Waren die guten Jahre der Reformation 1529 schon wieder vorbei? Am Reichstag dieses Jahres, erneut in Speyer, gaben sich die Katholiken kämpferisch. Den mehrheitlich, gegen die Anhänger Luthers, beschlossenen Reichsabschied kann man so zusammenfassen: Expansionsstop für die neue Bewegung und ihre innere Aushöhlung – wer sich bislang ans Wormser Edikt gehalten habe, müsse es weiterhin tun; bei den "andern Ständen" sei "alle weitere Neuerung biß zu künftigem Concilio" zu "verhüten"; auch in bereits evangelischen Gebieten müsse es möglich sein, die katholische Messe zu besuchen. Hiergegen verwahrten sich mit der Sache Luthers sympathisierende Reichsstände durch eine ausführliche "protestacion", die am 20. April dem Vertreter des Kaisers am Reichstag, Karls Bruder Ferdinand, überreicht wurde.
Protestiert wurde an Reichstagen häufig und gegen alles Mögliche. Die Reichstagsarbeit stand in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Majoritätsprinzip und der Auffassung, Angelegenheiten, die alle Reichsstände beträfen, seien tunlichst auch von allen zu billigen. Mit seiner "protestatio" (verdeutscht hat man das lateinische Wort meistens als "Protestation") dokumentierte ein Reichsstand, dass er einen Mehrheitsbeschluss nicht mitgetragen habe und dessen Verbindlichkeit für sich selbst bestreite. Manchmal beharrte beispielsweise dieser Reichsgraf oder jene Reichsstadt darauf, eine mehrheitlich bewilligte Reichssteuer eben trotz des Abstimmungsergebnisses nicht voll aufbringen zu können; der Reichsfiskal versuchte in solchen Fällen anschließend auf dem Verhandlungsweg doch noch zum Ziel zu kommen, der Reichsabschied war in solchen Fällen insofern nicht automatisch bindende Gesetzeslage, sondern Verhandlungsbasis.
Was war dann 1529 'so besonders'? Die "protestacion" vom 20. April 1529 wurde von einer stattlichen Gruppe von Reichsständen getragen: einem Kurfürsten nämlich und vier Fürsten (Kursachsen, Hessen, Brandenburg-Ansbach, Braunschweig-Lüneburg, Anhalt); in den nächsten Tagen schlossen sich noch 14 Reichsstädte an. Und sie argumentierte anders als sonst bei "protestationes" üblich, viel grundsätzlicher. Die "Protestanten" von 1529 warfen das bis heute immer wieder virulente Problem des Verhältnisses von Mehrheit und Wahrheit auf. Sie erklärten, in "sachen", die "gottes ere und unser jedes selen haile und seligkeit angeen", nicht "dem merern", also der Majorität der Stimmen, "gehorchen" zu wollen. Denn es müsse "in den sachen gottes ere und unser selen haile und seligkeit belangend ain jeglicher fur sich selbs vor gott steen und rechenschaft geben ..., also das sich des orts keiner auf ander minders oder merers machen oder beschließen entschuldigen" könne. Das zuletzt angeführte Zitat kann man nicht konkret genug nehmen. Die meisten damaligen Menschen hatten keine spirituell sublimierten, hatten ganz handfeste Vorstellungen davon, wie es nach dem Tod weitergehe. Ehe man in den Himmel käme, würde man, um es mit unserem Text zu sagen, "vor gott steen und rechenschaft geben" müssen. Wahrscheinlich sahen sich die damaligen Menschen im Geiste vor einer Schranke stehen, dahinter saß Petrus mit gestrenger Miene unter seinem Rauschebart. Da konnte man sich dann, um unseren Text in saloppes modernes Deutsch zu übertragen, nicht wie folgt hinausreden: "Ja, dieser Reichsabschied war eine Riesensauerei – aber ich wurde eben leider überstimmt, da kann man nichts machen."
In für den Glauben relevanten Dingen muss sich die Minderheit nicht der Mehrheit beugen: Diese 1529 artikulierte Ansicht wird aus zwei Gründen folgenreich sein. Zum einen trägt sie den Anhängern der von Wittenberg ausgehenden Reformation den heute geläufigen Namen "Protestanten" ein. Was zunächst als polemisch gemeinte Fremdbezeichnung von altgläubiger Seite vorkam, werden die Evangelischen viel später, seit dem 18. Jahrhundert, zur Selbstdefinition (im Sinne einer Emanzipation von "Gewissenszwang") aufgreifen.
Sodann ist 1529 ein dauerhaft schwelender Brandsatz in die Reichstagsgeschichte geworfen worden. Der Reichstag war damals ja ein noch recht junges Reichsorgan, ohne schriftlich fixierte Geschäftsordnung. Das Prozedere verfestigte sich gerade, konsolidierte sich; dass Reichstagsbeschlüsse in jedem einzelnen Fall alle banden, stand noch keinesfalls unverbrüchlich fest, als es die "Protestation" von 1529 ganz grundsätzlich in Frage stellte. Warum ganz grundsätzlich? Haben die Protestanten ihren Einspruch nicht auf Glaubensdinge beschränkt? Ja, schon – aber was war damals nicht alles Glaubensangelegenheit! Glaubensfragen waren in der Reformationsepoche nicht irgendetwas Akzidentielles, auch nichts Privates, sondern höchst politisch und ganz und gar öffentlich. Welche brisante reichspolitische Frage hatte damals nicht mit dem Glauben zu tun? Das gilt natürlich erst recht fürs Konfessionelle Zeitalter! Die Reichstagsarbeit wird im Zeichen der grassierenden konfessionellen Konfrontation seit dem späten 16. Jahrhundert immer mühseliger werden, auch wegen des notorischen Problems der Bindekraft der katholischen "Maiora". So wird die "protestacion" von 1529 am Ende sogar dazu beitragen, dass der Reichsverbund unregierbar wird, nicht mehr steuerbar ist und eben deshalb in seinen dreißigjährigen Konfessionskrieg seit 1618 trudelt.
Der Westfälische Frieden wird 1648 daraus die Konsequenz ziehen, Reichstagsmaterien für nicht majorisierbar zu erklären, wenn sie eine Konfession als Glaubensfrage einschätze; in solchen Fällen mussten sich Katholische und Evangelische fortan gleichsam 'eins zu eins' einigen. Das sind bedeutende Fernwirkungen, die 1529 kein Mensch auch nur vorausahnen konnte.