Betrachten wir zunächst die Frömmigkeitsformen des ausgehenden Mittelalters! Luthers Wirken fällt nicht etwa in eine religiös eher gleichgültige Zeit, fast ist man versucht zu sagen: Die Menschen haben Gott nie mehr gesucht als eben in jenen Jahren. Lucien Febvre hat einmal vom "immense appétit du divin" gesprochen, einem "unstillbaren Hunger nach Gott". Er scheint die Epochenschwelle zur Neuzeit hin in besonderer Weise ausgezeichnet zu haben. Das ist der Schwingboden für Luthers Lehre, macht die ungeheure Resonanz erst nachvollziehbar.
Die Jahrzehnte vor der Reformation waren eine Zeit inbrünstiger Heiligenverehrung – Wallfahrten wurden zu gigantischen Massenereignissen, Kirchenbauten schossen in die Höhe, Stiftungen florierten. Weil man, so man es sich irgend leisten konnte, in sein Seelenheil investierte, wuchs nicht nur die Zahl der Kirchen und Kapellen (solche Gebäude konnten nur sehr reiche Leute stiften), sondern auch die der Kostbarkeiten (Pretiosen) darin: Die Kirchen wurden zu Schatzkammern. Das Münster zu Bern besaß 70 goldene und 50 silberne Kelche sowie ungefähr 450 juwelenverzierte Messgewänder. Köln beherbergte am Beginn der Neuzeit 19 Pfarrkirchen, über hundert Kapellen, 22 Klöster und 11 Stifte, 76 religiöse männliche Konvente und 106 fromme weibliche Gemeinschaften, Beginenhäuser. Man war stolz darauf, dass in der Stadt täglich mehr als tausend Messen gelesen würden. Obwohl die Liturgie der Messgottesdienste ganz auf Rituelles konzentriert war, obwohl dabei nur Latein gesprochen wurde, obwohl viele Kleriker miserabel ausgebildet waren, strömten die Menschen in immer weiter anschwellenden Massen in die Kirchen. Alles hatte "etwas Maßloses, Übersteigertes, Exaltiertes" an sich (Bernhard Schmeidler).
Versuchen wir, die überbordende Frömmigkeit, das inbrünstige Heilsverlangen der Zeit auf den Begriff zu bringen, bieten sich zwei Termini an: "Verdinglichung" und "Quantifizierung". Die Religiosität war "ungemein stark den Dingen verhaftet" (Erich Meuthen). Man versuchte den Heiligen nicht nur geistig nahe zu sein, sondern ganz konkret; Stifter ließen sich auf den Altarbildern neben die Heiligen hinzumalen, zunächst klein, später maßstabsgerecht. Weil man der Überzeugung war, dass der Anblick der Hostie ganz besonders heilbringend sei, konzentrierte sich die Frömmigkeit der Messbesucher ganz auf diesen Aspekt. Die damaligen Gläubigen dürstete "nach Gnadenversicherung und weniger nach religiöser Unterweisung" (Ernst Schubert); viele eilten deshalb in der Kirche von Seitenaltar zu Seitenaltar – an ihnen allen wurden parallel und durcheinander Messen gelesen –, um so in möglichst kurzer Zeit möglichst vieler Hostien ansichtig zu werden. Wer in einer kleinen Pfarrei lebte, schätzte sich glücklich, einen Wettbewerbsvorteil denjenigen gegenüber wähnend, bei denen sich die heilbringende Tätigkeit des Priesters auf mehr Schäfchen verteilte. Die Fürsten wetteiferten darin, wer seinem Vorgänger wie viel tausend Totenmessen lesen ließ. Auch das Bußsakrament verfiel dieser Verdinglichung: Ich gebe der Kirche soundso viel Geld, dafür erspare ich mir soundso viele Jahre im Fegefeuer – so das populäre Verständnis des "Ablasses". Bekanntlich wird Luther durch seine kritischen Anfragen an die zeitgenössische Ablasspraxis berühmt werden.
Offenbar glaubte die damalige Kirche, mit nie gekannter Kraft gegen den Teufel ankämpfen zu müssen (zu dieser Annahme fügt sich, dass man seit den 1430er Jahren Angehörige einer vermeintlichen Teufelssekte verfolgte, "Hexen" und "Trutner" verbrannte); doch weil sie keine neuen Heilsmittel aufzubieten vermochte, musste sie die vorhandenen bis zur Erschöpfung ausbeuten. Die Statuten eines Lübecker Spitals schrieben den Kranken, "wenn sie nur noch die Zunge und die Lippen rühren können", täglich dreihundert Vaterunser vor. Kenner halten "Steigerung und Intensivierung des Überkommenen" überhaupt für "das Charakteristische des Spätmittelalters" (Ernst Schubert).
Die Frömmigkeit um 1500 war verdinglicht; und sie war – auf den ersten Blick ein Widerspruch – künstlich übersteigert, exaltiert. Das Alltägliche, Gewöhnliche im Glaubensleben genügte nicht mehr, überall suchte man das Mirakel. Allerlei alte und neue Wunder wurden zu Anziehungspunkten für Volksmassen. Man pilgerte nach Regensburg, wo die "Schöne Maria", ein Marienbildnis, die Augen bewegt haben soll. Oder man besuchte das "Heilige Blut von Wilsnack". Ein Brand hatte im ausgehenden 14. Jahrhundert die Kirche zerstört, im Schutt hatten sich drei bereits konsekrierte Hostien gefunden, der sie bergende Priester behauptete, sie seien von Blutstropfen benetzt gewesen – vor allem in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, also Generationen danach, reisten Gläubige aus ganz Europa deshalb zum Ort jenes Brandes, jenes in den Augen der Zeitgenossen wunderbaren Hostienfundes: Es gab im ausgehenden Mittelalter offenbar eine unstillbare Sehnsucht nach derartigen Mirakeln, eine Sehnsucht, die doch wohl auch eine uneingestandene Unzufriedenheit mit den 'Alltagsleistungen' der Kirche verrät. Jedenfalls kann man das rückschauend so deuten. Zu dieser Einschätzung passt, dass die Amtskirche den vielen neuen Gnadenstätten durchaus distanziert, nicht selten ablehnend gegenüberstand. Die Gläubigen machten sich trotzdem zu Tausenden auf den Weg – man kann darin auch ein neues laikales Selbstbewusstsein erblicken.