Am Ende des 19. Jahrhunderts sahen viele Deutsche ihre Geschichte optimistisch als ein Fortschreiten hin zu Einigkeit und Recht und Freiheit, wenngleich mit schweren Rückschlägen: von den Freiheitskriegen gegen Napoleon über die Paulskirche bis zur Einheit von 1867/71. Für einen Großteil des Bürgertums und für immer mehr der politisierten Männer und Frauen der mittleren und unteren Klassen ging es dabei auch um die Frage, ob sie Freiheiten hatten, eine Verfassung, ein Parlament oder ob sie der Fürstenwillkür ausgeliefert waren. Eine große Mehrheit der Bevölkerung hielt es für entscheidend, ob sie ein gutes Leben ohne Hunger und Not führen konnte. Die sozialen Entwicklungen lassen sich nicht von den politischen trennen, das wurde während des 19. Jahrhunderts immer wieder deutlich. Die Industrialisierung mit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung wurde zur treibenden Kraft der Zeit. Sie schärfte die sozialen Nöte, setzte aber auch die Ressourcen frei, die eine soziale und damit auch politische Inklusion für immer mehr Menschen ermöglichten.
Tatsächlich wird das lange 19. Jahrhundert, von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg, immer wieder als das Jahrhundert der Emanzipation beschrieben.
Diese Demokratiegeschichte, als die Geschichte der sozialen und politischen Inklusion der Bevölkerung, umfasst drei Grundtendenzen, die zu 1848 führten, dort einen Kulminationspunkt erlebten – und danach keineswegs abbrachen: erstens die Geschichte des Nationalismus, zweitens der Konstitutionalismus sowie der politischen Partizipation und drittens die Geschichte der sozialen Kämpfe und Reformen.
Demokratisierende Reformen
Im Kampf gegen Napoleon wird deutlich, wie eng in Europa die nationale Idee mit den Idealen der Gleichheit und Freiheit verknüpft waren. „Democracy was born with the sense of nationality”, erläutert die Soziologin Liah Greenfeld, „Nationalism was the form in which democracy appeared in the world.”
Spätestens durch die Niederlagen gegen Frankreich war den Regierungen in Europa klar geworden, dass sie sich verändern musste. Der preußische Politiker Karl August von Hardenberg schrieb 1807: „Demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung: dieses scheint mir die angemessene Form für den gegenwärtigen Zeitgeist“.
Die Reformen gegen absolutistische und feudale Strukturen hatten teilweise schon vor der Französischen Revolution begonnen, erhielten durch diese und durch die napoleonischen Kriegszüge allerdings einen enormen Auftrieb, der nicht einmal durch die europäische Restaurationszeit ab dem Wiener Kongress 1815 gestoppt werden konnte.
Populäre nationale Traditionen
Neben der reformerischen, bürokratischen Demokratisierung etablierte sich eine populärere Tradition in den Befreiungskriegen gegen Napoleon von 1813 bis 1815. Zwar wurde die Bewegung später als Volksbewegung gefeiert, doch letztlich wurde auch sie zunächst nur von einer kleineren Schicht getragen, in der die Studenten eine herausragende Rolle spielten. Allerdings drangen diese Traditionen im Laufe des Jahrhunderts in die populäre Kultur ein. Die Freiheitskämpfe wurden zur Chiffre für den nationalen und demokratischen Aufbruch. Nicht länger sollten Fürsten willkürlich über Länder und die Bevölkerung herrschen, Territorien über Heirat aneignen oder leichtfertig weggeben, nicht länger Menschen als Untertanen statt als nationale Bürger betrachten und womöglich als Söldner an fremde Mächte verkaufen.
Aus den Freiheitskämpfen gegen Napoleon stammten die demokratischen deutschen Farben. Im Lützowschen Freikorps kämpften Freiwillige aus zahlreichen deutschen Staaten, so dass das Korps und seine schwarz-rot-goldenen Farben zum Inbegriff der deutschen Einheit und Freiheit und später auch der liberalen, demokratischen Ideale wurden. In dem Regiment waren viele Studenten, die nach den Kämpfen die Farben weiterhin trugen. 1815 gründeten sie in Jena die Urburschenschaft, die sich als gesamtdeutscher Verbund verstand, der für Einheit, Freiheit und politische Mitbestimmung stand. Im Wartburgfest 1817 feierten rund 500 Burschenschaftler (immerhin etwa ein Achtel der deutschen Studenten) die Utopie von Freiheit und Einheit. Auch die Turnerbewegung entstand aus der nationalen Sehnsucht nach Einheit und Freiheit und Selbstorganisation.
Die nationale Inklusion war gleichwohl von Anfang an schillernd, exklusiv und selten eindeutig. Die Turnerbewegung schloss Juden aus, Frauen ohnehin. Nation war stark männlich konnotiert und auf den wehrhaften Körper bezogen. Der bedeutende Freiheitskämpfer und Dichter Ernst Moritz Arndt (1769-1860) war rassistisch und antisemitisch, er wollte die Leibeigenschaft beenden und durchtränkte seine Emanzipationslieder mit Juden- und Franzosenhass. Für die Demokratisierung war generell typisch, dass die neue Inklusion mit scharfen Exklusionen einherging, zum Teil, weil der Ausschluss die Inklusion plausibel machte. Gegen die Anderen, gegen die Franzosen, die Juden, in gewisser Weise auch gegen die Frauen konnte man sich umso egalitärer fühlen. Der Nationalismus anderer Länder war hier nicht besser. Deswegen gingen auch Demokratisierung und Rassismus im Laufe des Jahrhunderts oft Hand in Hand, wie etwa in den USA.
Auch die demokratischen nationalen Traditionen blieben trotz der 1815 einsetzenden Restauration durch den Wiener Kongress lebendig. Überhaupt versuchte der Kongress keineswegs, die Uhren komplett zurückzudrehen. Fürst Metternich warnte allerdings vor dem spalterischen und aggressiven Potenzial des Nationalismus, das Kräfte freisetzen würde, die nicht günstig für den Frieden wären.
Verfassungskultur und politische Partizipationsrechte
Ein Ergebnis des Wiener Kongresses war der Deutsche Bund. Er blieb weit von dem entfernt, was sich die Freiheitskämpfer erhofft hatten, weder gab es die nationalstaatliche Einheit noch eine Volksvertretung, stattdessen wurden die Privilegien des Adels und die Fürstenherrschaft in den zahlreichen Einzelstaaten gesichert. Aber immerhin sah die Bundesakte in Artikel 13 „landständische Verfassungen“ vor. Zahlreiche deutsche Staaten leisteten dem Folge und installierten Verfassungen, etwa Sachsen-Weimar-Eisenach (1816), Bayern und Baden (beide 1818), Württemberg (1819) oder Hessen-Darmstadt (1820). Insgesamt gaben sich bis 1824 15 von 40 Staaten eine Verfassung. Doch die beiden größten deutschen Staaten Österreich und Preußen verweigerten sich der Konstitutionalisierung. In Preußen sorgte das für eine tiefe Verbitterung, zumal König Friedrich Wilhelm III. mehrfach eine Verfassung versprochen hatte. Die Julirevolution 1830 in Frankreich gab überall den demokratisch-liberalen Bewegungen in Europa Auftrieb, auch in den Staaten des Deutschen Bundes. In Sachsen, Hannover, Hessen und Braunschweig wurden nun Verfassungen eingerichtet.
Die ersten Verfassungen führten vielerorts zu einem frühen Verfassungspatriotismus mit Verfassungsfeiern. Das Hambacher Fest von 1832, ein Meilenstein in der deutschen Demokratiegeschichte, stand in dieser Tradition. Diese Feier zu Ehren der Bayerischen Verfassung wurde zu einer beeindruckenden Massendemonstration für Demokratie. 20.000 bis 30.000 Männer und Frauen zogen zu der Schlossruine in der bayerischen Pfalz. Sie forderten Einheit, Recht und Freiheit, schwenkten die schwarz-rot-goldene Fahne.
In manchen Regionen Deutschlands bildeten sich partizipative Mentalitäten und demokratische Verfahren wie Wahlen und Parlamentarismus schon früh heraus und wirkten spätestens seit den 1830er Jahren tief in die Bevölkerung. In Baden etwa fochten die Bürger hochkompetitive Wahlkämpfe aus und wählten mit einem Wahlrecht ein Parlament, das weiter und inklusiver war als in den USA.
Selbst die Provinziallandstände in Preußen, die wesentlich weniger Rechte hatten als die Landesparlamente in Baden oder Bayern, trugen zur politischen Inklusion bei. Sie forderten teilweise seit den 1830er-Jahren in Petitionen eine einheitliche Vertretung und diskutierten seit den 1840er-Jahren auch den Anspruch auf eine Verfassung. In ihnen saßen viele der wichtigsten Liberalen, die dann auch maßgeblich an demokratischen verfassungsgebenden Prozessen von 1848/49 beteiligt waren: etwa David Hansemann, Maximilian von Schwerin-Putzar oder Ludolf Camphausen.
Insgesamt verstanden sich mehr und mehr Männer und Frauen als liberal, als für die Freiheit kämpfend. Die Rolle der Fürsten und Regierungen war durchaus ambivalent. Einige erkannten die Chancen der neuen Zeit und installierten Verfassungen oder feierten die Erinnerung an die Freiheitskämpfe. Ein liberaler Geist wie Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach duldete auch die Gründung der Urburschenschaft in seinem Territorium und die Massendemonstration für auf der Wartburg. Viele Fürsten allerdings unterdrückten die Ideen von freiheitlichen Bürgerrechten und Einheit. Doch sie konnten die Aufbrüche insgesamt immer schlechter eindämmen, auch wenn die Karlsbader Beschlüsse von 1819 bis 1848 galten.
Soziale Inklusionen
Das Bürgertum erlebte im 19. Jahrhundert seinen Aufstieg und prägte das Jahrhundert zutiefst, obwohl es eine kleine Minderheit blieb, die bis Mitte des Jahrhunderts auf 5 und am Ende des Jahrhunderts auf 7 Prozent anstieg, wenn man die kleinen Selbständigen und Angestellten hinzurechnet auf etwa 20 Prozent.
Unterstützt wurde diese soziale Inklusion durch ein anwachsendes bürgerliches Engagement, das Anfänge einer Zivilgesellschaft erkennen lässt. Das wird am Umgang mit dem „Pauperismus“ deutlich. Allein schon der Begriff, der sich auch im Französischen und Englischen fand, signalisiert, dass Armut nicht länger als gottgegeben und schicksalhaft empfunden, sondern als Problem definiert wurde. So gab es schon früh Bürger und Bürgerinnen, die die „soziale Frage“ aufgriffen und für eine neuartige Skandalisierung von Armut sorgten. Der Wille zu Sozialreformen zeigte sich unter anderem daran, dass soziale Unruhen, die in Kontinentaleuropa regelmäßig vorkamen, zunehmend als ein gesellschaftliches Problem wahrgenommen wurden und ihre gewalttätige Unterdrückung nicht mehr als angemessen galt. Dabei spielte die Öffentlichkeit eine immer wichtigere Rolle. Neue Drucktechniken ermöglichten schnellere und billigere Zeitungen und Pamphlete. Die Zensur lockerte sich. In Deutschland wurde der Weberaufstand von 1844 die Initialzündung für die erste große öffentliche Diskussion über Armut.
Die ersten Selbsthilfeorganisationen der unteren Schichten wie Kranken-, Hilfs- und Sterbekassen signalisieren ebenfalls ein zivilgesellschaftliches Erstarken und ein neues Bewusstsein dafür, Armut und Elend als Problem zu definieren. Das „Proletariat“, das sich hier organisierte, bestand überwiegend aus bäuerlichen und handwerklichen Unterschichten, während Fabrikarbeiter erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zu einer Masse anwuchsen, die als politischer Akteur sichtbar wurde.
Die Revolution von 1848/49
1848 kulminierten die verschiedenen Veränderungsdynamiken. Als in Frankreich im Februar die Revolution ausbrach, war in ganz Europa der Boden bereitet. In den deutschen Ländern hatten bereits die Hungersnöte von 1846 und 1847 vielerorts zu Unruhen geführt. Als die Obrigkeit erneut mit der Unterdrückung der Aufständischen reagierte, schien das vielen Zeitgenossen nicht mehr hinnehmbar. In der wachsenden Öffentlichkeit und in der liberalen Presse wuchs die Empörung auch der bürgerlichen Schichten und bestärkte die bestehende Solidarität gegen die „Fürstenherrschaft“.
Die Menschen, die den zweiten revolutionären Strang aufgriffen, waren vor allem Bürger: Sie forderten mehr Freiheiten, mehr Verfassung, weniger Fürstenherrschaft. Die soziale Frage interessierte sie kaum. In Preußen brach sich 1848 die Verbitterung über das gebrochene Verfassungsversprechen Bahn. Deutschlandweit kamen liberal-demokratisch gesinnte Männer und Frauen zusammen, demonstrierten auf den Straßen und Plätzen und griffen die freiheitliche Tradition der Petitionen auf, um Einigkeit und Freiheitsrechte einzufordern.
Weitere Entwicklungen
Das gesamtdeutsche Parlament, der Liberalismus, die Demokratie, die Freiheitsversprechen wurden brutal unterdrückt und 1849 schließlich blutig niedergeschlagen. Die Revolution hatte verloren. Aber wie schon in der ersten Jahrhunderthälfte ließen sich die Versprechen von Freiheit, von einem Rechtsstaat und Einheit nicht auf die Dauer unterdrücken. Und an manchen Stellen hatte die Revolution doch gesiegt. Nicht so glorreich, nicht so schön und schwarz-rot-gold wie erhofft. Doch 1849 installierte Preußen endlich eine Verfassung. Ebenso gab es nun in fast allen deutschen Ländern eine Verfassung und ein Wahlrecht, das einem großen Teil der Männer die Wahl eines Parlaments ermöglichte. 1867/71 kam es unter Bismarck zur deutschen Einheit. Viele Liberale waren davon überzeugt, dass die Reichsgründung eine Aussöhnung mit der Revolution und dem „Verlangen der deutschen Seele für Einheit und politische Freiheit“ sei, so 1913 der Diplomat Johann Heinrich von Bernstorff, der in der Weimarer Republik für die Demokratie kämpfte und 1933 vor den Nationalsozialisten in die Schweiz floh.
Auch wenn viele liberale Wünsche noch nicht erfüllt waren, und sich das Reich unter Bismarck und Wilhelm I. nicht in der schwarz-rot-golden freiheitlichen Tradition sah, so gab es nun doch ein modernes allgemeines und gleiches Wahlrecht und ein gesamtdeutsches Parlament, das mit relativ großen Kompetenzen ausgestattet war. Kein Gesetz und kein Budget konnte ohne den Reichstag verabschiedet werden. Die Historikerin Margaret Anderson spricht von „Lehrjahren der Demokratie“ in diesen Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Der Nationalismus wurde mit der bejubelten Einheit zu einem Massenphänomen und ging Hand in Hand mit einer Massenpolitisierung. Die Zeitungen wurde immer günstiger, die Öffentlichkeit lebendig und ausdifferenziert. Das Leben der breiten Bevölkerung war dank der Industrialisierung, der Arbeit und dem wachsenden Lebensstandard auch für die Ärmsten im Kaiserreich so gut wie noch nie zuvor. Hungersnöte waren nun undenkbar geworden, und alle Schichten diskutierten die „soziale Frage“.
In dieser Zeit finden sich die Anfänge der staatlichen Sozialpolitik. Die Nation wurde vorsichtig verbunden mit dem Anspruch der Bürger und auch der Bürgerinnen auf soziale Solidarität. Das Kaiserreich öffnet aber auch den Blick auf die dunklen Seiten der Demokratisierung. Wie in vielen anderen Industrieländern ging die Demokratisierung und Massenpolitisierung einher mit aggressiver Exklusion, Antisemitismus, Rassismus und Kolonialismus. Der moderne Staat, der sich im 19. Jahrhundert entwickelt hatte, konnte so effektiv werden, weil es ihm gelang, die Menschen über die nationale Identität und über verfassungsrechtlich garantierte Partizipation an sich zu binden. Man könnte auch umgekehrt sagen: Dem Bürgertum war es gelungen, Verfassungen, die nationale Idee und Partizipationsrechte durchzusetzen, so dass sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung mit dem Staat identifizieren konnte und ihn freiwillig – „patriotisch“ – unterstützte wie bisher noch nie in der Geschichte. Doch dieser potente Staat war eben auch in der Lage, mit seiner beispiellosen Gewalt den Kolonialismus zu betreiben und Armeen aufzustellen, die im Ersten Weltkrieg ein nie gekanntes Ausmaß an Zerstörung anrichteten.