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Die Wirtschaft Mitte des 19. Jahrhunderts | Die Revolution von 1848/49 | bpb.de

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Die Wirtschaft Mitte des 19. Jahrhunderts

Ulrich Pfister

/ 11 Minuten zu lesen

Die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands in der Mitte des 19. Jahrhunderts war durch den Wandel der Landwirtschaft, die beginnende Industrialisierung und die zunehmende wirtschaftspolitische Integration geprägt.

Eine zeitgenössische Karikatur über den Deutschen Zollverein, der am 1. Januar 1834 in Kraft trat. Der Zollverein sollte Handelsgrenzen und Zölle zwischen den deutschen Staaten überflüssig machen. (© picture alliance / akg-images)

Die Revolution von 1848 war in dreierlei Hinsicht in wirtschaftliche Vorgänge eingebettet: Erstens stand sie – wie schon die Revolution von 1830 – in engem Zusammenhang mit einer Ernährungskrise. Ernteausfälle in den Jahren 1845 und 1846 verteuerten Grundnahrungsmittel. Zudem verschlechterte der aus dem Produktionseinbruch in der Landwirtschaft folgende Rückgang der Aktivität im verarbeitenden Gewerbe in den Folgejahren die Einkommenssituation derjenigen, die außerhalb der Landwirtschaft beschäftigt waren. Die Wirtschaftskrise verschärfte politische Spannungen; die europäischen Länder, in denen die Ernährungskrise weniger schwerwiegend war, erfuhren 1848 auch keine Revolution.

Zweitens erfolgte die Revolution von 1848 im Umfeld der beginnenden Industrialisierung. Punktuell wurde die Revolution von Protestaktionen gewerblicher Arbeiter begleitet. 1848 erschien unter anderem das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels. Drittens kreuzten sich in der Revolution von 1848 politische und wirtschaftliche Integration. Der einzige Beschluss der Frankfurter Nationalversammlung, der auch nach der Revolution seine Rechtskraft behielt, war die Verabschiedung einer Allgemeinen Deutschen Wechselordnung.

Strukturwandel und Wirtschaftswachstum

Über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus war Deutschland ein landwirtschaftlich geprägtes Land. Um 1800 waren etwa zwei Drittel der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig, 1850 etwa 55 Prozent, 1870 immer noch die Hälfte. Entsprechend lebte der überwiegende Teil der Bevölkerung auf dem Land. Um 1800 machten Städte mit mindestens 5000 Einwohnern nur ein Zehntel der deutschen Bevölkerung aus, 1850 immerhin schon 17 und 1870 24 Prozent. Eine rasche Urbanisierung, die auch die modernen Großstädte hervorbrachte, erfolgte erst im letzten Viertel des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts.

Das hohe Gewicht der Landwirtschaft spiegelt sich im Sachverhalt wider, dass Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein vergleichsweise armes Land war. Zwar stieg die Wirtschaftsleistung pro Kopf schon in dieser Zeit allmählich an, aber erst um 1880 stellte sich ein mit heutigen Verhältnissen vergleichbares Wirtschaftswachstum ein, das den Lebensstandard der breiten Bevölkerung deutlich über das im vorindustriellen Zeitalter herrschende Niveau steigerte. Angesichts des niedrigen Einkommens gaben Haushalte um die Mitte des 19. Jahrhunderts im Durchschnitt schätzungsweise etwa zwei Drittel ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus; heute sind es noch gut ein Achtel. Diese Situation trug dazu bei, dass die deutsche Bevölkerung bis in die 1850er Jahre anfällig für Ernährungskrisen blieb.

Durch ungünstige Witterung verursachte Ernteausfälle führten dazu, dass kleinbäuerliche Haushalte ihren Bedarf an Getreide nicht mehr durch Eigenproduktion decken konnten. Die auf geringe Ernten folgenden Preissteigerungen erschwerten es vielen Haushalten, ausreichend Grundnahrungsmittel zu kaufen. Allerdings hatten sich die Folgen von Ernteausfällen beim Brotgetreide (damals vor allem Roggen, sekundär Weizen) bereits in den 1810er Jahren erheblich abgeschwächt. Bis zu jener Zeit folgte auf geringe Ernten jeweils eine starke Zunahme der Sterbefälle und die Zahl an Geburten verringerte sich, so dass die Bevölkerung schrumpfte. Ab den späten 1810er Jahren gingen Getreidepreissteigerungen auf nationaler Ebene dagegen nur noch mit einem geringfügigen Anstieg der Sterbefälle einher. In den stark agrarisch geprägten, vergleichsweise besonders armen Gebieten im Nordosten Deutschlands gab es allerdings noch bis in die 1850er Jahre wiederholt Jahre mit mehr Sterbefällen als Geburten.

Agrarmodernisierung

Vier Vorgänge (Agrarmodernisierung, Agrarreformen, Marktintegration und verbessertes Krisenmanagement) trugen dazu bei, dass Ernährungskrisen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Vergleich zu früher weniger gravierend waren. Erstens die sogenannte Agrarmodernisierung, die in der Optimierung der Stoffkreisläufe und der intensiveren Nutzung des verfügbaren Bodens bestand. Beides wurde dadurch unterstützt, dass als Folge eines kräftigen Bevölkerungswachstums (0,4 Prozent pro Jahr) die verfügbare Arbeitskraft anstieg.

Konkret wurden Rinder seltener auf die Weide getrieben und über den größten Teil des Jahres im Stall gehalten. Dies setzte die Gewinnung von Heu auf Wiesen und den Anbau von Futterpflanzen, vor allem von Klee, voraus. Im Stall konnten Jauche und Mist gesammelt und gezielt als Dünger auf Ackerflächen ausgebracht werden. Darüber hinaus wurde die Nährstoffversorgung des Bodens dadurch verbessert, dass Klee zusammen mit Leguminosen (vor allem Erbsen und Bohnen) Stickstoff binden.

Als Folge konnte die bisherige Praxis, Ackerland periodisch brach liegen zu lassen, aufgegeben und zu einer permanenten Bodennutzung übergegangen werden. Schließlich erlaubte die Verbreitung des Kartoffelanbaus die pro Flächeneinheit erzeugte Menge an Nahrungsmitteln deutlich zu steigern.

In ihrer Gesamtheit ermöglichte die erste Agrarmodernisierung die Ernährung einer wachsenden Bevölkerung, die zudem vermehrt außerhalb der Landwirtschaft beschäftigt war. Sie machte darüber hinaus die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln weniger anfällig für Witterungsschwankungen. Insbesondere reagiert die Kartoffel anders auf Wetterbedingungen als Getreide, so dass der Ertrag des Kartoffelanbaus Schwankungen der Getreideernte abfedern konnte. Allerdings waren die Jahre unmittelbar vor der Revolution von 1848 insofern außergewöhnlich, als eine Kartoffelkrankheit mit schlechten Getreideernten zusammenfiel.

Agrarreformen

Zweitens ist auf die sogenannten Agrarreformen zu verweisen, die in den 1810er-Jahren einsetzten und vor allem in dem östlich der Elbe gelegenen Teil des Königreichs Preußen schon in den 1830er- und 1840er-Jahren eine erhebliche Breitenwirkung entfalteten. In den übrigen Teilen Deutschlands gewannen sie meist erst ab den 1840er-Jahren an Dynamik und waren erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts abgeschlossen.

Die Revolution von 1848 beschleunigte vor dem Hintergrund bäuerlichen Drucks den Abschluss des einschlägigen Gesetzgebungsprozesses in Preußen und Sachsen und veranlasste in Bayern und Württemberg, dass zentrale Reformmaßnahmen erlassen wurden. Die Agrarreformen änderten zum einen die Besitzrechte und die persönlichen Rechte der Bauern. Leibeigenschaft, soweit sie noch bestand, wurde abgeschafft, so dass alle erwachsenen männlichen Landbewohner zu mündigen Staatsbürgern wurden. Bauern wurden zu alleinigen Besitzern des von ihnen bewirtschafteten Landes; bisherige Lasten wurden käuflich abgelöst, wobei sich die damit verbundenen Zahlungen oft ins späte 19. Jahrhundert erstreckten.

Zum anderen trugen die Agrarreformen zum Abbau genossenschaftlicher Nutzungsformen zugunsten der Ausweitung des individuellen Spielraums bei der Bewirtschaftung eines Betriebs bei. Gemeindeland wurde verteilt, Streubesitz durch sogenannte Verkoppelungen konsolidiert und Wegerechte beseitigt, die über Äcker führten und den Nutzungsspielraum der Besitzer einschränkten. Dadurch erleichterten die Agrarreformen die Verbreitung der Agrarmodernisierung.

Marktintegration

Drittens wurden die negativen Folgen von Ernteausfällen durch Marktintegration abgeschwächt. Das bedeutet, dass sich die Preise eines Produkts – hier vor allem Getreidepreise – zwischen verschiedenen Städten einander anglichen und in einer Region auftretende Preisschocks rascher absorbiert wurden. An einem Ort herrschende Defizite an Nahrungsmitteln wurden somit vermehrt durch Importe aus Überschussgebieten ausgeglichen. Zudem wandelte sich Deutschland ab den 1860er-Jahren im Zuge der Globalisierung von einem Exporteur von Agrargütern zu einem wichtigen Getreideimporteur. In der Folge steigender Getreideimporte vor allem aus Amerika sanken die Preise von Grundnahrungsmitteln im Vergleich zu anderen Bedarfsgütern und schwankten auch deutlich weniger als bisher. Marktintegration wurde einerseits durch die Verbesserung der Transportinfrastruktur vorangetrieben. Ab den 1810er-Jahren verbilligte zunächst der Bau von befestigten und gepflasterten Staatsstraßen, ab den 1840er-Jahren der Eisenbau die Kosten des Transports von Massengütern. Andererseits wurde Marktintegration durch institutionelle Veränderungen, die den Handel erleichterten, unterstützt.

Krisenmanagement

Schließlich verbesserte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts das Krisenmanagement durch staatliche Behörden und regionale Eliten. Die Folgen von Ernteausfällen und hohen Nahrungsmittelpreisen wurden durch organisierte Getreideimporte, verbilligte Abgaben von Nahrungsmitteln, Mildtätigkeit und Beschäftigungsprogramme abzufedern versucht. Teilweise geschah dies als Reaktion auf Hungerrevolten beziehungsweise auf Bemühungen, solche zu vermeiden.

Aus der Frühen Neuzeit sind aus Deutschland fast keine Hungerrevolten bekannt; zwischen 1795 und den 1840er Jahren fanden jedoch durchaus welche statt. Das regionale Protestpotential hatte einen Einfluss auf den Umfang von Hilfsmaßnahmen: In der Ernährungskrise von 1845–1847 waren sie im Rheinland deutlich breiter als in den nordöstlichen Teilen des Königreichs Preußen. Im Rheinland bildeten Industrieunternehmer bereits einen wichtigen Teil der Elite und Arbeiterprotest bedrohte ihre Geschäftstätigkeit, so dass sich sie aktiv an Unterstützungsmaßnahmen beteiligten.

Im agrarisch geprägten Nordosten Preußens war dies nicht der Fall, so dass in viel geringerem Umfang Gegenmaßnahmen gegen die Ernährungskrise ergriffen wurden. Obwohl die deutsche Wirtschaft um diese Zeit noch überwiegend agrarisch geprägt war, bildete somit das regional sehr unterschiedlich entwickelte verarbeitende Gewerbe bereits ein wichtiges Strukturmerkmal.

Beginn der Industrialisierung

Gewerbliche Aktivitäten, die eine umfangreiche Arbeitskraft für die Erzeugung von Manufakturwaren mobilisierten und auf überregionalen Märkten abgesetzt wurden, gab es schon lange vor dem 19. Jahrhundert. Mit der Industrialisierung gewann Festkapital in der gewerblichen Produktion an Bedeutung: Arbeitskräfte nutzten vermehrt technisch komplexe Arbeitsmaschinen, die ihrerseits von Kraftmaschinen (zunächst Wassermühlen, zunehmend Dampfmaschinen) angetrieben wurden.

Da diese Maschinen teuer waren und Kraftmaschinen eine Vielzahl von Arbeitsmaschinen versorgten, standen sie nicht in den Haushalten der Gewerbetreibenden, sondern in zentralen Betriebsstätten, den sogenannten Fabriken, die Eigentum von Unternehmern waren. Der gewerbliche Arbeitsplatz verlagerte sich dadurch von der häuslichen Umgebung in die Fabrik, wo Arbeitszeit und Arbeitsrhythmus einheitlich geregelt waren. Angesichts der gestiegenen technischen Komplexität von gewerblichen Produktionsprozessen erlangte technologischer Fortschritt im Wirtschaftswachstum eine wachsende Bedeutung.

Die staatlichen Regierungen trugen diesem Sachverhalt durch einen Ausbau des Bildungswesens Rechnung. Neben einer teilweise auch politisch motivierten Verbesserung des Grundschulwesens schufen sie insbesondere weiterführende Bildungsanstalten im technischen Bereich. So wurde 1821 in Berlin ein Gewerbeinstitut, 1825 in Karlsruhe ein Polytechnikum gegründet. In den 1860er Jahren erwuchsen aus diesen und anderen Einrichtungen die heutigen Technischen Hochschulen.

Gegenüber Großbritannien, Belgien, Nordfrankreich und der Schweiz war Deutschland allerdings ein industrieller Nachzügler. Die anfänglich geringe Marktintegration begrenzte den Markt für industrielle Erzeugnisse. Da Arbeitskräfte und – im metallverarbeitenden Gewerbe wichtig – Brennholz reichlich verfügbar waren, bestanden auch wenig Anreize, Arbeitskräfte durch Maschineneinsatz einzusparen und in der Eisenverhüttung Holz durch Steinkohle zu ersetzen. Während die Industrialisierung in den erwähnten Nachbarländern seit dem späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert rasch voranschritt, setzte sie in Deutschland nur allmählich ein.

Für die Periode von den 1810er- bis zu den 1830er-Jahren wird von einer Frühindustrialisierung gesprochen. Die im Vergleich zu anderen Arbeitskräften günstige Entwicklung der Löhne von Forst- und Bergarbeitern deutet auf eine wachsende Energieintensität des Wirtschaftswachstums bereits in dieser Zeit hin. Die Technik des Kohlebergbaus verbesserte sich schrittweise, und in der Textilbranche wurden die ersten größeren Fabriken errichtet. Jedoch erfuhr Deutschland erst von den 1840er- bis zu den 1870er-Jahren eine erste Phase rascher Industrialisierung.

Deren Merkmale unterscheiden sich deutlich von der ersten Phase der industriellen Entwicklung in anderen Ländern, insbesondere in Großbritannien. Dort stellte die mechanische Baumwollverarbeitung den führenden Industriesektor dar, während dem Kohlebergbau und der darauf aufbauenden Eisenverarbeitung eine nachgelagerte Bedeutung zukam.

In Deutschland standen dagegen der Eisenbahnbau und in Verbindung damit der Montansektor im Zentrum der ersten Phase der Industrialisierung. Zwischen den 1840er- und den 1870er-Jahren floss die Hälfte der gewerblichen Anlageinvestitionen in den Eisenbahnbau. Für Schienen und Rollmaterial war dieser auf die Montanindustrie angewiesen. Der Eisenbahnbau war deshalb ein Treiber der Übernahme neuer Techniken in der Montanindustrie.

In der Eisenverhüttung wurde Holzkohle durch Steinkohle ersetzt. Schmiedeeisen wurde statt auf dem offenen Herdfeuer in einem geschlossenen Ofen (einem sogenannten Puddelofen) gewonnen. Schmiedeeisen wurde nicht mehr mit durch Wasserkraft getriebenen Hämmern, sondern mittels durch Dampfkraftgetriebenen Walzen zu Stäben, Blechen und Profilen wie zum Beispiel Schienen verarbeitet. Die durch den technischen Wandel der Eisenverarbeitung gestiegene Nachfrage nach Steinkohle ließ schließlich Bergbaureviere – das Saarland, Oberschlesien und vor allem das Ruhrgebiet – zu wichtigen Industriestandorten heranwachsen.

Der Eisenbahnbau leistete einen wichtigen Beitrag zur Marktintegration. Von den frühen 1840er- bis in die 1870er-Jahre fielen Frachtraten um drei Viertel, was die Entstehung weiträumiger Märkte für Massengüter wie Getreide und Steinkohle förderte. Der Eisenbahnbau vertiefte die Arbeitsteilung zwischen Regionen und begünstigte die Urbanisierung. Dadurch ließen sich Nahrungsmittel aus weiteren Distanzen kostengünstig heranführen und energieintensive Verarbeitungsprozesse konnten nun in Städten konzentriert werden.

Der Eisenbahnbau trieb auch die Entwicklung des Maschinenbaus voran. Bis in die 1840er-Jahre war dieser vor allem auf die Bedürfnisse der Textilindustrie und des Bergbaus ausgerichtet. Während Lokomotiven zunächst vor allem aus Großbritannien importiert wurden, besetzten in den späten 1840er- und frühen 1850er-Jahren deutsche Maschinenbauunternehmen diesen Markt.

In der Textilverarbeitung konzentrierte sich die technische Entwicklung anfänglich auf die Mechanisierung des Verspinnens von Baumwolle, ab den 1840er-Jahren setzte auch eine Mechanisierung des Webvorgangs ein. Trotz der erwähnten Anfänge einer mechanischen Baumwollspinnerei wurde bis in die 1840er-Jahre der überwiegende Teil des in Deutschland verwobenen Baumwollgarns importiert, vor allem aus Großbritannien.

Erst ab dieser Zeit wurde die jeweils neueste Technologie adaptiert, so dass die heimische Kapazität an mechanischen Baumwollspindeln rasant wuchs. Ende der 1860er-Jahre versorgte sich Deutschland selbst mit Baumwollgarn und begann es zu exportieren. Ein regionaler Schwerpunkt lag in Sachsen, weitere Standorte bildeten sich in Schlesien, im Rheinland und im bayerischen Ostschwaben.

In den entstehenden industriellen Distrikten formierten sich neue soziale Gruppen und entstanden neue Formen der Konfliktaustragung. Industrieunternehmer verstärkten das bisher vor allem aus Kaufleuten bestehende Wirtschaftsbürgertum, das seinerseits zusammen mit Akademikern eine wichtige Basis der liberalen Bewegung bildete.

Mit der Verlagerung des verarbeiteten Gewerbes in die Fabrik entstand die Gruppe der Fabrikarbeiter. Die Arbeit am selben Ort erleichterte die Kommunikation, die neue Lebenssituation begünstigte die Entwicklung neuer Protestformen. Der Maschinensturm vernichtete Produktionsstätten, in denen Maschinen Arbeitskräfte ersetzten und damit die Lebensgrundlagen von Gewerbetreibenden bedrohten. Bekannt ist der sogenannte Weberaufstand in Schlesien 1844. Im Umfeld der Revolution von 1848 zerstörten Arbeitskräfte in Solingen Gießereien, die unter geringem Arbeitskräfteeinsatz billige Eisenwaren herstellten. Mit der Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung, einer gesamtdeutschen Vereinigung von etwa 150 lokalen Vereinen mit insgesamt etwa 15000 Mitgliedern, die von Handwerkern und gewerblichen Arbeitern getragen wurden, bildete sich überdies 1848 der erste Ansatz zu einer organisierten Arbeiterbewegung.

Zollvereine und Industriegebiete im Deutschen Bund 1828-1855. Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Wirtschaftspolitik und wirtschaftliche Integration

Auch abgesehen von den Agrarreformen griffen die am Beginn des 19. Jahrhunderts entstandenen Flächenstaaten deutlich stärker in Wirtschaft und Gesellschaft ein, als dies die territorialen Obrigkeiten des Alten Reichs getan hatten. Eines der wichtigsten Themen, die die entstehende politische Öffentlichkeit stark beschäftigten, war die Regulierung des Handels, die zugleich einen Beitrag zur Marktintegration leisten konnte.

In den ersten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatten mehrere deutsche Staaten, darunter Preußen und Bayern, ein heterogenes Sammelsurium von Binnenzöllen durch einheitliche Außenzölle ersetzt. Dies begünstigte zwar die Vertiefung von regionalen Binnenmärkten, erschwerte jedoch die für die wirtschaftliche Entwicklung ebenfalls wichtige Bildung weiträumiger Märkte. Deshalb setzten rasch Bemühungen zur überstaatlichen Integration der Handelspolitik ein, die 1834 in die Bildung des Zollvereins mündeten.

Der Zollverein war eine Zollunion mit freiem Binnenhandel und einheitlichen Außenzöllen. Deren Ausgestaltung bildete in der Folge einen wichtigen Fluchtpunkt in den Debatten einer entstehenden nationalen wirtschaftspolitischen Öffentlichkeit. In der Handelspolitik verbanden sich wirtschaftliche Integration und nationale Einigung, wie etwa die von Friedrich List verfasste Schrift "Das nationale System der Politischen Ökonomie“ von 1841 zeigt. Der Zollverein bildete auch ein wichtiger Ort weiterer überstaatlicher Integration. So harmonierte der Dresdener Münzvertrag von 1838 das Geldwesen der Mitgliedstaaten.

Allerdings existierten auch andere Foren, auf denen überstaatliche wirtschaftliche Integration vorangetrieben wurde. Der Wiener Münzvertrag von 1857 und das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch von 1861, das ein einheitliches Handelsrecht schuf, wurden im Deutschen Bund – dem Zusammenschluss deutscher Staaten von 1815 – vereinbart. Dasselbe gilt für die den Deutsch-Österreichischen Postverein und den Deutsch-Österreichischen Postverein, die die grenzüberschreitende briefliche und telegraphische Kommunikation zwischen den deutschen Staaten regelten und beide 1850 gegründet wurden.

Wie eingangs erwähnt, verabschiedete das Frankfurter Parlament 1848 eine gesamtdeutsche Wechselordnung, die die Bedingungen des bargeldlosen Zahlungsverkehrs vereinheitlichte. Viele weitere Themen wurden jedoch erst im Rahmen des Nationalstaates von 1870/71 bewältigt, darunter die Gewerbefreiheit (Reichsgewerbeordnung 1870) und der Schutz geistigen Eigentums (Patentgesetz 1877).

Das Bewusstsein für die Bedeutung der Integration wirtschaftlicher Institutionen für die wirtschaftliche Entwicklung hielt auch nach dem Scheitern der Revolution von 1848 den Druck zur nationalen Einigung aufrecht. In einem freilich völlig anderen machtpolitischen Kontext trug er zwei Jahrzehnte später zur Bildung eines Nationalstaats bei.

Weiterführende Literatur

  • Brakensiek, Stefan et al. (Hg.): Grundzüge der Agrargeschichte, 3 Bde. (Köln: Böhlau, 2016), hier Bd. 2.

  • Hahn, Hans-Werner: Geschichte des Deutschen Zollvereins (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1984).

  • Hahn, Hans-Werner: Die industrielle Revolution in Deutschland (=Enzyklopädie Deutscher Geschichte 49, München: Oldenbourg, 1998).

  • Pfister, Ulrich, Jan-Otmar Hesse, Mark Spoerer und Nikolaus Wolf: Deutschland 1871: Die Nationalstaatsbildung und der Weg in die moderne Wirtschaft (=Die Einheit er Gesellschafts-wissenschaften im 21. Jahrhundert 6, Tübingen: Mohr Siebeck, 2021).

  • Tilly, Richard H. und Michael Kopsidis: From Old Regime to Industrial State. A history of German industrialization from the eighteenth century to World War One (Chicago: University of Chicago Press 2020).

  • Ziegler, Dieter: Die industrielle Revolution (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005).

Weitere Inhalte

Ulrich Pfister ist Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Neueren und Neuesten Zeit an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u.a. die wirtschaftshistorischen Entwicklungen des 16. bis 19. Jahrhunderts.