Ihren Anfang nahm auch diese Bewegung wie so viele Musikkulturen zuvor in Großbritannien. Dort hatte die "Eiserne Lady" Margaret Thatcher 1994 durch den "Criminal Justice Act" das öffentliche Abspielen von Techno verbieten lassen. Sobald mindestens drei Menschen auf der Straße zusammenkamen und dabei Technomusik hörten, konnte die Polizei eingreifen, die Menschen verhaften und die Musikanlage beschlagnahmen. Anlass für das absurde Gesetz war die Drogen-Paranoia der Regierung, die "ihre Jugend" durch Technomusik im ewigen Drogennirwana versinken sah. Doch wie häufig erwies sich die drastische Repression als Fehler: Die Technoszene fand plötzlich überall Sympathien und Verbündete. Selbst Gruppen, die der Technomusik und der Partyszene im Allgemeinen ansonsten nichts Gutes abgewinnen konnten, solidarisierten sich: Es entstanden Bündnisse mit anderen Straßenkulturen wie den Punks oder den Hausbesetzern, die ebenfalls von der Regierung mit Räumung bedroht wurden, und mit New-Age-Nomaden, die seit Jahren durch die Welt zogen, immer nur wenige Wochen oder Monate an einem Ort lebten und dabei die heimischen Gegenkulturen inspirierten. Auch bei ökologisch orientierten Initiativen und anderen engagierten Bürgern kristallisierte sich zu der Zeit bereits ein zentrales neues Thema heraus: das Recht auf nicht kolonialisierte Freiräume.
"Was bei den kulturellen Zusammenstößen zwischen Diskjockeys, konzernfeindlichen Aktivisten, politischen Künstlern, New-Age-Künstlern und Radikalökologen herauskam, ist vielleicht die lebendigste und am schnellsten wachsende politische Bewegung seit Paris 1968: Reclaim the Streets", prophezeite die 28-jährige, linksengagierte kanadische Journalistin Naomi Klein (2001, S. 322), die sich von dieser neuen Bewegung euphorisieren ließ und ein Buch verfasste, das bald nach seiner Veröffentlichung zur populären Kampfschrift von Konsum- und Globalisierungskritikern wurde: "No Logo!"
Das Ziel von Reclaim the Streets ist die Rückeroberung von Lebensräumen, Schwerpunkte ihres Engagements sind dabei die Vormachtstellung des Autos und die seit Mitte der 90er-Jahre um sich greifende Umwidmung von öffentlichem Raum in firmeneigene Konsumschutzreservate (die Errichtung riesiger Einkaufstempel an den Stadträndern oder die Verdrängung von Jugendlichen, Alten, Obdachlosen, Drogenabhängigen und anderen, die eventuell die Kauffreude ihrer Mitbürger dämpfen könnten, aus den innerstädtischen Konsummeilen).
Reclaim the Streets ist kein traditioneller Verein mit Satzung, Mitgliedschaften, gewählten Repräsentanten und regelmäßigen Sitzungen, über die ordentlich Protokoll geführt wird, auch keine anders strukturierte Großorganisation, sondern ein lockeres, hauptsächlich über das Internet kommunizierendes Netzwerk von überwiegend jungen Menschen aus der Techno-, House- oder Punk/ Hardcoreszene, aus Hausbesetzer-, autonomen und Street-Art-Künstlerkreisen, aus kritischen Gewerkschaftlern und Attac-Aktivisten. Dennoch ist es ihnen dank der Unterstützung modernster Technik (E-Mail-Adressenlisten, SMS, Homepage-Links, digitale Filmkameras zur zeitnahen weltweiten Übertragung eines Events etc.) zum Beispiel schon mehrfach gelungen, "Global Street Partys" in zuletzt mehr als 70 Städten – von Berlin und Paris über Toronto und Berkeley bis Sidney und Tel Aviv – zur gleichen Zeit stattfinden zu lassen.
Reclaim the Streets kommt gerade den Interessen und Wünschen von Jugendlichen, die sich engagieren wollen, sehr entgegen: Es gibt weniger langwierige Aufnahmerituale und langweilige Routinesitzungen, jeder, der mitmachen will, kann sofort einsteigen; es wird nicht nur geredet, sondern auch und vor allem gehandelt, und die Ziele liegen nicht nur irgendwo in der Zukunft, sondern direkt vor Augen, greifbar nahe, und selbst der Weg dahin, die Vorbereitung wie die Ausführung der konkreten Aktion, machen Spaß. Hier kommt also alles zusammen, was Jugendforscher der Gegenwart seit einigen Jahren als wichtigste Antriebskräfte für jugendliches Engagement herauskristallisiert haben – nur die Vereinigung von Spaß und Sinn setzt Jugendliche in Bewegung.
Reclaim the Streets arbeitet aktionsorientiert, und auch die Art und Weise, wie sie ihre Aktionen nach innen wie außen inszenieren, wirkt recht geschickt und kreativ: Der geplante Aktionstag selbst, der Zeitpunkt und der ungefähre Ort werden auf Flyern und Homepages (z. B. www.rts.squat.net oder www.squat.net) angekündigt. Interessierte können ihre Handynummer hinterlassen; sie erhalten dann in dem Augenblick, in dem die Aktion wirklich startet, per SMS eine genaue Adresse. Dies ist nicht nur für Nachzügler wichtig, sondern auch für die bereits am offen angekündigten Treffpunkt Versammelten, die sich bei Erhalt der SMS sofort in Bewegung setzen können. Dort, am eigentlichen Zielort des Geschehens, starten zur selben Zeit wenige eingeweihte Aktivisten die Aktion. So wird etwa mitten auf einer großen Kreuzung ein scheinbarer Zusammenstoß zweier Autos arrangiert, die beiden Fahrer und eventuell weitere Mitfahrer steigen aus und streiten heftig miteinander. Der Verkehr kommt zum Erliegen. Immer mehr Menschen treffen inzwischen ein und strömen auf die Kreuzung, die damit für Autos nicht mehr zu passieren ist. Plötzlich werden die Planen des am "Unfall" beteiligten Kleintransporters zurückgeworfen und Louis Armstrongs "What a wonderful World" erklingt. Der LKW ist ein fahrbares Soundsystem, beladen mit einer leistungsstarken Musikanlage, das Herzstück der nun startenden Party.
Weitere Aktivisten haben inzwischen begonnen, an die wartenden Autofahrer freundlich Flyer zu verteilen (manche mit einem Schokokuss oder einem Lutscher als Beigabe), die verkünden, dass diese Kreuzung ab sofort für eine öffentliche Free-Party gesperrt ist. Andere verteilen Schilder und Transparente mit Botschaften wie "Atmet auf!", "Autofreie Straße" und "Reclaim the Streets" an Ampeln und Lichtmasten. Einzelne schleppen ebenfalls vorsorglich in der Nähe deponierte alte Sofas, Kickergeräte, Decken, Picknickkörbe an. Neben den (wenn es gut läuft: vielen) tanzenden Menschen bevölkern nun auch Jongleure, Trommler, Feuerspucker, riesige Stelzengänger und viele andere Aktionskünstler die Straße. Die Atmosphäre ist bewusst bunt, laut, lustig und friedlich. Selbst die Mehrzahl der Autofahrer kapituliert gewöhnlich eher neugierig-amüsiert und sucht sich einen anderen Weg zu ihrem Ziel.
Übergriffe geschehen selten und Reclaim the Streets legt großen Wert darauf, dass auch der Polizei nicht aggressiv begegnet wird. Das gelingt nicht immer, denn diese hat natürlich von Beginn an versucht, die nicht angemeldete – und damit schon zwangsläufig illegale – Party zu verhindern, zum Beispiel, indem sie schon am Treffpunkt die Handys der Versammelten beschlagnahmte. Allerdings bleibt die Kreativität der gut vorbereiteten Reclaim-the-Streets-Organisatoren zumeist Sieger und ab einer gewissen Zahl ist es nicht mehr opportun, gegen die friedlich tanzenden Partygäste militant vorzugehen, vor allem angesichts der inzwischen zahlreich eingetroffenen Medien. Unangenehm, weil teuer, auch wenn das Geld später mit Sicherheit über Solidaritätsspenden wieder hereinkommt, ist die gelegentliche Beschlagnahme des Soundsystems, doch geschieht das, entpuppt sich in diesem Moment zumeist ein "zufällig" im Partybereich parkender zweiter Transporter ebenfalls als fahrbare Musikanlage oder ein Piratensender beginnt mit der Ausstrahlung eines Partyprogramms, das nun über Dutzende mitgebrachter Ghettoblaster überall auf der Kreuzung erschallt.
Reclaim-the-Streets-Aktionen leben vor allem von ihrer positiven Ausstrahlung und ihrem subversiven Witz. Als in Berlin – wie in vielen anderen deutschen Städten – Banken und andere Firmen damit begannen, massiv Bettler, Drogenabhängige und Straßenkinder aus der Umgebung ihrer Geschäfte zu vertreiben, reagierte Reclaim the Streets nicht mit einem Flugblatt oder einer wütenden Presseerklärung, mit Boykottaufrufen und einer der üblichen Protestdemonstrationen wie andere Gruppen zuvor. Stattdessen stellten sich brav zwei Dutzend junge Kunden im Schalterraum einer in der Verdrängungspraxis besonders aktiven Sparkasse in die Warteschlange und begannen, zur Musik aus ihren Kopfhörern zu tanzen. Die Geschäftsleitung war machtlos: Es gibt – noch – keine Verfügung, die es Kunden verbietet, ihre Geschäfte fröhlich abzuwickeln. Andere Reclaim-the-Streets-Aktivisten verteilten inzwischen im Umfeld der Bank Flyer zur Aufklärung über den Sinn der Aktion an die Passanten und die von Reclaim the Streets herbeigerufenen Medien freuten sich über die ungewöhnlichen Bilder und berichteten fleißig – dabei notwendigerweise auch den ernsten Anlass der Aktion benennend.
Manche Aktionen von Reclaim the Streets sind durchaus spektakulär: So "kidnappten" britische Aktivisten eine sechsspurige Autobahn bei London, um dort anschließend mit 10000 Teilnehmenden eine riesige Party zu feiern. Und währenddessen rissen "Guerillagärtner", getarnt durch ein riesiges Zelt und den Partylärm, mit Presslufthämmern das Pflaster auf und pflanzten in die Löcher junge Bäume (vgl. Klein 2001, S. 320 und 323f.). In anderen Fällen stellten sie sich wochenlang Abrissbaggern entgegen, die mehrere alte Wohnhäuser zugunsten einer Autostraßentraße abreißen sollten. Doch prinzipiell sind alle Aktionen von Reclaim the Streets symbolisch gedacht: Der Spaß der relativ wenigen direkt Teilhabenden und das per Mundpropaganda und Medienberichterstattung verbreitete Gespräch darüber soll auf das Grundthema – die Enteignung von immer mehr Lebensraum – aufmerksam machen.
Die Attraktivität von Reclaim the Streets liegt auch darin, dass es eine städtische Protestbewegung ist. Während frühere Aussteiger den Städten entflohen, um auf dem Land ihre Freiheitsvorstellungen und Lebensideale zu verwirklichen, entdeckt Reclaim the Streets den urbanen Dschungel als Ort attraktiver Events.
Die große Mehrzahl der Jugendlichen liebt die Industrie. Doch je populärer die von den großen Markenkonzernen geförderten Jugendkulturevents werden, desto größer wird auch die Opposition gegen die kommerzielle Penetration "ihrer" Jugendkultur. Und so findet sich heute in beinahe jeder Schulklasse eine kleine, aber relevante Minderheit – oft die Kreativsten und Eigenwilligsten ihrer Generation –, die sich geradezu über die Abgrenzung vom Kommerz definieren: Sage mir, was du bei Viva gesehen hast, und ich weiß, was ich nicht mag. Sie suchen sich andere Orte, um ihren Spaß zu haben, ihre Kultur auszuleben, ihre Freundschaften zu pflegen, ihr individuelles Beziehungsnetzwerk aufzubauen, den ihnen zustehenden Anteil an Respekt zu erhalten.
Die Industrie ist mächtig und allgegenwärtig. Niemand – ob jung oder alt – kann sich heute mehr ihren Verlockungen und Verführungen entziehen. Partizipation am Konsum – der Besitz und Gebrauch der richtigen Konsumgüter – ist das zentrale Kriterium für Anerkennung geworden. Und so sind in der Tat zahlreiche Menschen aller Generationen zu willenlosen Lemmingen der Industrie geworden, die blind konsumieren, ohne die Qualität der angebotenen Produkte zu hinterfragen, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, ob sie das, was sie gerade konsumieren, überhaupt brauchen oder wirklich wollen. Glück ist für viele eine quantitative Größe geworden, die gemessen wird an der Zahl der ge- und verbrauchten Waren.
Der Kommerz ist überall. Die Berliner Verkehrsgesellschaft bewirbt ihre Buslinie 100 als attraktive Möglichkeit für Touristen, während der Fahrt die schönsten und bedeutendsten Sehenswürdigkeiten Berlins zu erleben. Wer das Angebot wahrnimmt, muss leider nach dem Bezahlen des Tickets feststellen, dass im Bus von den meisten Plätzen aus die Umwelt hinter einem Grauschleier verschwindet: Wie fast alle Busse in der Stadt sind auch die der Sightseeing-Linie von außen mit riesigen Werbefolien beklebt. Wer früher gerne mit dem Bus unterwegs war, weil man da im Gegensatz zur U-Bahn wenigstens was von der Stadt sehen und die eigene Fahrroute sinnlich verfolgen konnte, muss heute auf Taxen oder Fahrräder umsteigen. Gefragt, ob sie bereit wären, auf ihre Aussicht zu verzichten, wurden die zahlenden Kunden nicht.
Werbung greift überall in unser Leben ein, ob wir es wollen oder nicht. Wer sich gestört fühlt, muss meistens extra dafür zahlen, die lästige Reklame aus seinem Lebensbereich zu bannen. Pay-TV statt der üblichen Free-TV-Sender, wöchentlich zu aktualisierende Schutzprogramme für den Computer, die weniger Viren als Werbe-Spams aus dem E-Mail-Programm absorbieren, und wer seinen Briefkasten zu Hause nicht tagtäglich mit Prospekten überfüllt vorfinden möchte, muss dies auf einem extra angebrachten Schildchen kundtun.
Während Polizei, private Bürgerinitiativen bzw. Schutzwehren und andere Ordnungskräfte immer schärfer gegen Graffitimaler, Pflastermaler, Straßenmusikanten und andere Street-Art-Künstler, gegen Bettler, Autofensterputzer und sogar gegen Leute, die ihre Wohnstraßen in Eigenregie mit Pflanzen begrünen wollen, vorgehen, erregte bis vor kurzem der akustisch-visuelle Werbe-Overkill der Konzerne kaum oppositionellen Protest.
Das ändert sich nun. Und die, die sich zur Wehr setzen, kommen ausgerechnet aus den Kreisen der besonders konsumvernarrten und stilbewussten Jugendkulturen.