In den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts kam es in Deutschland zu tiefgreifenden sozialen Umwälzungen. Die traditionale Ständeordnung löste sich nach und nach auf, in den Staaten des Deutschen Bundes formierte sich eine moderne bürgerliche Gesellschaft. In der Epoche der Restauration und des Vormärz (1815-1847) lassen sich bereits zahlreiche Ansätze für diesen langfristigen und spannungsreichen Übergang zur „Moderne“ ausmachen. Weitere wichtige Impulse setzte die Revolution von 1848/49.
Obwohl es den Revolutionären nicht gelang, einen deutschen Nationalstaat mit einer liberalen Verfassungsordnung zu schaffen, lässt sich die Revolution aus sozialgeschichtlicher Perspektive durchaus als ein „Markstein“
Allerdings weisen die klassengesellschaftlichen Strukturen in Deutschland vor der Reichsgründung von 1871 noch beträchtliche regionale und lokale Unterschiede auf, so dass man für diese Epoche nur mit Vorbehalten von „einer deutschen Gesellschaft“
Modernisierung
Angetrieben wurde der Wandlungsprozess von unterschiedlichen Faktoren, die in ihrem Zusammenspiel eine große Dynamik entfalteten. Eine besondere Bedeutung kam den Reformen zu, mit denen die deutschen Monarchen und ihre Beamtenstaaten in den Jahrzehnten um 1800 auf die Herausforderung der Französischen Revolution und die militärische Niederlage gegen das Kaiserreich Napoleons I. reagierten.
Diese „Reformen von oben“ hat Hans-Ulrich Wehler treffend als „defensive Modernisierung“
Daneben wurden die feudalen Bindungen für den Grundbesitz aufgehoben, ein tendenziell freier Bodenmarkt etabliert und die Bildung einer Marktgesellschaft von Eigentümern mit individuellen Besitzrechten in die Wege geleitet. Im Ergebnis legte dieser Prozess, der als Dekorporierung der ständischen Ordnung bezeichnet werden kann, in Preußen (mit Verzögerungen in anderen deutschen Staaten) die Grundlagen für eine kapitalistische Entwicklung von Gewerbe, Industrie und Landwirtschaft.
Das Aufkommen der kapitalistischen Marktwirtschaft in den Jahrzehnten nach dem Wiener Kongress von 1815 zählt neben den Reformen zu den besonders wirkungsmächtigen „Kräfte[n] der Veränderung“
Zurückzuführen ist dieser auch als „Agrarrevolution“ bezeichnete Entwicklungsschub allerdings nicht nur auf die Impulse der sogenannten Bauernbefreiung oder anderer staatlicher Reformwerke, sondern ebenso auf die Rationalisierung der Anbaumethoden, die Einführung neuer Agrartechniken und die erhebliche Erweiterung der landwirtschaftlichen Anbauflächen (insbesondere in den ostelbischen Provinzen Preußens).
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts blieb Deutschland ein vorwiegend von der Agrarwirtschaft geprägtes Land. Die Industrialisierung setzte zwar in einigen traditionellen Gewerberegionen (etwa im Rhein-Main-Gebiet, in Sachsen oder im Bergischen Land) bereits in den 1830er- und 1840er-Jahren ein, doch nahm sie erst seit den 1850er-Jahren rasant an Fahrt auf. Der Eisenbahnbau sowie die Schwer- und Metallindustrie spielten in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle.
Der Strukturwandel der Gesellschaft hängt nicht zuletzt maßgeblich mit einem auf Geburtenüberschuss beruhenden, immensen Bevölkerungswachstum zusammen. Begonnen hatte diese Entwicklung bereits Mitte des 18. Jahrhunderts, doch in den Jahrzehnten nach dem Wiener Kongress nahm die Bevölkerung außerordentlich schnell zu. Die Zahl der in Deutschland lebenden Menschen stieg zwischen 1816 und 1870 von 24,8 auf 40,8 Millionen an.
Ohne die Steigerung der Agrarproduktion und die zunehmenden Beschäftigungsmöglichkeiten in der Landwirtschaft und im kapitalistisch organisierten Heimgewerbe der ländlichen Regionen (vor allem Garnspinnerei und Weberei), wäre dieser Wandel nicht denkbar gewesen. Zugleich trieb die Bevölkerungszunahme jedoch wiederum die dynamische Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung an.
Von der Ständeordnung zur Klassengesellschaft
Diese Transformation führte in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts zu einer „marktwirtschaftlichen Umorganisation der Gesellschaft“
Bis zu den 1860er-Jahren wurde dieser Prozess nirgends vollständig abgeschlossen. Dennoch stieg seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert das Bürgertum auf und etablierte sich, wie Thomas Nipperdey es formulierte, als das „eigentliche Tiefenphänomen“
Allerdings war das Bürgertum keine sozial einheitliche Klasse, denn es bestand aus recht unterschiedlichen Gruppen. Zu nennen ist zunächst das traditionelle Stadtbürgertum ständischen Ursprungs, dem einflussreiche, alte Kaufmannsfamilien ebenso wie Handwerksmeister angehörten. Besonders großen Einfluss entfaltete das neue Bildungsbürgertum, das seine Identität aus humanistischer Kultur oder moderner Wissenschaft schöpfte und dank seiner Bildungsdiplome das (zumeist verbeamtete) Personal in Staatsverwaltung, Universitäten und Schulen stellte. Aus dem Bildungsbürgertum kamen ferner die Freiberufler (namentlich Ärzte oder Anwälte) sowie die gesellschaftskritische Intelligenz der Schriftsteller und Journalisten der 1830er- und 1840er-Jahre.
Das Bildungsbürgertum betrachtete sich, so fasst es Hans-Werner Hahn zusammen, als „Vorhut einer neuen sozialen Ordnung“
Gemeinsam war den verschiedenen Gruppen des Bürgertums die liberale Utopie einer „bürgerlichen Gesellschaft“, in der Staatsbürger über gleiche Rechte verfügten und ihre Angelegenheiten in Wirtschaft und Gesellschaft prinzipiell ohne Einmischung des Staates frei regelten. Dementsprechend bildete das Bürgertum die hauptsächliche Trägerschicht der Bewegung des Liberalismus, dessen Kernforderung in der Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungsprozessen des monarchischen Staates durch eine moderne Verfassung bestand.
Politisierung der bürgerlichen Gesellschaft
Die Idee der bürgerlichen Gesellschaft drückte sich zudem in der Gründung von Vereinen und Assoziationen aus, mit denen sich gleichberechtigte Individuen freiwillig zusammenschlossen, um gemeinsame Ziele zu verfolgen. Das Vereinswesen war äußerst vielfältig und reichte von beruflichen Interessenverbänden, karitativen oder Gewerbevereinen bis zu hin Sänger- oder Turnerbünden. Da im Deutschen Bund die Bildung von politischen Vereinen im Vormärz untersagt und damit die Bildung von Parteien blockiert wurde, eröffneten Vereine eine Möglichkeit zur verdeckten politischen Organisation und Betätigung.
Für den Prozess der Politisierung der bürgerlichen Gesellschaft war seit den 1830er-Jahren überdies die Herausbildung einer „öffentlichen Meinung“ von großer Relevanz. Die repressive Gesetzgebung des Deutschen Bundes konnte das Aufkommen einer modernen Meinungspresse nicht vollkommen unterdrücken. Trotz Zensur erschienen viele Zeitschriften und Zeitungen, die von immer professionelleren Journalisten verfasst wurden und schon im Vormärz ein umfangreiches Publikum erreichten.
Diese „Leserevolution“ erscheint umso wichtiger, als die Analphabetenrate in Deutschland (zuerst in den protestantischen Gebieten) deutlich zurückging und aus den Deutschen, weit über die Grenzen der gebildeten Oberschichten hinaus, ein „Volk von Lesern“
In der Stadt wie auf dem Land konnten sie über 50 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen.
Die soziale Frage
Die Krise des „Pauperismus“, die Mitte der 1840er-Jahre ihren Höhepunkt erreichte und in der bürgerlichen Öffentlichkeit breit diskutiert wurde, ist auf eine ganze Reihe von Ursachen zurückzuführen. Zunächst lässt sich die Krise in die Kontinuität der Geschichte der Armut der vorindustriellen Gesellschaft einordnen. Die Nahrungsmittelproduktion hielt in den 1830er-Jahren nicht mehr mit dem Bevölkerungswachstum Schritt, so dass die Lebensmittel knapp und derart teuer wurden, dass sich die Unterschichten nicht mehr ausreichend zu ernähren vermochten.
Zudem brachen auf dem Land zahlreiche Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten weg, weil die in Familienverband betriebene Heimarbeit im Bereich der Textilproduktion der Konkurrenz kostengünstiger Massenprodukte aus Großbritanniens nicht standhalten konnte und, wie etwa in Schlesien oder Ostwestfalen, unaufhaltsam niederging. Forciert wurden die Krise ferner durch die Überbesetzung des Handwerks in den Städten und in der ländlichen Gesellschaft. Die aufgrund der Gewerbefreiheit massiv steigende Zahl von Gesellen und allein wirtschaftenden Meistern sorgte für strukturelle Unterbeschäftigung und sinkende Einkommen, die zahllosen Familien Armut und Hunger brachten.
Die Arbeiterinnen und Arbeiter der nun langsamen aufkommenden Fabriken der Industrie lebten gleichermaßen unter elenden Bedingungen, die Friedrich Engels 1845 in seiner Schrift „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ eindrücklich dargestellt hatte. Zahlreiche Gesellschaftsanalysen aus der Zeit des Vormärz machten in der Frühindustrialisierung die eigentliche Ursache der Massenarmut aus. Dagegen hat die sozialhistorische Forschung nachgewiesen, dass die zunehmende Industrialisierung auf lange Sicht eine Lösung für die Krise des Pauperismus war.
Die gebildeten und vermögenden Klassen der 1840er Jahre vermochten diese Entwicklungschancen noch nicht zu erkennen und schätzten die gesellschaftliche Lage äußerst pessimistisch ein. Die Zahl der Armen wuchs nämlich trotz der ersten Auswanderungswellen nach Nordamerika weiter an. Die traditionelle Armenfürsorge der Städte und die neuen karitativen Vereine des Bürgertums wurden der Massenarmut ebenso wenig Herr wie die sozialfürsorgerischen Initiativen der Kirchen. Die Staaten fühlten sich nicht zuständig und verzichteten auf eine ausgleichende Sozialpolitik.
Viele Beobachter der gesellschaftlichen Entwicklung sahen im sozialen Elend der Massen eine „Krankheit der Zeit“, gegen die es kein Mittel gäbe. Die politische Radikalisierung der Unterschichten schien sich nicht aufhalten zu lassen. So charakterisierte beispielsweise 1847 der liberale Sozialreformer Herrmann Graf zu Dohna die Lage folgendermaßen: „[…] aber der Erfolg aller Bemühungen ist nur der gewesen, daß die Noth mit jedem Jahre zugenommen hat, daß mit jedem Jahre größere Summen nöthig werden, nicht um zu heilen, sondern nur um den Schmerz zu lindern; und doch wissen wir, daß es keinen Stillstand giebt, daß wir mit solchen Mitteln eine Krisis nicht verhindern können. Das Gift des Communismus findet mit leichter Mühe seinen Eingang in einen kranken Organismus […].“
Der Beginn der Arbeiterbewegung
Verschärft wurde die Furcht der Eliten vor einem sozialen Umsturz durch eine deutliche Zunahme der sozialen Proteste und Ausschreitungen der Unterschichten in den 1830er- und 1840er-Jahren. Kollektive Gewalt oder die Zerstörung von moderner Technik in den neuen Fabriken (Maschinenstürmerei) gehörten ebenso dazu wie Unruhen aufgrund steigender Preise von Grundnahrungsmitteln. Oft handelte es sich bei solchen Lebensmittelunruhen um rückwärtsgewandte Tumulte, die im Namen eines guten alten Rechts eine „moralische Ökonomie“ (Edward P. Thompson) wiederherstellen wollten. Demnach plünderten Aufständische etwa Getreidehandlungen oder Bäckereien, um Weizen und Brot eigenmächtig auf dem Markt für einen Preis zu verkaufen, der ihnen als angemessen und damit moralisch gerechtfertigt erschien.
Massiver und gewaltsamer war der Aufstand der schlesischen Weber von 1844, der wie ein Fanal wirkte und die besitzenden Schichten in hohem Maße besorgte. Die Lage spitzte sich weiter zu, als 1846/47 eine desaströse Kartoffelkrankheit, eine Getreidemissernte und skrupellose Spekulationsgeschäfte zur letzten Hunger- und Teuerungskrise vorindustriellen Typs (Wilhelm Abel) führten, die sich freilich schon mit einem Konjunktureinbruch der jungen Industriewirtwirtschaft überlagerte.
Die guten Getreideernten von 1847 sorgten zunächst für eine Entspannung der Konflikte. Dass die Lage nicht eskalierte, ist aber ebenso darauf zurückzuführen, dass die ländlichen und städtischen Unterschichten kein übergreifendes Klassenbewusstsein und gemeinsame, kollektive Handlungsstrategien entwickelten. Selbst unter den Arbeitern der Fabriken, die seit den 1840er-Jahren zunehmend als Proletariat bezeichnet wurden, lassen sich allenfalls Ansätze zur Bildung einer eigenständigen Bewegung ausmachen.
Getragen wurde die frühe Arbeiterbewegung des Vormärz vor allem von Handwerkergesellen, die sich zunehmend als „Arbeiter“ verstanden und die „überlieferte Handwerkerehre mit dem Ehrbewusstsein“ verbanden, „in der Gemeinschaft der Arbeiter an der Spitze aller Armen und Entrechteten ein neues Zeitalter im Geiste der Menschen- und Bürgerrechte herbeiführen zu wollen“
Im "Kommunistischen Manifest" von 1848 haben Karl Marx und Friedrich Engels ihre Ideen zur Veränderung der Gesellschaft niedergeschrieben. (© ZB - Fotoreport)
Im "Kommunistischen Manifest" von 1848 haben Karl Marx und Friedrich Engels ihre Ideen zur Veränderung der Gesellschaft niedergeschrieben. (© ZB - Fotoreport)
Zu den Organisationen, die im Ausland aktiv waren, gehörte der „Bund der Kommunisten“, für den Karl Marx und Friedrich Engels das programmatische „Manifest der Kommunistischen Partei“ verfassten und 1848 noch vor dem Beginn der Revolution veröffentlichten. Zwar forderten Marx und Engels, dass die revolutionäre Überwindung des kapitalistischen Systems von der „Klasse der modernen Arbeiter“
Mit dem „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ wurde 1863 in Leipzig auf Betreiben von Ferdinand Lassalle eine eigenständige sozialistische Partei der Arbeiterklasse gegründet. In der „Gesellschaft im Aufbruch“ (Wolfram Siemann) der 1850er- und 1860er-Jahre hatte sich in Deutschland der für die moderne und industrielle Welt typische Klassenkonflikt von Arbeiterschaft und Bürgertum rasch weiter entfaltet.