Der Demokrat und Freiheitskämpfer Carl Schurz, 1829 in Liblar bei Köln als Sohn eines Lehrers geboren, scheint gut in die deutsche Geschichtspolitik und Erinnerungskultur zu passen. Verfolgt in den deutschen Monarchien des 19. Jahrhunderts, wo er 1848/49 als Revolutionär für Demokratie kämpfte – und geliebt in der amerikanischen Republik, in der er an der Seite Lincolns gegen Sklaverei kämpfte und schließlich 1906 hochverehrt starb. Ein aufrechtes Leben, in dem Schurz wie ein Lotse anderen den Weg durch die Untiefen der Politik wies, so Mark Twain im Nachruf auf seinen Freund: Carl Schurz, der Meister „in citizenship“.
Doch so einfach ist es nicht. Das Leben von Carl Schurz steht für die Demokratiegeschichte des 19. Jahrhunderts – aber in ihrer ganzen Ambivalenz auf beiden Seiten des Atlantiks. Schurz selbst stellte sich in seinen Lebenserinnerungen von 1906 in die deutschen demokratiegeschichtlichen Traditionen und die liberalen Geschichtserzählungen. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation beschrieb Schurz als glanzvolle Zeit, die folgenden Jahrhunderte als Dekadenz der „nationalen Zerrissenheit und des öden Absolutismus“. Die napoleonische Besatzung war für ihn eine tiefe Demütigung, die Freiheitskriege 1813 dagegen die „Geburt des neuen deutschen Nationalgefühls“ – wobei Einigkeit, Recht und Demokratie zusammengehören: „Die Wiedergeburt eines einigen deutschen Nationalreichs, Aufhören der absoluten Willkürherrschaft durch Einführung volkstümlicher Regierungsinstitutionen“.
Die demokratische Grundhaltung stellt Carl Schurz in seinen Erinnerungen nicht als Ergebnis eines Bruchs, sondern als Konsequenz dieser Geschichte dar. Für den Neunzehnjährigen war es selbstverständlich, sich im März 1848 der Revolution anzuschließen. Als Studentenführer und Journalist unterstützte er den „Demokratischen Verein“ und nahm sich vor, mit friedlichen Mitteln die republikanischen Ideen in allen Gesellschaftsschichten zu popularisieren.
Nachdem Schurz in London Zuflucht gefunden hatte, zog er 1852 in die USA weiter. Seine Frau Margarethe Meyer-Schurz gründete dort 1856 den ersten Kindergarten in den USA. Ihr Mann fühlte sich schnell zum Kampf gegen die Sklaverei berufen. Bekanntschaften wie die mit der Quäkerin Lucretia Mott, eine renommierte Frauenrechtlerin und Abolitionistin, sorgten dafür, dass er die Sklaverei als ein Grundübel der amerikanischen Demokratie verstand. Bald wurde Schurz zu einem führenden Vertreter der Republikanischen Partei. 1860 unterstützte er Abraham Lincoln und sorgte dafür, dass dieser einen erheblichen Stimmenanteil der deutschen Auswanderer bekam. Zum Dank schickte ihn Lincoln als Botschafter nach Spanien. Doch 1862 kehrte Schurz zurück und kämpfte im Bürgerkrieg (1861-1865) in der Unionsarmee.
In den Jahren nach dem Krieg arbeitete er unter anderem als Journalist in St. Louis. Von dort aus reiste er 1867 nach Deutschland, wo er die Einheit mit Wohlgefallen betrachtete: „Die Zeit dumpfer Reaktion nach dem Zusammenbruch der revolutionären Bewegung von 1848 war vorüber.“
1868 wurde Schurz als erster Deutschstämmiger in den US-Senat gewählt. Nachdem er zunächst für die Unterstützung der „Freedmen“ (der befreiten Sklaven) gekämpft hatte und für ihre soziale und ökonomische Integration, begann er als Senator eine neue Politik zu verfolgen, die das Recht auf Selbstbestimmung („self-government“) der Südstaaten betonte. Die anhaltende Gewalt dort und die Rechtlosigkeit der Afroamerikaner wollten diese Republikaner nicht mehr wie bisher mit Bundestruppen und Gerichtsprozessen begegnen, also mit der Durchsetzung des Rechtsstaats, sondern mit einem Rückzug staatlicher Gewalt und einer Aufweichung der Gesetze.
1877 erreichte Carl Schurz den Gipfel seiner politischen Laufbahn: Präsident Rutherford B. Hayes ernannte ihn zum Innenminister. Schurz unterstützte den Abzug der Bundestruppen aus den Südstaaten, und nahm damit in Kauf, die ehemaligen Sklaven und Sklavinnen ihrem Schicksal und der sich etablierenden Apartheit zu überlassen. Vermutlich glaubte Schurz tatsächlich, dass die Apartheit letztlich auch für die Afroamerikaner besser sei, weil er ebenfalls fest von ihrer grundsätzlichen Verschiedenheit ausging. Schon Lincoln hatte sich dafür eingesetzt, die befreiten Sklavinnen und Sklaven wieder zurück nach Afrika in ihre „Heimat“ zu bringen, um sie nicht als Zumutung und Gefahr für die Republik im Land zu behalten. Schurz und viele andere Republikaner gingen davon, dass Nicht-Weiße kaum in der Lage seien, gute US-Bürger zu werden, weil sie durch das Klima ihrer Herkunftsländer faul seien und so nicht Eigenverantwortung übernehmen könnten.
Es ist gewiss sinnvoll, an Schurz als an einen der Väter der deutschen Demokratie zu erinnern. Aber dabei sollten seine rassistischen Einstellungen nicht ausgeblendet oder als überraschende Abirrung interpretiert werden. Auch die problematischen Seiten gehören zur Demokratiegeschichte.
Weitere Literatur
Carl Schurz: Lebenserinnerungen. Hg. von Daniel Göske. Mit einem Essay von Uwe Timm, Göttingen: Wallstein, 2015, 2 Bde.