt war die sich formierende Disziplin der Stadtplanung jedoch noch eindeutig visuell dominiert. Selbst so einflussreiche Architekten wie Otto Wagner oder Camillo Sitte gingen in ihren Planungen in erster Linie vom Primat des Visuellen aus. Wenn Aspekte des Lärmschutzes in die zeitgenössische Stadtplanung eingingen, dann am ehesten in der Grünraumplanung. Schon 1896 plädierte Josef Stübben, Architekt und Stadtbaurat von Köln, in seiner Schrift Hygiene des Städtebaus für die Anlage von nach außen hin abgeschlossenen Gärten, ohne Fahrwege und mit für alle zugänglichen "Ruheinseln". Der Stadttheoretiker Martin Wagner, dessen Überlegungen heute als die historisch erste Freiflächentheorie gelten, trat einige Jahre später ebenfalls für eine adäquate Ausgestaltung von Grünflächen ein, die im Falle von innerstädtischen Parks und Spielplätzen nicht zuletzt aus Gründen des Lärmschutzes von zentraler Bedeutung seien.

Die Sehnsucht nach ruhigen, begrünten Erholungsräumen floss auch in andere städtebauliche Reformideen jener Zeit ein. So propagierte die vom britischen Sozialreformer Ebenezer Howard initiierte Gartenstadtbewegung die Gründung von dezentralen Kleinstädten mit ausgedehnten Grünflächen, die durch leistungsfähige öffentliche Verkehrsmittel mit der Zentralstadt verbunden sein sollten. Die Idee fasste in Deutschland rasch Fuß, angetrieben durch den Publizisten Hans Kampffmeyer und seine medialen Aktivitäten. In die gleiche Richtung zielte die sich formierende Schrebergartenbewegung, eine Initiative zur Anlage von gesundheitsfördernden Kleingärten, benannt nach dem Leipziger Arzt Daniel Moritz Gottlieb Schreber.

Die Sommerfrische im Spiegel des Gemäldes "Terasse in Klobenstein, Tirol" von Lovis Corinth, 1910, Kunsthalle Hamburg. (© Public Domain, zeno.org - Contumax GmbH & Co. KG)

Sommerfrische

Um 1900 bildete sich die Sommerfrische als bürgerliche und nicht zuletzt akustisch motivierte Fluchtbewegung heraus. Es wurde zur Mode, den Sommer auf dem Land zu verbringen und so dem Lärm der Städte zu entfliehen, wie der Wiener Arzt Wilhelm Stekel 1905 feststellte: "Im Sommer eilen wir aufs Land, nicht nur um frische Luft zu bekommen, ganz unbewusst drängt uns das Verlangen nach Ruhe, nach stillen Stunden ohne Lärm. All die Touristen, die Bergsteiger, die Radfahrer, sie treibt außer der Liebe zur Natur, zur reinen staubfreien Luft, noch das Bedürfnis nach Ruhe hinaus in die stillen fernen Orte, wo die Luft so wenig schwingt, wo alle Geräusche verhallen und der Mensch ohne Störung den Stimmen seines Innern lauschen kann."

Mondäne Sommerfrischeorte entstanden an den Seen des österreichischen Salzkammerguts, in den Bergen des Semmeringgebiets oder in den international renommierten Kurbädern von Bad Gastein, Karlsbad oder Marienbad. Aber auch zahlreiche kleinere Orte in der näheren und weiteren Umgebung der Großstädte, in ruhigen Tälern gelegen, wurden immer häufiger zu Zufluchtsorten. Die gesunde Luft und die "nervenschonende Ruhe" avancierten zu den gewichtigsten Argumenten, mit denen die Sommerfrischeorte warben. Durch Eisenbahnlinien gut erschlossen und schon bald mit den Insignien bürgerlichen Lebens wie Theater oder Kaffeehaus ausgestattet, etablierte sich eine ersehnte Gegenwelt für die geplagten Ohren der Städter, weit entfernt von der gewohnten Geräuschkulisse.

Ihre akustische Sensibilität nahmen aber so manche auch in die Sommerfrische mit, wie das Beispiel Hugo von Hofmannsthal zeigt. Er hatte sich in Altaussee niedergelassen und dort ein einfaches Bauernhaus bezogen, das er sogleich mit Doppeltüren ausstatten ließ. Dennoch war er bisweilen vom Läuten der Kuhglocken so genervt, dass er, wie Zeugen berichten, sogar einmal eine volle Kaffeetasse an die Wand schmiss.

Komponierhäuschen von Gustav Mahler am Attersee (Wikimedia, Furukama) Lizenz: cc by-sa/3.0/de

Auch der als "Ferienkomponist" bezeichnete Gustav Mahler suchte einen ruhigen Ort, an dem er seinem anstrengenden Leben als Wiener Operndirektor entfliehen konnte. Von 1894 bis 1896 verbrachte er die Sommer in dem kleinen Ort Steinbach am Attersee, an dessen Ufer er sich ein Komponierhäuschen errichten ließ, mitsamt strengsten Verhaltensauflagen für seine Umgebung. So durften etwa Dorfkinder nicht auf der Wiese nahe dem Häuschen spielen, wandernde Musikanten wurden verscheucht, Hunde, Katzen, Hühner und Gänse ferngehalten. Akustisch völlig unbeeinträchtigt zu sein, war Mahlers oberstes Ziel.

Dass es besonders erholsam und ruhig sei, war eine der prägendsten Erfahrungen, von denen die Sommerfrischler ihren in der Stadt zurückgebliebenen Verwandten und Bekannten berichteten. Die Stadt zu verlassen, saisonal oder auch für immer, sollte sich als eine der populärsten Schutzmechanismen gegen den Lärm erweisen, mit nachhaltigen Folgen jedoch für das zunehmend zersiedelte Umland.

Quellen / Literatur

Der Antirüpel / Antirowdy / Das Recht auf Stille, Nr. 1 / 1908-Nr. 6 / 1911 

Lawrence Baron: Noise and Degeneration. Theodor Lessing’s Crusade for Quiet, in: Journal of Contemporary History 17 (1982) 1, S. 165 – 178 

Hermann Beuttenmüller: Der rechtliche Schutz des Gehörs, Karlsruhe 1908 

Karin Bijsterveld: Mechanical Sound. Technology, Culture and Public Problems of Noise in the Twentieth Century, Cambridge 2008 

Monika Dommann: Antiphon. Zur Resonanz des Lärms in der Geschichte, in: Historische Anthropologie 14 (2006) 1, S. 133 – 146 

John Goodyear: Escaping the Urban Din. A Comparative Study of Theodor Lessing’s "Antilärmverein" (1908) and Maximilian Negwer’s "Ohropax" (1908), in: Florence Feiereisen / Alexandra Merley Hill (Hrsg.): Germany in the Loud Twentieth Century. An Introduction, New York 2011, S. 19 – 34 

Hermann Hasse: Die internationale Lärmschutzbewegung, Gautzsch b. Leipzig 1914 

Matthias Lentz: "Ruhe ist die erste Bürgerpflicht”. Lärm, Großstadt und Nervosität im Spiegel von Theodor Lessings "Antilärmverein", in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Bd. 13, 1994, S. 81 – 105 

Theodor Lessing: Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens, Wiesbaden 1908 

Eduard Ritter von Liszt: Schutz unseren Nerven!, Sonder­abdruck, Bielitz 1913 

Hans Christian Nußbaum: Bedeutsame Ansprüche an Bebauungspläne und Bauordnungen, in: Zeitschrift für öffentliche. Gesundheitpflege 2 – 3 (1914), S. 138 – 142

Peter Payer: Unerwünschte Geräusche. Lärm und Großstadt im 20. Jahrhundert, in: Blätter für Technikgeschichte 66 / 67 (2004 / 2005), S. 69 – 94 

Konrad Rumpf: Über Straßenpflege vom hygienischen Standpunkte, in: Monatsschrift für Gesundheitspflege 9 –10 (1902), S. 189 – 199 

Klaus Saul: Wider die "Lärmpest". Lärmkritik und Lärmbekämpfung im Deutschen Kaiserreich, in: Dittmar Machule u. a. (Hrsg.): Macht Stadt krank? Vom Umgang mit Gesundheit und Krankheit, Hamburg 1996, S. 151 – 192 

Ernst Otto Schubarth: Über geräuschloses Pflaster, insbesondere über Asphalt-Pflaster, Wien 1892 

Robert Sommer: Öffentliche Ruhehallen, Halle 1913 

Wilhelm Stekel: Hygiene der Straße, in: Wiener Bilder 32 (1905), S. 19 

Josef Stübben: Hygiene des Städtebaus, Jena 1896 

Michael Toyka-Seid: Noise Abatement and the Search for Quiet Space in the Modern City, in: Dieter Schott u. a. (Hrsg.): Resources Of The City. Contributions To An Environmental History Of Modern Europe, Aldershot 2005, S. 215 – 229 

Martin Wagner: Das sanitäre Grün der Städte, ein Beitrag zur Frei­flächentheorie, Berlin, Diss. der Techn. Hochschule, 1915

Fussnoten

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Peter Payer, Dr., Inhaber eines Büros für historische Stadtforschung, Kurator im Technischen Museum Wien