Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Sozialgeschichte Mitte des 19. Jahrhunderts | Die Revolution von 1848/49 | bpb.de

Revolution 1848 Der Wiener Kongress und die Restaurationszeit Der deutsche Vormärz Die Revolutionen von 1848/49 Demokratiegeschichte Volk und Nation Verfassungs- und Staatsgeschichte Wirtschaftsgeschichte Sozialgeschichte Internationale Mächteordnung Kunst, Literatur und Kultur des frühen 19. Jahrhunderts Carl Schurz Louise Otto-Peters Robert Blum Redaktion

Sozialgeschichte Mitte des 19. Jahrhunderts

Thomas Kroll

/ 12 Minuten zu lesen

Die Revolution von 1848/49 überwand letzte feudale Hindernisse der gesellschaftlichen Modernisierung. Sie machte den Weg frei für eine rasante Industrialisierung und die umfassende Durchsetzung des Agrarkapitalismus. Zudem beschleunigte sie das Aufkommen einer Klassengesellschaft.

"Königsmarckhütte - Die Belegschaft des Hochofens III", Zabrze (ehem. Hindenburg, Oberschlesien). Foto um 1890. (© picture-alliance/akg)

In den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts kam es in Deutschland zu tiefgreifenden sozialen Umwälzungen. Die traditionale Ständeordnung löste sich nach und nach auf, in den Staaten des Deutschen Bundes formierte sich eine moderne bürgerliche Gesellschaft. In der Epoche der Restauration und des Vormärz (1815-1847) lassen sich bereits zahlreiche Ansätze für diesen langfristigen und spannungsreichen Übergang zur „Moderne“ ausmachen. Weitere wichtige Impulse setzte die Revolution von 1848/49.

Obwohl es den Revolutionären nicht gelang, einen deutschen Nationalstaat mit einer liberalen Verfassungsordnung zu schaffen, lässt sich die Revolution aus sozialgeschichtlicher Perspektive durchaus als ein „Markstein“ betrachten. Denn die Revolution überwand letzte feudale Hindernisse der gesellschaftlichen Modernisierung und machte den Weg frei für eine rasante Industrialisierung ab den 1850er-Jahren und die umfassende Durchsetzung des Agrarkapitalismus. Die Revolution beschleunigte insofern das Aufkommen einer Klassengesellschaft. Mit der Klassenbildung verschärften sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zudem die Geschlechterdifferenzen.

Allerdings weisen die klassengesellschaftlichen Strukturen in Deutschland vor der Reichsgründung von 1871 noch beträchtliche regionale und lokale Unterschiede auf, so dass man für diese Epoche nur mit Vorbehalten von „einer deutschen Gesellschaft“ sprechen kann.

Modernisierung

Angetrieben wurde der Wandlungsprozess von unterschiedlichen Faktoren, die in ihrem Zusammenspiel eine große Dynamik entfalteten. Eine besondere Bedeutung kam den Reformen zu, mit denen die deutschen Monarchen und ihre Beamtenstaaten in den Jahrzehnten um 1800 auf die Herausforderung der Französischen Revolution und die militärische Niederlage gegen das Kaiserreich Napoleons I. reagierten.

Diese „Reformen von oben“ hat Hans-Ulrich Wehler treffend als „defensive Modernisierung“ charakterisiert, weil sie zwar in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Wirtschaft und Gesellschaft in Bewegung brachten, aber zugleich eine umfassende Liberalisierung der Verfassungsordnung vermieden. In Preußen etwa setzte eine Reformbürokratie, die von der wirtschaftsliberalen Idee des freien Marktes getragen wurde, die Gewerbefreiheit (1810/11) und Reformen der Agrargesellschaft (1807-1821) durch. Auf diesem Wege wurden ständisch-rechtliche Bindungen nach und nach beseitigt, so dass die Menschen fortan dem freien Arbeitsmarkt individuell als „Erwerbspersonen“ zu Verfügung standen.

Daneben wurden die feudalen Bindungen für den Grundbesitz aufgehoben, ein tendenziell freier Bodenmarkt etabliert und die Bildung einer Marktgesellschaft von Eigentümern mit individuellen Besitzrechten in die Wege geleitet. Im Ergebnis legte dieser Prozess, der als Dekorporierung der ständischen Ordnung bezeichnet werden kann, in Preußen (mit Verzögerungen in anderen deutschen Staaten) die Grundlagen für eine kapitalistische Entwicklung von Gewerbe, Industrie und Landwirtschaft.

Das Aufkommen der kapitalistischen Marktwirtschaft in den Jahrzehnten nach dem Wiener Kongress von 1815 zählt neben den Reformen zu den besonders wirkungsmächtigen „Kräfte[n] der Veränderung“. Das zeigte sich zunächst an der Landwirtschaft, die in einigen Regionen bereits im frühen 19. Jahrhundert agrarkapitalistische Züge annahm und ihre Produktion enorm ausweitete.

Zurückzuführen ist dieser auch als „Agrarrevolution“ bezeichnete Entwicklungsschub allerdings nicht nur auf die Impulse der sogenannten Bauernbefreiung oder anderer staatlicher Reformwerke, sondern ebenso auf die Rationalisierung der Anbaumethoden, die Einführung neuer Agrartechniken und die erhebliche Erweiterung der landwirtschaftlichen Anbauflächen (insbesondere in den ostelbischen Provinzen Preußens).

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts blieb Deutschland ein vorwiegend von der Agrarwirtschaft geprägtes Land. Die Industrialisierung setzte zwar in einigen traditionellen Gewerberegionen (etwa im Rhein-Main-Gebiet, in Sachsen oder im Bergischen Land) bereits in den 1830er- und 1840er-Jahren ein, doch nahm sie erst seit den 1850er-Jahren rasant an Fahrt auf. Der Eisenbahnbau sowie die Schwer- und Metallindustrie spielten in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle.

Der Strukturwandel der Gesellschaft hängt nicht zuletzt maßgeblich mit einem auf Geburtenüberschuss beruhenden, immensen Bevölkerungswachstum zusammen. Begonnen hatte diese Entwicklung bereits Mitte des 18. Jahrhunderts, doch in den Jahrzehnten nach dem Wiener Kongress nahm die Bevölkerung außerordentlich schnell zu. Die Zahl der in Deutschland lebenden Menschen stieg zwischen 1816 und 1870 von 24,8 auf 40,8 Millionen an.

Ohne die Steigerung der Agrarproduktion und die zunehmenden Beschäftigungsmöglichkeiten in der Landwirtschaft und im kapitalistisch organisierten Heimgewerbe der ländlichen Regionen (vor allem Garnspinnerei und Weberei), wäre dieser Wandel nicht denkbar gewesen. Zugleich trieb die Bevölkerungszunahme jedoch wiederum die dynamische Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung an.

Von der Ständeordnung zur Klassengesellschaft

Diese Transformation führte in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts zu einer „marktwirtschaftlichen Umorganisation der Gesellschaft“. Die Struktur der sozialen Schichtung in Deutschland wandelte sich erheblich. Der Übergang von einer ständischen Ordnung, in der die Stellung sozialer Gruppen durch Tradition und Rechtsstatus festgelegt wurde, hin zu einer Klassengesellschaft, deren Aufbau sich durch die Macht des kapitalistischen Marktes bestimmte, war allerdings fließend.

Bis zu den 1860er-Jahren wurde dieser Prozess nirgends vollständig abgeschlossen. Dennoch stieg seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert das Bürgertum auf und etablierte sich, wie Thomas Nipperdey es formulierte, als das „eigentliche Tiefenphänomen“ der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Obwohl das Bürgertum in Deutschland vielfältige regionale Varianten aufwies, wurde es überall zur dominierenden gesellschaftlichen Kraft. Diese Tendenz des gesellschaftlichen Wandels brachte der Journalist und Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl in den Jahren nach der Revolution von 1848/49 auf den Punkt: „Das Bürgerthum ist unstreitig in unseren Tagen im Besitze der überwiegenden materiellen und moralischen Macht. Unsere ganze Zeit trägt einen bürgerlichen Charakter. […] Viele nehmen Bürgerthum und moderne Gesellschaft für gleichbedeutend.“

Allerdings war das Bürgertum keine sozial einheitliche Klasse, denn es bestand aus recht unterschiedlichen Gruppen. Zu nennen ist zunächst das traditionelle Stadtbürgertum ständischen Ursprungs, dem einflussreiche, alte Kaufmannsfamilien ebenso wie Handwerksmeister angehörten. Besonders großen Einfluss entfaltete das neue Bildungsbürgertum, das seine Identität aus humanistischer Kultur oder moderner Wissenschaft schöpfte und dank seiner Bildungsdiplome das (zumeist verbeamtete) Personal in Staatsverwaltung, Universitäten und Schulen stellte. Aus dem Bildungsbürgertum kamen ferner die Freiberufler (namentlich Ärzte oder Anwälte) sowie die gesellschaftskritische Intelligenz der Schriftsteller und Journalisten der 1830er- und 1840er-Jahre.

Das Bildungsbürgertum betrachtete sich, so fasst es Hans-Werner Hahn zusammen, als „Vorhut einer neuen sozialen Ordnung“, welche die ständische Gesellschaft überwinden sollte. Als dritte Gruppe ist schließlich das Groß- und Wirtschaftsbürgertum anzuführen, also die Bourgeoisie im eigentlichen Sinne, der die neuen Industrieunternehmer zuzurechnen sind. Für den späten Vormärz lässt sich beispielsweise Alfred Borsig nennen, dessen Maschinenfabrik seit 1841 in Berlin Lokomotiven herstellte. Viele dieser risikobereiten Aufsteiger kamen seit den 1850er-Jahren zu enormem Reichtum und gewannen im Laufe der Industrialisierung mehr und mehr an sozialer Anerkennung.

Gemeinsam war den verschiedenen Gruppen des Bürgertums die liberale Utopie einer „bürgerlichen Gesellschaft“, in der Staatsbürger über gleiche Rechte verfügten und ihre Angelegenheiten in Wirtschaft und Gesellschaft prinzipiell ohne Einmischung des Staates frei regelten. Dementsprechend bildete das Bürgertum die hauptsächliche Trägerschicht der Bewegung des Liberalismus, dessen Kernforderung in der Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungsprozessen des monarchischen Staates durch eine moderne Verfassung bestand.

Politisierung der bürgerlichen Gesellschaft

Die Idee der bürgerlichen Gesellschaft drückte sich zudem in der Gründung von Vereinen und Assoziationen aus, mit denen sich gleichberechtigte Individuen freiwillig zusammenschlossen, um gemeinsame Ziele zu verfolgen. Das Vereinswesen war äußerst vielfältig und reichte von beruflichen Interessenverbänden, karitativen oder Gewerbevereinen bis zu hin Sänger- oder Turnerbünden. Da im Deutschen Bund die Bildung von politischen Vereinen im Vormärz untersagt und damit die Bildung von Parteien blockiert wurde, eröffneten Vereine eine Möglichkeit zur verdeckten politischen Organisation und Betätigung.

Für den Prozess der Politisierung der bürgerlichen Gesellschaft war seit den 1830er-Jahren überdies die Herausbildung einer „öffentlichen Meinung“ von großer Relevanz. Die repressive Gesetzgebung des Deutschen Bundes konnte das Aufkommen einer modernen Meinungspresse nicht vollkommen unterdrücken. Trotz Zensur erschienen viele Zeitschriften und Zeitungen, die von immer professionelleren Journalisten verfasst wurden und schon im Vormärz ein umfangreiches Publikum erreichten.

Diese „Leserevolution“ erscheint umso wichtiger, als die Analphabetenrate in Deutschland (zuerst in den protestantischen Gebieten) deutlich zurückging und aus den Deutschen, weit über die Grenzen der gebildeten Oberschichten hinaus, ein „Volk von Lesern“ wurde. Der Mobilisierung der Volksmassen, die sich seit den 1830er- und 1840er-Jahren abzeichnete, standen die bürgerlichen Gruppen allerdings mit großem Misstrauen gegenüber. Sie grenzten sich nämlich nicht nur gegenüber dem alten, überwiegend konservativen Adel ab, der ihnen als Bastion der überkommenen Ständeordnung galt, sondern vor allem von den Unterschichten. Diese wurden von den besitzenden Eliten als Gefahr für die soziale Ordnung wahrgenommen. Das hing nicht zuletzt damit zusammen, dass die unterbürgerlichen und unterbäuerlichen Schichten, die sozial und regional sehr differenziert waren, im frühen 19. Jahrhundert enorm wuchsen.

In der Stadt wie auf dem Land konnten sie über 50 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Die „unterste[…] Klasse der bürgerlichen Gesellschaft“ bestand, so stellte es bereits 1831 Freiherr Karl vom Stein dar, „in den Städten aus dem heimatlosen, eigentumlosen Pöbel, auf dem Land aus der Klasse der kleinen Kötter, Brinksitzer, Neubauern, Einlieger, Heuerlinge. Sie hegt und nährt in sich den Neid und die Habsucht, die überhaupt die verschiedenen Abstufungen in der bürgerlichen Gesellschaft erzeugen“. Die Expansion der Bevölkerung stellte ein hochbrisantes soziales Problem dar, weil nun der größte Teil der Unterschichten auf Dauer kein Auskommen mehr fand und das Massenelend zu einem strukturellen Problem der Gesellschaft wurde.

Die soziale Frage

Die Krise des „Pauperismus“, die Mitte der 1840er-Jahre ihren Höhepunkt erreichte und in der bürgerlichen Öffentlichkeit breit diskutiert wurde, ist auf eine ganze Reihe von Ursachen zurückzuführen. Zunächst lässt sich die Krise in die Kontinuität der Geschichte der Armut der vorindustriellen Gesellschaft einordnen. Die Nahrungsmittelproduktion hielt in den 1830er-Jahren nicht mehr mit dem Bevölkerungswachstum Schritt, so dass die Lebensmittel knapp und derart teuer wurden, dass sich die Unterschichten nicht mehr ausreichend zu ernähren vermochten.

Zudem brachen auf dem Land zahlreiche Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten weg, weil die in Familienverband betriebene Heimarbeit im Bereich der Textilproduktion der Konkurrenz kostengünstiger Massenprodukte aus Großbritanniens nicht standhalten konnte und, wie etwa in Schlesien oder Ostwestfalen, unaufhaltsam niederging. Forciert wurden die Krise ferner durch die Überbesetzung des Handwerks in den Städten und in der ländlichen Gesellschaft. Die aufgrund der Gewerbefreiheit massiv steigende Zahl von Gesellen und allein wirtschaftenden Meistern sorgte für strukturelle Unterbeschäftigung und sinkende Einkommen, die zahllosen Familien Armut und Hunger brachten.

Die Arbeiterinnen und Arbeiter der nun langsamen aufkommenden Fabriken der Industrie lebten gleichermaßen unter elenden Bedingungen, die Friedrich Engels 1845 in seiner Schrift „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ eindrücklich dargestellt hatte. Zahlreiche Gesellschaftsanalysen aus der Zeit des Vormärz machten in der Frühindustrialisierung die eigentliche Ursache der Massenarmut aus. Dagegen hat die sozialhistorische Forschung nachgewiesen, dass die zunehmende Industrialisierung auf lange Sicht eine Lösung für die Krise des Pauperismus war. In den Fabriken der enorm wachsenden Städte fanden die Unterschichten in den 1850er- und 1860er-Jahren neue Arbeitsplätze. Damit verbesserte sich langfristig ihre Versorgungslage und materielle Lebenssituation.

Die gebildeten und vermögenden Klassen der 1840er Jahre vermochten diese Entwicklungschancen noch nicht zu erkennen und schätzten die gesellschaftliche Lage äußerst pessimistisch ein. Die Zahl der Armen wuchs nämlich trotz der ersten Auswanderungswellen nach Nordamerika weiter an. Die traditionelle Armenfürsorge der Städte und die neuen karitativen Vereine des Bürgertums wurden der Massenarmut ebenso wenig Herr wie die sozialfürsorgerischen Initiativen der Kirchen. Die Staaten fühlten sich nicht zuständig und verzichteten auf eine ausgleichende Sozialpolitik.

Viele Beobachter der gesellschaftlichen Entwicklung sahen im sozialen Elend der Massen eine „Krankheit der Zeit“, gegen die es kein Mittel gäbe. Die politische Radikalisierung der Unterschichten schien sich nicht aufhalten zu lassen. So charakterisierte beispielsweise 1847 der liberale Sozialreformer Herrmann Graf zu Dohna die Lage folgendermaßen: „[…] aber der Erfolg aller Bemühungen ist nur der gewesen, daß die Noth mit jedem Jahre zugenommen hat, daß mit jedem Jahre größere Summen nöthig werden, nicht um zu heilen, sondern nur um den Schmerz zu lindern; und doch wissen wir, daß es keinen Stillstand giebt, daß wir mit solchen Mitteln eine Krisis nicht verhindern können. Das Gift des Communismus findet mit leichter Mühe seinen Eingang in einen kranken Organismus […].“

Der Beginn der Arbeiterbewegung

Verschärft wurde die Furcht der Eliten vor einem sozialen Umsturz durch eine deutliche Zunahme der sozialen Proteste und Ausschreitungen der Unterschichten in den 1830er- und 1840er-Jahren. Kollektive Gewalt oder die Zerstörung von moderner Technik in den neuen Fabriken (Maschinenstürmerei) gehörten ebenso dazu wie Unruhen aufgrund steigender Preise von Grundnahrungsmitteln. Oft handelte es sich bei solchen Lebensmittelunruhen um rückwärtsgewandte Tumulte, die im Namen eines guten alten Rechts eine „moralische Ökonomie“ (Edward P. Thompson) wiederherstellen wollten. Demnach plünderten Aufständische etwa Getreidehandlungen oder Bäckereien, um Weizen und Brot eigenmächtig auf dem Markt für einen Preis zu verkaufen, der ihnen als angemessen und damit moralisch gerechtfertigt erschien.

Karikatur zum Aufstand der schlesischen Weber. (© gemeinfrei)

Massiver und gewaltsamer war der Aufstand der schlesischen Weber von 1844, der wie ein Fanal wirkte und die besitzenden Schichten in hohem Maße besorgte. Die Lage spitzte sich weiter zu, als 1846/47 eine desaströse Kartoffelkrankheit, eine Getreidemissernte und skrupellose Spekulationsgeschäfte zur letzten Hunger- und Teuerungskrise vorindustriellen Typs (Wilhelm Abel) führten, die sich freilich schon mit einem Konjunktureinbruch der jungen Industriewirtwirtschaft überlagerte.

Die guten Getreideernten von 1847 sorgten zunächst für eine Entspannung der Konflikte. Dass die Lage nicht eskalierte, ist aber ebenso darauf zurückzuführen, dass die ländlichen und städtischen Unterschichten kein übergreifendes Klassenbewusstsein und gemeinsame, kollektive Handlungsstrategien entwickelten. Selbst unter den Arbeitern der Fabriken, die seit den 1840er-Jahren zunehmend als Proletariat bezeichnet wurden, lassen sich allenfalls Ansätze zur Bildung einer eigenständigen Bewegung ausmachen.

Getragen wurde die frühe Arbeiterbewegung des Vormärz vor allem von Handwerkergesellen, die sich zunehmend als „Arbeiter“ verstanden und die „überlieferte Handwerkerehre mit dem Ehrbewusstsein“ verbanden, „in der Gemeinschaft der Arbeiter an der Spitze aller Armen und Entrechteten ein neues Zeitalter im Geiste der Menschen- und Bürgerrechte herbeiführen zu wollen“. Erste, tastende Versuche zu einer Organisation der deutschen Arbeiterbewegung wurden im Vormärz in den Auslandsvereinen der Gesellen in Paris oder London unternommen. Dort verbündeten sich Vertreter des Handwerkersozialismus (wie Wilhelm Weitling) mit radikaldemokratischen Intellektuellen aus dem Bildungsbürgertum, die in den 1830er-Jahren in das Exil gehen mussten und sich mit den Theorien der französischen oder britischen Frühsozialisten auseinandersetzten.

Im "Kommunistischen Manifest" von 1848 haben Karl Marx und Friedrich Engels ihre Ideen zur Veränderung der Gesellschaft niedergeschrieben. (© ZB - Fotoreport)

Zu den Organisationen, die im Ausland aktiv waren, gehörte der „Bund der Kommunisten“, für den Karl Marx und Friedrich Engels das programmatische „Manifest der Kommunistischen Partei“ verfassten und 1848 noch vor dem Beginn der Revolution veröffentlichten. Zwar forderten Marx und Engels, dass die revolutionäre Überwindung des kapitalistischen Systems von der „Klasse der modernen Arbeiter“ ausgehen und sich dieses „Proletariat“ unter theoretischer Führung der Kommunisten unabhängig vom liberalen Bürgertum organisieren müsse, doch suchten die in der Revolution von 1848/49 vor allem in Köln wirkenden Anhänger von Marx gleichwohl den Schulterschluss mit den bürgerlich-radikalen Kräften. Dabei handelte es sich insbesondere um Demokraten, die einen republikanischen Nationalstaat anstrebten. Ähnliches gilt für die im Sommer 1848 in Berlin gegründete und weitaus einflussreichere „Arbeiterverbrüderung“, in der sich unter der Führung des Schriftsetzers Stephan Born in erster Linie Handwerkergesellen organisierten. Die „Arbeiterverbrüderung“ gilt als „erste Massenbewegung der Arbeiter“ in Deutschland, allerdings war sie noch keine „Klassenbewegung“. Zu einer endgültigen politischen Trennung von liberalem Bürgertum und Arbeiterschaft kam es erst im Jahrzehnt vor der Gründung des Deutschen Kaiserreichs während des Durchbruchs der Industrialisierung.

Mit dem „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ wurde 1863 in Leipzig auf Betreiben von Ferdinand Lassalle eine eigenständige sozialistische Partei der Arbeiterklasse gegründet. In der „Gesellschaft im Aufbruch“ (Wolfram Siemann) der 1850er- und 1860er-Jahre hatte sich in Deutschland der für die moderne und industrielle Welt typische Klassenkonflikt von Arbeiterschaft und Bürgertum rasch weiter entfaltet.

Quellen / Literatur

Weiterführende Literatur



  • Brandt, Hartwig, Europa 1815-1850. Reaktion – Konstitution – Revolution, Stuttgart 2002.

  • Eke, Norbert Otto (Hrsg.), Vormärz-Handbuch, Bielefeld 2020.

  • Gall, Lothar, Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 25, 2., aktualisierte Auflage 2012.

  • Geisthövel, Alexa, Restauration und Vormärz 1815-1847, Paderborn/München/Wien/Zürich 2008.

  • Hahn, Hans-Werner/Berding, Helmut, Reformen, Restauration und Revolution 1806-1848/49, Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Band 14, Zehnte, völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 2010.

  • Hardtwig, Wolfgang, Vormärz. Der monarchische Staat und das Bürgertum, 3. Auflage, München 1993.

  • Kocka, Jürgen, Kampf um die Moderne. Das lange 19. Jahrhundert in Deutschland, Stuttgart 2021.

  • Kocka, Jürgen (unter Mitarbeit von Jürgen Schmidt), Arbeiterleben und Arbeiterkultur, Bonn 2015.

  • Lenger, Friedrich, Industrielle Revolution und Nationalstaatsgründung (1849-1870er Jahre), Gebhard Handbuch der deutschen Geschichte, Band 15, Zehnte, völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 2003.

  • Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, Zweite Auflage, 1984.

  • Prass, Reiner, Grundzüge der Agrargeschichte, Band 2: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Beginn der Moderne (1650-1880), Köln/Weimar/Wien 2016.

  • Schmidt, Jürgen, Brüder, Bürger und Genossen. Die deutsche Arbeiterbewegung zwischen Klassenkampf und Bürgergesellschaft 1830-1870, Bonn 2018.

  • Siemann, Wolfram, Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806-1871, München 1995.

  • Siemann, Wolfram, Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849-1871, Frankfurt am Main 1990.

  • Wehler, Dans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Erster Band: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815, München 1987.

  • Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Zweiter Band, Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815-1845/49, München 1987.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Charles Morazé, Das Gesicht des 19. Jahrhundert. Die Entstehung der modernen Welt, Düsseldorf/Köln 1959, S. 207, 245.

  2. Jürgen Kocka, Kampf um die Moderne. Das lange 19. Jahrhundert in Deutschland, Stuttgart 2021, S. 69.

  3. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815, München 1987.

  4. Werner Conze, Sozialer und Wirtschaftlicher Wandel, in: Kurt G.A. Jeserich u.a. (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1983, S. 19-56, hier, S. 26.

  5. Jürgen Kocka, Ökonomische und soziale Entwicklungen in Deutschland. Vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, in: Thomas Meyer/ Susanne Miller/ Joachim Rohlfes (Hrsg.), Lern- und Arbeitsbuch deutsche Arbeiterbewegung, Bd. I, 2, 2. Auflage, Bonn 1988, S. 9-37, S. 11.

  6. Josef Ehmer, Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1800-2000, München 2004, S. 9, 17.

  7. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Zweiter Band, Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815-1845/49, München 1987, S. 143.

  8. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, Zweite Auflage, 1984, S. 400.

  9. Wilhelm Heinrich Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft, 6. Auflage, Stuttgart 1861, S. 245-246.

  10. Hans-Werner Hahn/Helmut Berding, Reformen, Restauration und Revolution 1806-1848/49, Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 14, Zehnte, völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 2010, S. 292.

  11. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 587.

  12. Werner Conze, Vom „Pöbel“ zum „Proletariat“. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 41 (1954), H.4, S. 333-364, S. 347; Hahn/ Berding, S. 170.

  13. Stein „An die Herren Abgeordneten des 3. und 4. Standes“, Münster, 14. Januar 1831, in: Freiherr vom Stein, Briefe und amtliche Schriften, Siebenter Band, neu bearbeitet von Alfred Hartlieb von Wallthor, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1969, S. 1028-1030, hier S. 1030.

  14. Jürgen Kocka (unter Mitarbeit von Jürgen Schmidt), Arbeiterleben und Arbeiterkultur, Bonn 2015, S. 104-112.

  15. Herrmann Graf zu Dohna, Die freien Arbeiter im Preußischen Staate, Leipzig, 1847, S. 1.

  16. Werner Conze, Arbeiter, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 1, Stuttgart 1972, S. 216-242, hier S. 228.

  17. Manifest der Kommunistischen Partei, in: Karl Marx, Die Frühschriften, hrsg. von Siegfried Landshut, Stuttgart 1971, S. 525-560, hier S. 532.

  18. Friedrich Lenger, Sozialgeschichte der deutschen Handwerker seit 1800, Frankfurt am Main 1988, S. 84.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

Weitere Inhalte

Thomas Kroll ist Professor für Westeuropäische Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. die Sozial- und Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie die Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung.