"Hunderte Töne waren zu einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden, aus dem einzelne Spitzen vorstanden, längs dessen schneidige Kanten liefen und sich wieder einebneten, von dem klare Töne absplitterten und verflogen. An diesem Geräusch, ohne dass sich seine Besonderheit beschreiben ließe, würde ein Mensch nach jahrelanger Abwesenheit mit geschlossenen Augen erkannt haben, dass er sich in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien befinde." Diese Zeilen aus Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften drücken paradigmatisch die gestiegene Aufmerksamkeit aus, die die Menschen zur Jahrhundertwende der großstädtischen Lautsphäre entgegenbrachten.
Die rasanten sozialen, technischen und wirtschaftlichen Veränderungen, denen die Städte im Gefolge von Industrialisierung und Urbanisierung ausgesetzt waren, hatten eine Flut an neuen Geräuschen mit sich gebracht, die von vielen erst adaptiert werden mussten. Dem renommierten Musikkritiker Richard Batka schien die neue Lautkulisse wie ein fortwährendes "Tohuwabohu". Die Städte waren groß und laut geworden, das war für alle unüberseh- und unüberhörbar.
Die "Brandung der Großstadt"
Je größer die Städte wurden, umso schwerer ließen sich Ausdehnung und Vielfalt einer Metropole mit den Sinnen fassen. Angesichts einer sich ins schier Unendliche erstreckenden Masse an Häusern entwarfen Reiseschriftsteller und Literaten das Bild vom "Häusermeer". Der Mensch erschien in der Großstadt, so empfanden es viele, nur mehr wie ein "Tropfen im Ozean", fortgerissen vom Strom der Massen. Auf akustischer Ebene fand dieses Bild seine Entsprechung in der Metapher von der "Brandung der Großstadt", einem deutlich vernehmbaren "Brausen" und "Rauschen", einem "Getöse", das den Eindruck einer andauernden, diffusen, scheinbar unaufhaltsam hin und her wogenden Geräuschkulisse vermittelte.
Titelblatt Illustrirtes Wiener Extrablatt, 31. Juli 1894 (© Slg. P. Payer)
Titelblatt Illustrirtes Wiener Extrablatt, 31. Juli 1894 (© Slg. P. Payer)
Die Metapher vom Meeresrauschen, die wohl aufs Deutlichste die Entstehung der urbanen Massengesellschaft widerspiegelt und sich demzufolge in der Beschreibung fast aller Großstädte findet, drückt auch eine generelle Verschiebung in der literarischen Stadtwahrnehmung im Übergang vom Realismus zum Naturalismus aus: weg vom visuell dominierten "Guckkastenbild" mit seinen klar abgegrenzten Einzelausschnitten hin zum akustisch dominierten "Lautbild", in welchem der polyphone Lärm der Großstadt eingefangen wird. Wie der Literaturwissenschaftler Heinz Brüggemann gezeigt hat, wirkte die alle Sinne überwältigende Metropole, ob um 1800 London und Paris oder um 1900 Berlin und Wien, stets wie ein Schock, der erst einmal bewältigt werden musste. Es war eine völlig neue Erfahrung des Einzelnen mit der Masse, eine Erfahrung der Aufhebung der Grenzen der Person, des Körpers gegenüber dem vielstimmigen, vielarmigen Wesen großstädtischer Menge.
Vor allem für vom Land Zugewanderte, die die Geräusche des Dorfes oder der Kleinstadt noch im Ohr hatten, war die neue Lautsphäre überaus gewohnheitsbedürftig. Etwa für den Mitte der 1880er Jahre als Wandergeselle nach Wien kommenden Ferdinand Hanusch: "Nun war ich in diesem großen Ameisenhaufen selbst eine Ameise […]. Die großen Häuser, die großen Auslagen, die vielen Menschen, die an mir vorübereilten, ohne sich um mich zu kümmern, die dahinrasenden Fiaker und die auf dem Pflaster polternden Omnibusse, die Pferdetramway mit ihrem Geklingel und die schimpfenden Fuhrwerkleute, alles das erzeugt einen solchen Lärm, den der Großstädter wohl gewöhnt, der aber auf den zum ersten Male in eine Großstadt Kommenden so niederdrückend wirkt, dass er den letzten Rest von Mut verliert, weil es ihm unmöglich scheint, sich in diesem Leben und Treiben zurechtzufinden."
Verunsicherung und Orientierungslosigkeit, aber auch Staunen und Bewunderung prägten die Auseinandersetzung mit einer Lautsphäre, deren Dichte und Intensität man bisher nur aus dem Bereich der Natur, der wogenden, überschäumenden Gewalt der Elemente, gekannt hatte.
Der Lärm der Straße
Berlin, Friedrichstraße, Ecke Leipziger Straße; Ansichtskarte, um 1900 (© Slg. P. Payer)
Berlin, Friedrichstraße, Ecke Leipziger Straße; Ansichtskarte, um 1900 (© Slg. P. Payer)
Vor allem die Straße entwickelte sich zum urbanen "Hör-Platz" par excellence. Ihr verändertes akustisches Gewand symbolisierte aufs Deutlichste den Beginn einer neuen Zeit. Die rasante Steigerung der Verkehrsdichte hinterließ beinahe überall ihre akustischen Spuren: das Getrappel der Pferde und Zugtiere, das Gerassel und Knarren der Kutschen, das Geschrei der zahllosen umherziehenden Händler und Gewerbetreibenden bis hin zum Rattern und Fauchen der Eisenbahnen, dem ohrenbetäubenden Motorengeräusch der ersten Automobile und den alles zu übertönen suchenden Signalgeräuschen (Hupen, Peitschenknallen, Kutschergeschrei, Fahrradgeklingel). Und zu all dem gesellte sich noch ein ganz spezielles Geräusch: das der
Mit der Ausdehnung der Städte wurde es notwendig, das Umland an das jeweilige Zentrum stärker anzubinden. Als leistungsfähiges und billiges Massenverkehrsmittel etablierte sich zunächst die Pferdestraßenbahn, die schließlich zur Jahrhundertwende von der elektrifizierten Straßenbahn abgelöst wurde. Die Nutzung der elektrischen Energie für den Antrieb von schienengebundenen Fahrzeugen bedeutete eine Revolution im innerstädtischen Verkehr. Leichte Wagen mit großer, mühelos regulierbarer Antriebskraft bewirkten eine enorme Steigerung der Kapazität und Geschwindigkeit – mit weitreichenden akustischen Folgen. Denn an die Stelle von Pferdegetrappel trat das Motorengeräusch und durch die höhere Geschwindigkeit wurde das Rattern und Sausen, Kreischen und Quietschen der Schienen und Waggons nunmehr so richtig dominant. Zeitgenossen sprachen lautmalerisch vom "Wimmergeheul der Elektrischen". Begleitet wurden diese Fahrgeräusche von einem beständigen Glockengebimmel bei der An- und Abfahrt an den Haltestellen.
Dieser mechanisch-technische Geräuschkomplex avancierte zum "klassischen" akustischen Zitat der modernen Großstadt, zu einem Lautgemenge, das nur hier und nirgends sonst anzutreffen war. An- und abschwellend durchlief es die Großstadt von frühmorgens bis spätabends. Die radikal veränderte materielle und akustische Realität der Straße wurde zum
Das gesteigerte Verkehrsgeschehen in den Metropolen zwang nicht nur dem Einzelnen neue Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen auf, sondern revolutionierte auch das Stadt- und Straßenbild und schuf einen völlig neuen akustischen Raum. Die für den Verkehr notwendige Befestigung des Bodens und die höher wachsende Bebauung ließen eine steinerne Stadtlandschaft entstehen, mit zum Zentrum hin immer tiefer werdenden "Straßenschluchten" und einer eigenen Akustik, bei der die Schallimpulse von den Begrenzungswänden der U-förmigen Straßenräume vielfach gebrochen und reflektiert wurden. So war neben dem Direktschall stets auch ein diffuses Schallfeld wahrnehmbar, dessen Intensität nach oben hin zunahm, ehe es über die Stadtoberkante entwich. Ein relativ hoher Grundgeräuschpegel und der bereits erwähnte Verlust der akustischen Trennschärfe waren die Folgen.
Die Zeitgenossen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts suchten schon bald Erklärungen für die veränderte Akustik in der Großstadt. So sprach etwa der Publizist Heinrich Weruer von Wien als einem "steinernen Gefäße, […] aus dem der Lärm nicht mehr entweichen kann"; ganz ähnlich entwarf auch die Schriftstellerin und Journalistin Emmy von Dincklage das Bild vom schwer entrinnbaren Gefängnis, das mehr oder weniger jede Stadt in akustischer Hinsicht darstelle: "Die wild erregten Luftwellen toben und branden gegen die Hausmauern, jagen vor- und rückwärts, einen Ausweg suchend, wie die Gewässer in einem Kanal und erlauben niemandem, ihnen zu entgehen, der nicht etwa in einem Luftballon in stillere Regionen aufsteigt."
Klangkollisionen
In der Zeit von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg etablierte sich mit der Motorisierung des Straßenverkehrs eine neue akustische Qualität. Die sausende und tosende "Fahrmaschine", das künstlich geschaffene "wildgemachte Unorganische", so ein Zeitgenosse polemisch, begann die Stadt zu beherrschen. Das Motorengeräusch brachte eine neue Facette in die städtische Lautsphäre. Denn die maschinell erzeugten Laute waren monoton und kontinuierlich, ohne Individualität und die in der Natur üblicherweise ausgeprägten Phasen des Entstehens, Anschwellens und Verklingens. Der Klangforscher R. Murray Schafer spricht in diesem Zusammenhang von flach verlaufenden Schallwellen oder Wanderwellen. Die anhaltenden, mehr oder weniger abrupt beginnenden und endenden Laute, von der industriellen Revolution eingeführt und von der Elektrotechnik ausgeweitet, verkörpert im Rhythmus der Dampfmaschinen wie im Brummen der Motoren, wurden zum dauerhaften Grundton der Zivilisation. Er bestand nach einer Schätzung Schafers schon bald nur noch zu rund 30 Prozent aus Natur- und Menschenlauten, mehrheitlich – zu 70 Prozent – setzte er sich nun aus Werkzeug- und Maschinengeräuschen zusammen.
Ein tragisches Unglück, das im Sommer 1894 ein Mitglied des österreichischen Kaiserhauses ereilte, brachte den akustischen Umbruch auf den Straßen drastisch ins Bewusstsein. Erzherzog Wilhelm residierte wie gewöhnlich den Sommer über in Baden bei Wien, wo die dortige Tramwaygesellschaft gerade ihren Betrieb auf Elektrizität umstellte. Vorsorglich ging der 67-jährige Wilhelm daran, seine Pferde an die neue Geräuschkulisse zu gewöhnen. Schon eine Woche vor der feierlichen Eröffnung der Elektrischen ließ er seine Tiere einen Probezug begleiten, was ohne Probleme vor sich ging. Zwei Wochen danach wollte Wilhelm sein Übungsprogramm fortsetzen. Er bestieg seinen Fuchswallach und begab sich zur Bahnabfahrtsstelle. Als sich eine Elektrische näherte, machte der vom Lärm erschreckte Wallach einen kräftigen Sprung vorwärts und warf seinen Reiter ab. Dieser verfing sich mit einem Fuß im Steigbügel und wurde vom davongaloppierenden Pferd einige Meter mitgeschleift, ehe er bewusstlos liegen blieb. Für den am Kopf schwer verletzten Erzherzog gab es keine Rettung mehr, er starb nur wenige Stunden später. Die Schreckensnachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Kaiser Franz Joseph I. brach seinen Sommerfrischeaufenthalt in Bad Ischl ab, die Zeitungen brachten große Berichte über dieses so unglückliche Ereignis.
Bei einer anderen revolutionären Erfindung jener Jahre, dem Automobil, zeigte sich dieselbe Problematik. Viele der frühen Automobilisten mussten feststellen, dass es nicht möglich war, mit dem Auto – selbst im langsamsten Tempo – an einem Pferd vorbeizufahren. Scheuende Tiere sprangen gegen die Wagen, versperrten die Straße, gingen rückwärts oder rasten ängstlich kreuz und quer. Unisono verwiesen die Automobilisten auf den Gewöhnungseffekt, der sich früher oder später einstellen werde. Um dem nachzuhelfen, bediente man sich mitunter eigenwilliger Hilfsmittel. So montierte ein erfinderischer Autolenker einfach einen Pferdekopf an der Front seines Wagens, in der Hoffnung, damit die Gäule friedlich zu stimmen. Zeitungen und Automobilzeitschriften veröffentlichten Verhaltenstipps für Autobesitzer: "Sobald die Pferde auch nur leise Zeichen der Angst wahrnehmen lassen, bringe man den Wagen zum Stehen, steige aus und nähere sich mit beruhigendem Zurufen, klopfe die Pferde mit der flachen Hand am Halse und reiche ihnen ein Stück Zucker oder Brot."
Der Machtkampf auf der Straße war somit auch in akustischer Hinsicht offenkundig. Ein Anpassungs- und Verdrängungsprozess hatte begonnen, aus dem das Auto schließlich als Sieger hervorgehen sollte. Erfahrungen aus verschiedenen Großstädten zeigten, dass die Lösung des Problems tatsächlich nur eine Frage der Zeit war. Über das im Vergleich zu Wien weit stärker motorisierte Berlin hieß es bereits im Jahr 1909, dass sich hier längst kein Pferd mehr nach einem Auto umsehe.
Verlust der Stille
Noch bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts war der Rhythmus des urbanen Lebens in vielen Städten relativ klar ausgeprägt, unterschieden sich darin noch relativ deutlich Phasen des Lärms von jenen der Stille. Mit dem Anstieg der Einwohnerzahlen und der zunehmenden Zirkulation von Menschen und Gütern verschwanden die Kontraste jedoch immer mehr. Zudem bildete sich, parallel zum Ausbau der öffentlichen Beleuchtung, eine neue Einstellung der Menschen zur Nacht als Zeit der Arbeit und Betriebsamkeit heraus. Auf den Gleisstrecken wurden Reparaturen durchgeführt, auf der Straße waren Pflasterer und Asphaltierer tätig – die Nacht wurde, so der Kulturwissenschaftler Joachim Schlör, zum Reparaturbetrieb des Tages; gearbeitet wurde in den Bahnhöfen, den Telefon- und Postämtern, bei der Kanalisation, der Straßenreinigung, in den Markthallen, bei der Polizei, im Nachtwachdienst, bei der Feuerwehr, in den Spitälern bis hin zu den Warenhäusern und Zeitungsdruckereien.