„Es ist die Zeit des stummen Weltgerichts/Die Form der Welt bricht in sich selbst zusammen,/Und dämmernd tritt die neue aus dem Nichts.“ Friedrich Hebbel bringt in diesen Versen des Gedichts „Unsere Zeit“ 1841 die Erfahrung des umfassenden Strukturwandels auf den Begriff der Krise, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf allen Ebenen (wirtschaftlich, sozial und kulturell) vollzieht. Zugleich mit den sich verändernden Bedingungen der Produktion und des Handels geraten im Horizont der industriell-technologischen (und agrarökonomischen) Revolution auch die Spielregeln politischer Theorie und Praxis in Bewegung. Im Bereich der Künste löst sich das lange Zeit stabile ästhetische Normengefüge der Goethezeit in einer Vielzahl ästhetischer Suchbewegungen auf. Fremdheitserfahrungen, wie sie sich in Hebbels Gedicht andeuten, bilden die Kehrseite dieses Prozesses umfassender Transformationen. En passant lässt der populäre Schweizer Schriftsteller Albert Bitzius unter dem Pseudonym Jeremias Gotthelf in einer im Neuen Berner Kalender für das Schaltjahr 1844 veröffentlichten Notiz zu einem verheerenden Eisenbahnunglück, das sich am 8. Mai 1842 bei Meudon ereignete, diese dunkle Seite des Fortschritts aufscheinen, wenn er vom Unglücksort als einem „Schlachtfeld[] menschlicher Unvorsichtigkeit und menschlichen Leichtsinns“
Ein Gegenstück dazu begegnet im Blick Heinrich Heines auf den Zerfall der Identität von Zeit und Subjekt und damit der Grundlage der in der Aufklärung entstandenen Leitvorstellung von der Zukunftsdimension des Fortschritts als Folge der Transformationsdynamik. Auch Heine setzt dabei gedanklich an der durch den Eisenbahnbau im 19. Jahrhundert ermöglichten Mobilitätserweiterung und -beschleunigung an. Anlass gibt ihm im Unterschied zu Gotthelf allerdings kein Unglück, sondern zunächst einmal die für sich gefeierte Eröffnung der Eisenbahnlinien von Paris nach Orléans und Rouen. Über dieses Ereignis schreibt er im 57. Abschnitt der Buchausgabe seiner Korrespondenzberichte aus den Jahren 1840-1843: „Die Eröffnung der beiden neuen Eisenbahnen, wovon die eine nach Orleans, die andere nach Rouen führt“, verursache "hier eine Erschütterung, die jeder mitempfindet, wenn er nicht etwa auf einem socialen Isolierschemel steht. [...] Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unsern Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getödtet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. Hätten wir nur Geld genug, um auch letztere anständig zu tödten!"
Auf seine Weise gibt Heine in dieser Notiz einer Seite des Fortschritts Ausdruck, der sich ganz offensichtlich nicht so ohne weiteres mit der Vorstellung tätiger Weltaneignung und politischer Handlungsfähigkeit verbinden ließ. Während „aber die große Menge verdutzt und betäubt die äußere Erscheinung der großen Bewegungsmächte“ anstarre, so Heine, erfasse „den Denker ein unheimliches Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind. Wir merken bloß, daß unsere ganze Existenz in neue Gleise fortgerissen, fortgeschleudert wird, daß neue Verhältnisse, Freuden und Drangsale uns erwarten, und das Unbekannte übt seinen schauerlichen Reitz, verlockend und zugleich beängstigend.“
Literatur und Pressewesen
Insbesondere die von den meisten deutschen Intellektuellen gefeierte Pariser Julirevolution läutete in den deutschsprachigen Ländern eine „Zeit des Übergangs“ mit „stetig anwachsenden Spannungen zwischen alten Strukturen und neuen Kräften“
Schön, so hatte Karl Philipp Moritz noch 1788 erklärt, sei ein Kunstwerk dann, wenn es nicht funktional im Sinne der aufklärerischen Wirkungsästhetik einem äußeren Zweck (also moral-didaktischen Zielsetzungen) diente, sondern den „Endzweck seines Daseyns in sich selber“
Der Literatur kommt hier in gewisser Weise eine Vorreiterrolle zu. Vormärzautoren stellten dem strikten Autonomieprinzip so nicht allein die Forderung nach einem ‚Operativwerden‘ der Literatur entgegen; sie suchten dieser Forderung auch durch die Zusammenführung von bis dahin getrennt verlaufenden Diskursen (Wissenschaft, Philosophie, Politik, Literatur) in einem integrativen, Gattungs- und Genregrenzen aufhebenden Literaturmodell nachzukommen. Ungeachtet obrigkeitlicher Reglementierungs- und Regulierungsmaßnahmen waren Zeitungen und Zeitschriftenjournale im frühen 19. Jahrhundert die bedeutendsten Medien, in denen sich Zeitgenossen äußern und damit auch wirksam werden konnten. Gleichzeitig konnte in ihnen auch eine lebensbezogene und politische Kunst zu sich kommen. Zahl und Auflagenhöhe der deutschen Zeitungen waren im Vergleich mit ihrer ausländischen Konkurrenz zwar noch relativ klein (selbst eine so vielbeachtete Zeitung wie Cottas Augsburger Allgemeine hatte eine Auflage von lediglich 9.000 Stück). Gleichwohl gingen von der nun zu beobachtenden Ausdifferenzierung des Pressewesens wesentliche Impulse aus für ästhetische und mediale Formerweiterungen wie die Entwicklung der Journalliteratur im allgemeinen und des Essays sowie des Feuilletonromans
Die Grenzen dieses Ideenkampfes hat früh schon Georg Büchner aufgezeigt und die Vorstellung, die gesellschaftlichen Verhältnisse von der Seite einer „literarischen Revolution“ her aushebeln zu wollen, als illusorisch bezeichnet. „Nur ein völliges Mißkennen unserer gesellschaftlichen Verhältnisse“, schreibt er am 1. Januar 1836 an seine Eltern, „konnte die Leute glauben machen, daß durch die Tagesliteratur eine völlige Umgestaltung unserer religiösen und gesellschaftlichen Ideen möglich sei.“
Musik
Auch wenn Journale und Zeitungen im Vormärz nach 1800 aus der Nische spezialisierter Kommunikation herausbewegten, dürfte ihr Radius aufgrund des in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch geringen Alphabetisierungsgrades allerdings eher begrenzt gewesen sein. Für die nach wie vor überwiegend von den bürgerlichen Bildungsangeboten ausgeschlossene ländliche Bevölkerung und die städtischen Unterschichten blieb diese Form der Öffentlichkeit nach wie vor „unerreichbar“
Die Frage, ob es dabei so etwas wie eine vormärzliche Musik als solche gegeben habe, die im „speciell Künstlerischen“, in der Form also, Niederschlag gefunden hat, wird in der Forschung zurückhaltend diskutiert.
Theater
Mehr noch als der Bereich der musikalischen Geselligkeit und dem Presse- und Publikationswesen, war das Theater in der Latenz- oder ‚Laborzeit‘ des vormärzlichen Aufbruchs in die Moderne als ‚öffentliche‘ Kunstform einem stetigen Misstrauensvorbehalt ausgesetzt. Die Gründe dafür liegen auf der Hand angesichts der Bedeutung des Theaters als Gemeinschaftsereignis, wie Heinrich Theodor Rötscher es in einem 1843 in Rottecks/Welckers „Staats-Lexikon“ erschienenen Artikel betonte. Das Theater, so Rötscher durchdringe „die Massen“ mit „seinem Hauch“ und hebe dadurch „deren Vielköpfigkeit in eine geistige Einheit“ auf.
Unterdrückung im Vormärz: Karikatur "Die unartigen Kinder", Holzstich. (© picture-alliance/akg)
Unterdrückung im Vormärz: Karikatur "Die unartigen Kinder", Holzstich. (© picture-alliance/akg)
Die ästhetischen Spielräume des Theaters waren aufgrund des Zensurdrucks und auch des ökonomischen Drucks, dem insbesondere die im frühen 19. Jahrhundert in großer Zahl als (in der Regel) Aktiengesellschaften gegründeten städtischen Theater unterlagen, allerdings eher begrenzt. Politische Überwachung und Rentabilitätserwägungen führten dazu, dass von den Bühnen ungeachtet ihrer kulturellen Hochwertung kaum einmal innovative ästhetische Impulse ausgingen. Vielmehr waren die Dramatiker zu großen Zugeständnissen an den Geschmack und an die politischen Gegebenheiten gezwungen. Faktisch war das Theater damit weitgehend auf den Unterhaltungsaspekt beschränkt, konzentrierte sich dementsprechend auf Zerstreuendes (Oper, Singspiel, Ballett, Posse, Schwank, Vaudeville) sowie auf Melodramen und Schauerstücke. Allerdings konnte auch das Unterhaltungstheater mit seinen Mitteln durchaus zeitkritisch agieren.
Ganz allgemein schärfen sich in der politisch angespannten Situation unmittelbar vor der Märzrevolution und um diese herum so mit Komödien wie Heinrich Hoffmanns "Die Mondzügler" (1843), Robert Prutz‘ "Die politische Wochenstube" (1845) oder auch Robert Dulks "Die Wände" (1848) für kurze Zeit die Konturen eines Theaters, das sich Formen des Komischen und Satirischen für eine „Komödirung staatlicher Zustände“ zu bedienen suchte.
Bildliche Darstellung und sprachlicher Ausdruck
Von anderer Seite zeigt sich die Zeitbezogenheit der Künste im Bereich der Bildgestaltung. Etwa ab 1830 beginnt sich in Deutschland so eine für das frühe 19. Jahrhundert signifikante Verbindung von Bild und Text durchzusetzen: in der Genreskizze, in protosoziologischen Skizzen humoristischer Sittenbilder – und insbesondere in der Karikatur. In Weiterführung französischer (Le Charivari, Paris, 1832-1926) und englischer (Punch, London [später Berlin], 1841-1992) Vorbilder erreichten sie in Unterhaltungsblättern wie Moritz Gottlieb Saphirs "Berliner Schnellpost" (1826-29), Eduard Maria Oettingers "Berliner Eulenspiegel" (1829/30), dem "Leipziger Charivari" (1842-1852), den "Düsseldorfer Monatsheften" (1847-1862), den "Münchner Fliegenden Blätter" (1844-1928) und dem "Kladderadatsch" (Berlin, 1848-1944) den Zeitschriftenmarkt. Die technischen Voraussetzung dafür bildete die Entwicklung der Xylographie, die im Vergleich zu dem traditionellen Metallstich-Verfahren größere künstlerische Freiheiten der Gestaltung erlaubte, da sie größere Textteile in die Bildplatte zu integrieren ermöglichte.
Die Verbindung von ‚Text und Bild‘, die eine neue Rezeptionshaltung in der Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung und Lektüre einfordert, ist nur der vielleicht augenfälligste Ausdruck eines Wandels im Bereich der visuellen Kultur, wie er sich im frühen 19. Jahrhundert beobachten lässt, nachdem das Kunstverständnis und die Konventionen der Bildersprache in der Aufklärung bereits in Bewegung geraten waren.
Gleichzeitigkeit von Romantik, Biedermeier und Vormärz
Literatur, Theater, Musik und Kunst entstehen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Korridoren der Gleichzeitigkeit und der Überlagerung konkurrierender Diskursformationen. Die Einheit einer Epoche ‚Vormärz‘ allein vom Kampf für liberale Freiheitsideale und der Durchsetzung des demokratischen Selbstregiments der Bürger herleiten zu wollen, wäre eine Verkürzung, die der Heterogenität der kulturellen und künstlerischen Erscheinungen in der Zeit nicht gerecht würde. In unterschiedlichen Graden sind ästhetische Verfahrensweisen und Ausdrucksformen von Aufklärung, Klassik und Romantik weiter einflussreich
Friedrich Schelling hatte die Natur als ein offenes Buch oder auch als ein Gedicht verstanden, in dem der Mensch blättern, lesen und seinem Geist begegnen könne. Hier zeigt sich das „Selbstverständnis romantischer Dichtung als einer Übersetzungs- und Auslegungskunst“. Die Natur und Poesie erscheinen damit geradezu als „wechselseitige Übersetzungen oder Transkriptionen. Beide haben teil an der Selbstdarstellung des Geistes, dessen Geschichte sich dem Leser natürlicher wie poetischer Gebilde enthüllt.“
Wenn E.T.A. Hoffmann in seinen „Fantasiestücken“ (1814) und in seinen „Nachtstücken“ (1817) die so genannten „Nachtseiten“ der menschlichen Existenz, das Abgründige, Geheimnisvolle, den Wahn, das Unheimliche und Dämonische anführt und zugleich mit dem Modell der Überblendung der Wirklichkeit mit immateriellen Bildern der Fantasie, ein die Realität transzendierendes poetologisches Prinzip in die Literatur einführt, trägt dies die Natur- und Poesiekonzeptionen Schellings und Schlegels produktiv weiter. Vergleichbares gilt für Joseph von Eichendorffs melancholische Naturbilder, die romantische Topoi wie das Wandern, die Heimat und die Waldeinsamkeit ins Leben rufen oder festigen. Eichendorffs Gedichte geben einer der Außenwelt entgegengestellten Innerlichkeit des ‚wahren‘, von den Zumutungen des industriellen und agrarökonomischen Wandels unberührten Seins Ausdruck. Zugleich entwerfen sie die Welt als einen chiffrierten Text, dessen lebendigen Sinn das poetische Wort einfängt und in seiner vitalisierend-befreienden Kraft freizulegen erlaubt. Eichendorffs Gedichte (gleiches gilt für eine Erzählung wie „Aus dem Leben eines Taugenichts“, 1826) lassen sich aber auch als ein ästhetisch gewendeter Spiegel der Krisenphänomene im Übergang in die Moderne lesen.
So lässt sich die Kopräsenz gegenläufiger ästhetischer Ausdrucksweisen und Formate in den Künsten der ersten Jahrhunderthälfte auch nicht einfach im Sine eines Gegeneinander von ‚apolitischem Biedermeier‘ und ‚politischem Vormärz‘ fassen, wie es letztlich noch im Hintergrund des bis heute einflussreichen ‚Biedermeier‘-Konzepts Friedrich Sengles gestanden hat.
Literatur und Kultur nach 1848
Etwas vorschnell ist die um 1850 einsetzende Phase der nachmärzlichen Kultur mit einem künstlerischen Bedeutungsverlust in Verbindung gebracht worden, mit Phänomenen der Erschöpfung, Verflachung und des Epigonentums. In den zeitgenössischen Schriften zur Ästhetik und Poetologie wurden insbesondere der Literatur und dem Theater 1850 häufig vernichtende Zeugnisse ausgestellt. So beschreibt Richard Wagner in seiner Schrift Oper und Drama (1852) die Situation des Theaters als eine Verlustgeschichte. Robert Prutz erklärt in seiner Untersuchung Die deutsche Literatur der Gegenwart (Leipzig 1859) die politische Zäsur des Jahres 1849 als zu einem auch ästhetischen Niedergang führenden Einschnitt. Auf der anderen Seite dekretiert Julian Schmidt durchaus mit Wohlwollen das Ende der alten Zeit in der Literatur, die in seinen Augen zumal von einer den Dilettantismus befördernden Vermischung von Politischem und Ästhetischem gekennzeichnet gewesen sei. Was es nun nach der für ihn forciert emphatischen Literatur der Restaurationszeit und der Revolutionsjahre zu befördern gelte, so Schmidt in der Zeitschrift „Die Grenzboten“, sei die „Wiedergeburt der deutschen Poesie“.
Nicht von der Hand zu weisen ist bei all dem der Funktionswandel, den zumindest die Literatur nach den Revolutionsjahren erfährt. Sie büßt ihre frühere Bedeutung als politischer Ersatzöffentlichkeit ein und beginnt sich an den realistischen Machtverhältnissen auszurichten. Hier findet dann auch die augenfällige Mäßigung der Kritik nach 1850 eine mögliche Begründung.