Die Geschichte der internationalen Beziehungen in Europa im 19. Jahrhundert wird von zwei katastrophalen Kriegserfahrungen eingerahmt. Am Beginn stehen die jahrzehntelangen Kämpfe zahlreicher europäischer Staaten und Staatenkoalitionen gegen das revolutionäre und später napoleonische Frankreich. Napoleons Versuch, eine gesamteuropäische Hegemonie zu errichten, hatte seine Armeen bis nach Ägypten, Spanien und Russland geführt. Diese Ambition konnte erst 1815 endgültig vereitelt werden – durch ein Zusammenwirken der anderen europäischen Großmächte. Die Schätzungen der in dieser Kriegsepoche erlittenen Verluste belaufen sich auf bis zu sieben Millionen Soldaten und Zivilisten – 0,5 Prozent der damaligen Weltbevölkerung. Am Ende des Zeitalters steht der Erste Weltkrieg, der Europa in einen Abgrund der Vernichtung stürzte. Dieser Weltenbrand kostete 16,5 Millionen Soldaten und Zivilisten das Leben. Dazu kamen mehr als 20 Millionen Kriegsversehrte.
Im Vergleich zu diesen Katastrophen verlief das Jahrhundert, das zwischen der Schlacht von Waterloo im Juni 1815 und der österreichischen Kriegserklärung an Serbien im Juli 1914 lag, verhältnismäßig friedlich. Alle Staaten, die zu Beginn der Epoche als Großmacht agierten, nahmen diesen Rang auch hundert Jahre später noch ein. Zudem konnte ein Krieg, an dem alle europäischen Großmächte beteiligt waren, in dieser Epoche vermieden werden. Zwar brachen zwischen 1854 und 1871 fünf Konflikte mit Beteiligung von Großmächten aus, doch blieben diese in Bezug auf Dauer und Ausmaß vergleichsweise begrenzt. Eine noch deutlichere Botschaft ergibt sich aus den Statistiken zu den Kriegsverlusten. Wenn man den längeren Betrachtungszeitraum sowie die gestiegene Bevölkerungszahl berücksichtigt, war die Zeit zwischen 1815 und 1914 mit ihren circa 635.000 Gefallenen sieben- bis achtmal weniger blutig als das 18. Jahrhundert (1715-1792). 1914 begann dann das – laut dem britischen Historiker Eric Hobsbawm – „mörderischste Jahrhundert der Geschichte“, dessen schier endlosen Kriegen knapp 190 Millionen Menschen zum Opfer fielen – circa 10% der Weltbevölkerung vor Beginn des Ersten Weltkriegs.
Das Fundament, auf dem diese friedliche europäische Ordnung im 19. Jahrhundert ruhte, wurde nach der Niederlage Napoleons auf dem Wiener Kongress gelegt und spiegelte den schmerzhaften Lernprozess der davorliegenden Kriegsjahrzehnte wider.
Wiener Friedensordnung (1815-1851)
Die in den letzten Kriegsjahren vorbereitete und dann 1814/15 in Wien erreichte Ordnung der internationalen Beziehungen in Europa beinhaltete drei entscheidende Elemente: Erstens eine territoriale Neuverteilung, die letztlich für alle Siegermächte akzeptabel war; außerdem wurde Frankreich einerseits eingehegt und andererseits so geschont, dass sein Rang als Großmacht nicht infrage gestellt wurde; Zweitens die multilaterale Sicherung und Weiterentwicklung der erreichten Einigung durch eine gemeinsame vertragliche Bindung der Großmächte über das Ende der Kampfhandlungen hinaus und durch die Bereitschaft, neu entstandene Konflikte auf einer Reihe von Kongressen und Konferenzen (dem so genannten Europäischen Konzert) einvernehmlich beizulegen; und drittens die Eindämmung des Konfliktpotenzials in Mitteleuropa durch die Schaffung des Deutschen Bundes, der die preußisch-österreichische Rivalität entschärfte und die Instabilität im Herzen des Kontinents reduzierte.
Überwölbt wurden diese Einzelaspekte von einer gemeinsamen Haltung der europäischen Pentarchie (also der fünf Großmächte Großbritannien, Russland, Frankreich, Österreich und Preußen), sich mit dem 1814/15 erreichten Ausgleich zu begnügen und innen- wie außenpolitisch ein „Äquilibrium“ zu wahren. Damit ist ein Gleichgewicht gemeint, bei dem den Flügelmächten GB und Russland eine entscheidende Rolle zur Bewahrung dieses Zustandes zukommt. Dies geschah nicht aus Mangel an machtpolitischen Ambitionen, und die dafür notwendige Selbstbeschränkung fiel alles andere als leicht. Aber die Staaten hatten erkannt, wie der Historiker Paul W. Schroeder es formuliert hat, „dass Krieg und Expansion nicht zu Frieden und Sicherheit führen konnten“. Der Niedergang der Wiener Friedensordnung im Verlauf der darauffolgenden Jahrzehnte – besonders während des Vierteljahrhunderts vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs – ist vor allem die tragische Geschichte der Abkehr von dieser Erkenntnis.
Zunächst jedoch erwies sich das Wiener System als effektiv. Vertreter der Pentarchie trafen sich in Aachen (1818), Troppau (1820), Laibach (1821) und Verona (1822), um Frankreich in das Mächtekonzert zu reintegrieren und dann gemeinsam revolutionäre Erschütterungen in Süditalien und Spanien zu unterdrücken. Selbst bei tiefgreifenden machtpolitischen Veränderungen – wie der griechischen Revolution von 1821-1829, die zur Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich führte, oder der Loslösung Belgiens vom Königreich der Vereinigten Niederlande (1830-1831) – konnten größere Kriege vermieden und international ausgehandelte Lösungen gefunden werden.
Eine besondere Bewährungsprobe für das Wiener System stellten die revolutionären Erschütterungen von 1848/49 dar. Die Vertreibung des österreichischen Staatskanzlers Metternich – des Architekten dieser internationalen Ordnung – aus Amt und Würden stand symbolisch für den Versuch, nun ganz andere Methoden und Motivationen zum Zuge kommen zu lassen. Der Wiener Kongress hatte den Impuls zu nationaler Selbstbestimmung weitestgehend ignoriert; die Politik der Wiener Ordnung hatte radikale, nationale und revolutionäre Kräfte zugunsten eines obrigkeitlichen Äquilibriums unterdrückt. Mit seinem Ruf nach befreiten und geeinten Nationalstaaten in Deutschland, Polen, Italien, Ungarn und anderswo stellte der „Völkerfrühling“ von 1848 eine radikale Gegenposition dar.
Gerade dort, wo die nationale Zugehörigkeit von Territorien umstritten war (etwa in Schleswig, Posen oder Böhmen) oder bei der existentiellen Bedrohung eines multi-nationalen Staats (wie des Habsburgerreichs), barg das revolutionäre Szenario erhebliche Kriegsrisiken. Es gelang jedoch zu verhindern, dass sich die Kämpfe in Schleswig, Italien, Baden und Ungarn zu einem gesamteuropäischen Konflikt ausweiteten, und sowohl Preußen wie auch Österreich konnten relativ schnell davon abgebracht werden, Gewinn aus der Konkursmasse der Revolution zu schlagen. Die Vermeidung einer größeren Krise war nicht zuletzt der Kürze der revolutionären Epoche und der Haltung der am status quo ante interessierten Flügelmächte Russland und Großbritannien geschuldet. Zu Beginn der 1850er-Jahre konnte daher eine weitestgehende Wiederherstellung der Wiener Ordnung erreicht werden.
Krieg und Nationalstaatsgründung (1854-1871)
Trotz des scheinbar vollständigen Sieges der Wiener Ordnung über die revolutionäre Herausforderung hatten die Jahre 1848-1851 das System der internationalen Beziehungen in Europa brüchig gemacht. In Frankreich regierte nun mit Kaiser Napoleon III. ein Mann, der die Beschränkungen der Wiener Verträge revidieren wollte. Zudem war die Frage nach der künftigen staatlichen Organisation der italienischen Halbinsel und der im Deutschen Bund organisierten Staaten allenfalls vertagt, nicht aber gelöst worden. In diesem Zusammenhang spielte eine wichtige Rolle, dass nun auch Regierungen Gefallen an dem Gedanken fanden, die Kraft des Nationalismus vor den Karren ihrer eigenen Zwecke zu spannen. An die Stelle einer von „Rechtsbewußtsein, Maßhalten und Ruhebedürfnis geprägten Außenpolitik trat nun eine viel stärker machtbetonte Politik“, resümiert Winfried Baumgart. Für die neue Riege „realpolitisch“ kalkulierender Politiker – wie Louis Napoleon, Camillo di Cavour oder Otto von Bismarck – zählte in erster Linie die Frage: „Was frommt meinem Staate? Und nicht mehr: Was bedeutet mir der europäische Friede oder das europäische Konzert?“
Die Unfähigkeit der alten Ordnungssysteme, die Dynamik dieser neuen Entwicklungen im Zaum zu halten, wurde schon Anfang der 1850er-Jahre offensichtlich. Dem Krimkrieg (1854-1856) war eine jahrelange Inkubationszeit vorausgegangen, in der mehrere Versuche scheiterten, die drohende Krise diplomatisch zu entschärfen. Folglich erklärten Großbritannien und Frankreich Russland im März 1854 den Krieg. Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Zarenreich schon seit mehreren Monaten im Krieg mit dem Osmanischen Reich; im Januar 1855 trat Sardinien-Piemont auf Seiten der westlichen Alliierten in die Kampfhandlungen ein. Auch Österreich, das sich im Dezember 1854 vertraglich an Frankreich und Großbritannien gebunden hatte, drohte Russland mit einer militärischen Intervention. Als einzige Großmacht bewahrte Preußen eine (tendenziell russlandfreundliche) Neutralität.
Das ursprüngliche russische Kalkül, seine Position im östlichen Mittelmeer auf Kosten des Osmanischen Reiches zu verstärken, sollte an der überlegenen westlichen Koalition scheitern. Diese wurde jedoch durch das britische Interesse an der Schwächung des russischen Rivalen und Louis Napoleons Hoffnung auf die Verbesserung seiner internationalen Stellung nur lose zusammengehalten. Das zeigte sich, als die Kämpfe auf der Krim unerwartet schwierig verliefen. Gegen Ende 1855 wurde das militärisch unterlegene Russland vom kriegsmüden Frankreich mit Hilfe Österreichs an den Verhandlungstisch gezwungen. Auch Großbritannien musste einlenken, obwohl es den Konflikt gerne weitergeführt hätte, um die Macht Russlands nachhaltig zu beschädigen. Auf dem Pariser Kongress (Februar-März 1856) verzichtete das Zarenreich auf seine Ambitionen gegenüber der Türkei und nahm geringe Gebietseinbußen in Bessarabien hin.
Der Frieden von Paris läutete die sogenannte „Krimkriegssituation“ (Andreas Hillgruber) ein, während der sich die Flügelmächte Russland und Großbritannien von einer aktiven Europapolitik abwandten. Dies schwächte vor allem Österreichs Position und bot jenen Politikern Raum, die den mittel- und südeuropäischen status quo zu ihrem Vorteil verändern wollten.
Ein erster Schritt in diese Richtung war der von Napoleon III. und dem sardinischen Premier Cavour eingefädelte Zweite Italienische Unabhängigkeitskrieg, der sich an der Frage nach der Vorherrschaft in Italien entzündete. Sardinien hatte sich an die Spitze der italienischen Einigungsbewegung gestellt und so die österreichische Herrschaft in der Lombardei und Venetien herausgefordert. Als österreichische Truppen schließlich im April 1859 in Sardinien-Piemont einmarschierten, tappte das Habsburgerreich in eine bereits im Vorjahr gestellte Falle. Nach raschen Niederlagen gegen die verbündeten Armeen Frankreichs und Sardiniens, musste Wien im Frieden von Zürich (November 1859) die Lombardei an Napoleon III. überlassen, der sie sogleich an Sardinien-Piemont abtrat. Im Gegenzug erhielt Frankreich Savoyen und Nizza. Cavour nutzte die Gunst der Stunde geschickt aus und erreichte – nach weiteren Plebisziten, Annexionen und Kampfhandlungen – binnen 15 Monaten die Gründung eines geeinten Königreichs Italien unter der Führung Sardinien-Piemonts.
Auch nördlich der Alpen bahnte sich eine für Österreich katastrophale Vermengung von einzelstaatlicher Machtpolitik und nationaler Einigungsbewegung an. Unter dem Eindruck der Veränderungen in Italien und angesichts eines Wiederaufflammens der nur scheinbar bereinigten Schleswig-Frage kam wieder Bewegung in die Frage nach Deutschlands Zukunft. Im Zusammenwirken mit den Kräften der deutschen Nationalbewegung erkannte die preußische Führung nunmehr eine Möglichkeit, die jahrhundertealte Rivalität mit Österreich zu ihren Gunsten zu entscheiden und deutsche Führungsmacht zu werden. Ohne die Unterstützung Russlands unterlag das jüngst in Italien besiegte Habsburgerreich auch in den Deutschen Einigungskriegen. Der siegreiche Feldzug von 1864, den Preußen und Österreich gemeinsam unternahmen, zwang Dänemark zur Abtretung der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Zwei Jahre darauf provozierte der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck einen Krieg Preußens gegen Österreich und seine Verbündeten, der nach wenigen Wochen mit der Niederlage der habsburgischen Truppen bei Königgrätz im Juli 1866 endete. Obwohl Preußen den österreichischen Großmachtstatus geschont und auf Gebietsabtretungen verzichtet hatte, wurde die Donaumonarchie fortan aus der nunmehr preußisch dominierten deutschen Politik ausgeschlossen. Zugleich verlor Wien auch die Provinz Venetien an das mit Preußen verbündete Königreich Italien.
Russland und Großbritannien hatten keinen ernsthaften Versuch unternommen, Einfluss auf die Kriege von 1864 und 1866 auszuüben. Napoleon III. war jedoch vom plötzlichen Zuwachs der Macht Preußens überrumpelt worden. So zeichnete sich ein immer schärferer Konflikt zwischen den zwei Mächten ab. Keiner war bereit, die Einschränkungen hinzunehmen, die sich aus der Stärke des anderen ergaben. Bismarck war entschlossen, auf die Integration der süddeutschen Staaten in den von Preußen dominierten Norddeutschen Bund hinzuwirken. Napoleon III. weigerte sich, die dadurch verursachte relative Schwächung der Stellung Frankreichs zu akzeptieren. Im Juli 1870 zogen beide Kontrahenten siegesgewiss gegeneinander ins Feld. Weder Russland noch Großbritannien oder Österreich intervenierten, so dass der Krieg als ein isoliertes Duell ausgefochten und – nach einer Reihe deutscher Siege – schnell beendet werden konnte. Bismarck nutzte den militärischen Triumph zur Vollendung des Deutschen Reiches unter Führung des preußischen Königs als deutschem Kaiser. Das nach dem Sturz Napoleons republikanische Frankreich wurde zu schweren Reparationszahlungen und dem Verlust Elsass-Lothringens gezwungen.
Europa während der Bismarck-Ära (1871-1890)
1871 präsentierte sich das europäische System als tiefgreifend verändert. In den siebzehn Jahren seit Beginn des Krimkriegs waren fünf Kriege ausgebrochen, an denen mindestens zwei Mitglieder der Pentarchie beteiligt gewesen waren. Unter dem Banner der nationalen Einigung waren mit dem Deutschen Reich und Italien kriegerisch zwei neue Großmächte entstanden. Die Instrumentalisierung des Nationalismus hatte also scheinbar reiche Früchte getragen. Beide Staatsgründungen waren für die jeweils unterlegene Großmacht – Österreich und Frankreich – mit territorialen Opfern verbunden. Russland, Österreich und Frankreich hatten Rückschläge erleiden müssen, die das Bedürfnis nach künftiger Revanche speisen konnten. Die einstmals souveränen Mittel- und Kleinstaaten Italiens und des Deutschen Bundes hatten ihre Unabhängigkeit verloren und waren daher nicht mehr in der Lage, wichtige diplomatische Vermittlungsfunktionen auszuführen.
Angesichts dieser Veränderungen ist es umso erstaunlicher, dass Europa 43 weitere, wenn auch zunehmend prekäre Friedensjahre beschert sein sollten. Die Elemente der Wiener Ordnung, die Stabilität und Frieden stifteten, waren zwar beschädigt und unterminiert worden, besaßen aber weiterhin eine gewisse Tragkraft.
Welche Rolle Bismarck in diesem Zusammenhang in den darauffolgenden zwei Jahrzehnten gespielt hat, ist durchaus umstritten. Wie ein Bankräuber, der sich nach drei erfolgreichen Überfällen als Wortführer für Verbrechensbekämpfung geriert, erklärte der Reichskanzler nach 1871 das Deutsche Reich sei „saturiert“ und allein dem Ziel der Friedensbewahrung verpflichtet. Besorgt, das Erreichte zu bewahren und eingedenk der verletzlichen geostrategischen Mittellage Deutschlands, versuchte er, das republikanische und auf Rache sinnende Frankreich zu isolieren. Zugleich wollte er Allianzen schließen, um sicher zu stellen, dass das Reich auf einem Kontinent mit fünf Großmächten stets Teil einer Dreierkombination war. Ein immer komplexeres Netz von Bündnissen – vor allem mit den konservativen Mächten Österreich-Ungarn und Russland, später auch mit Italien und indirekt sogar mit Großbritannien und Spanien – sollte das Deutsche Reich vor Angriffen, und besonders vor der Gefahr eines Zweifrontenkrieges bewahren. Dies sollte Bismarck in der Tat bis zu seiner Entlassung im Jahr 1890 gelingen.
Selbst nachdem sich die Orientkrise, die Russland und Österreich-Ungarn in das post-osmanische Machtvakuum auf dem Balkan sog und damit auch Großbritannien auf den Plan rief, immer bedrohlicher entwickelte, ließ sich ein Großmächtekonflikt noch vermeiden. Die hochgefährliche Konstellation, die sich aus dem russisch-türkischen Krieg von 1877/1878 ergab, konnte auf dem Berliner Kongress (1878), dem der Reichskanzler als „ehrlicher Makler“ vorstand, entschärft werden.
Bei der Bewertung Bismarcks muss jedoch auch berücksichtigt werden, dass es ihm letztlich nicht um den europäischen Frieden ging, sondern um die Sicherheitsinteressen des Reiches. Wie er in seinem „Kissinger Diktat“ (1877) darlegte, wollte er Spannungen zwischen den anderen Mächten nicht etwa beilegen. Vielmehr sollten diese an der Peripherie – etwa im Balkan oder in Übersee – geschürt werden, um zwischen den direkt involvierten Staaten eine ständige Feindschaft zu stiften und diese dauerhaft zu schwächen. Deutschland würde so eine vorteilhafte Hinterhand-Position genießen. Das undurchschaubare Geflecht einander zum Teil widersprechender und oftmals geheim ausgehandelter Allianzverträge schuf zudem Misstrauen und Bedrohungsängste. Auch die Bildung zweier zunehmend fester, antagonistischer Machtblöcke in Europa war ein bedenkliches Erbe der Bismarck-Zeit. Zuletzt sollte noch darauf hingewiesen werden, dass der Reichskanzler bereit war, internationale Konflikte zu eskalieren, um daraus innenpolitisches Kapital zu schlagen – beispielsweise beim deutschen Erwerb von überseeischen Kolonien (1884/1885) oder im Vorfeld zu den Kartellwahlen von 1887.
Imperialismus, Mächterivalität und Wettrüsten
In einer aufschlussreichen Analogie hat der Historiker Paul W. Schroeder das endgültige Versagen der europäischen Friedensordnung im Sommer 1914 mit dem Herztod eines zunehmend kranken Menschen verglichen. Schroeder fragt, ab wann und aufgrund welcher ungesunden Lebensweisen der Patient – also das europäische System – seine einstmals robuste Gesundheit (also seine Fähigkeit zur Friedensbewahrung und Deeskalation von Konflikten) dermaßen ruiniert hat, dass es am Ende zur Katastrophe kam. Als tiefe Kriegsursache benennt Schroeder folglich eine „allgemeine langfristige Unfähigkeit der europäischen Regierungen, gewisse spezifische Dinge zu tun, die notwendig waren, um den Frieden lebensfähig zu erhalten, während sie gleichzeitig wiederholt Dinge taten, die den Krieg wahrscheinlicher machten, so dass die Friedensressourcen schließlich erschöpft waren.“
Wie gesehen, waren die Maximen der Wiener Ordnung bereits seit den 1850er-Jahren durch die Politik Napoleons III. and Cavours und dann in besonderem Maße durch Bismarck unterminiert worden. In den Jahren nach Bismarcks Entlassung beschleunigten sich diese Verhaltensweisen und führten so direkt zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Aus einer Vielzahl von Verfehlungen ist hier erstens der ständig wachsende Einfluss von nationalistischen, imperialistischen, militaristischen und sozialdarwinistischen Ideen auf das Handeln europäischer Regierungen zu nennen. Zu säkularen Religionen erhoben und von einer zunehmend machtvollen öffentlichen Meinung lautstark vertreten, belasteten solche Ideologien das internationale System zunehmend mit Aggressionsbereitschaft, Kompromissunfähigkeit, Konkurrenzdenken und Untergangsängsten. Großbritannien müsse seinen Besitz gegen jedweden Herausforderer verteidigen, erklärte der britische Premier Salisbury 1898, denn die Welt kenne nur „lebende und sterbende“ Nationen. Die Gefahr, ins Hintertreffen zu geraten, beschwor Existenzängste herauf. In seiner notorischen Streitschrift „Deutschland und der nächste Krieg“ von 1911 brachte der deutsche Offizier Friedrich von Bernhardi dasselbe Gefühl auf eine prägnante Formel: „Weltmacht oder Niedergang“. Die Mächte pokerten in einem globalen Nullsummenspiel.
Zweitens ist der imperiale Wettbewerb der europäischen Staaten in Übersee zu bedenken. Der Zugewinn an Territorien, wirtschaftlichen Ressourcen und Prestige jenseits von Europa hatte über längere Zeit direkte Rivalitäten zwischen den Großmächten abgefedert. Nun schlug der imperiale Wettlauf auf Europa zurück. 1885 brachte der Pandjeh-Zwischenfall in Turkmenistan Russland und Großbritannien an den Rand eines Krieges. Vierzehn Jahre später entbrannte zwischen Frankreich und Großbritannien die Faschoda-Krise über die Kontrolle des oberen Nils. Die Marokko-Krisen von 1905 and 1911 verschärften die Rivalität zwischen Deutschland und dem von Russland und Großbritannien unterstützten Frankreich. Wie die Bosnische Annexionskrise (1908/09) oder die Liman-von-Sanders-Krise (1913/14) belegten, war auch Bismarcks fragwürdige Methode, Konflikte auf dem für Deutschland scheinbar ungefährlichen Balkan zu schüren, längst kein probates Mittel mehr. Spannungen an der Peripherie bargen nun stets die Gefahr, in einen Großmächtekrieg umzuschlagen.
Aufgestachelt durch aggressive Denkmuster und imperiale Rivalitäten lieferten sich die europäischen Mächte immer bessere Gründe, sich gegenseitig zu fürchten und Schutz voreinander zu suchen. Das geschah, drittens, durch die Schaffung immer inflexiblerer, unversöhnlicherer und schwerer bewaffneter Allianzblöcke. Dem deutsch-österreichischen Zweibund (1879; Erweiterung durch den Dreibund mit Italien [1882]) stand eine russisch-französische Allianz (1894; Erweiterung durch die französisch-britische Entente [1904] und die britisch-russische Konvention [1907]) gegenüber. Letztere beschwor im Deutschen Reich Einkreisungsängste herauf, was zu rüstungs- und außenpolitischen Entscheidungen führte, die wiederum Frankreich, Russland und Großbritannien nur noch fester zusammenrücken ließen. Bald setzte ein fieberhaftes Wettrüsten ein. Der deutsch-britische Flottenwettlauf nach 1898 drängte das Inselreich entscheidend in das französisch-russische Lager. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte ganz Europa ein fieberhaftes Aufrüsten der Landstreitkräfte. Zwischen 1904 und 1913, wuchs das russische Heer um 18 Prozent, die französische Armee gar um 48 Prozent. In Deutschland und in Österreich beliefen sich die Zuwächse auf 37 Prozent. Angesichts dieser Rüstungs- und Bedrohungsspirale keimten Präventivkriegspläne auf.
Dass von den Krisen, die sich in diesem Klima immer häufiger entwickelten, so viele diplomatisch beigelegt werden konnten, mag auf das schwindende Erbe der Wiener Friedensordnung zurückzuführen sein, aber das vernachlässigte Gebäude war nicht mehr standfest. Mit jeder neuen Erschütterung erhöhte sich die Gefahr des Einsturzes. Die Krise, die der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Gattin durch serbische Terroristen in Sarajevo im Juni 1914 folgte, führte dann zur Katastrophe. Die Mehrzahl der europäischen Regierungen wähnte sich nun in einer Situation, in der die Entscheidung unaufschiebbar schien, ob man als Nation leben oder sterben würde, ob man Weltmacht sein oder den eigenen Niedergang erleiden müsse. Vor die Wahl gestellt, ein weiteres Opfer für die Erhaltung des Friedens zu erbringen oder nun endlich alles auf den von vielen als unvermeidlich betrachteten und mancherorts herbeigesehnten Waffengang zu setzen, optierten die Kabinette für den Krieg.
Weiterführende Literatur
Baumgart, Winfried: Europäisches Konzert und nationale Bewegung 1830-1878 (Paderborn, 1999)
Bridge, F. R. und Roger Bullen: The Great Powers and the European States System 1814-1914 (London, 2005 [2. Aufl.])
Clark, Christopher: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog (München, 2013)
Döring-Manteuffel, Anselm: Vom Wiener Kongress zur Pariser Konferenz: England, die deutsche Frage und das Mächtesystem 1815-1856 (Göttingen, 1991)
Geiss, Imanuel: Der lange Weg in die Katastrophe. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs 1815-1914 (München, 1991 [2. Aufl.])
Paulmann, Johannes: Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube. Europa 1850-1914 (München, 2019)
Rich, Norman: Great Power Diplomacy 1814-1914 (New York, 1992)
Schöllgen, Gregor und Friedrich Kießling: Das Zeitalter des Imperialismus (München, 2009)
Schroeder, Paul W.: The Transformation of European Politics 1763-1848 (Oxford, 1994)