Die beständigen Versuche von Medien- und Freizeitindustrien, Manifestationen von Undergroundkulturen als den neuesten Trend zu kommerzialisieren, haben bei den Angehörigen dieser Subkulturen eine hohe Sensibilität für die Gefahren der Vereinnahmung geschaffen. Andrea (26), Physiotherapeutin und schon zu DDR-Zeiten "Gruftie": "Das hat mich total gekränkt, als ich die ersten Modekataloge mit Gothic-Kleidung und -Accessoires gesehen habe. Also, das konnte ich überhaupt nicht ertragen, dass sich auf einmal normale Leute aus Modegründen schwarz gekleidet haben. Das hat mich enorm verletzt. Das ist meine Welt, da dürft ihr nicht rein" (in: Farin/Wallraff 2001, S. 118).
"Jugendliche haben eine ambivalente Beziehung zur Wirtschaft. Sie schwankt zwischen dem Gefühl, ausgebeutet zu werden, und der ganz bewussten Nutzung der Wirtschaft für eigene Interessen", stellt der Wiener Marketingmanager Franz Weissenböck fest, der u. a. Kampagnen für Coca Cola, Martini und L´Oréal designte. "Jugendliche wissen, dass die Industrie mit ihrem Geld erst viele Szenen und Szene-Events möglich macht. Auf der anderen Seite will man seine eigene Kultur leben und nicht permanent das Gefühl haben, dass diese kommerziell vermarktet wird, und grenzt deshalb die Wirtschaft aus. Dies kann speziell bei Kernszenen beobachtet werden, deren Sprache außer Insidern kaum jemand verstehen wird. Die Sprache der Randszene wird dagegen schon eher verstanden, also auch von Menschen, die der jeweiligen Szene nicht angehören. Warum? Vor allem deshalb, weil auch die Wirtschaft als Kommunikator und Verbreiter des Szene-Virus agiert" (Weissenböck, a.a.O., S. 74).
Mit anderen Worten: Fast alle Jugendkulturen der Gegenwart sind massiv von der Industrie geprägt.
Doch der von der Wirtschaft verbreitete "Szene-Virus" stimmt nur noch bei oberflächlicher Betrachtung mit dem Original überein. Kommerzialisierung bedeutet stets auch Verflachung, das Ausblenden von nicht massenkompatiblen Inhalten, die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. So sind MTV-Szenereports und -Videoclips heute zentrale Informationsquellen zu Jugendkulturen – auch für die Szeneangehörigen selbst. Denn auch der Kreuzberger Rapper erfährt nicht auf der Straße, was gerade in Sachen HipHop in New York oder Los Angeles abgeht, sondern bei MTV fett oder Mixery Raw Deluxe, dem Viva-Pendant. "Erst was in den Bildmedien auftaucht, gilt als existent und glaubwürdig. Bilder machen Wirklichkeit" (Klein/Friedrich 2003, S. 128) – und prägen so die Szenen selbst mit, naturgemäß in einer Art und Weise, die ihren eigenen (Vermarktungs-) Interessen nicht zuwiderläuft. Und so wird aus einer illegalen Rausch- und Partykultur namens Techno ein Großevent für alle, aus einer antirassistischen Ghettokultur ein Tanzstil für Mittelschichtkids, aus einer strikt antikommerziellen Do-it-yourself-Bewegung namens Punk ein Jungbrunnen für Werbedesigner und Trendfashion. Aus ernst gemeinten Anliegen werden Attitüden, Individualität wird zur Konfektionsware – und die muss gerade deshalb besonders grell ihre Einzigartigkeit herausstellen. Nicht allen behagt das, und so warnte bereits im Frühjahr 2004 eine Hamburger Marktstudie vor der "abnehmenden Bereitschaft" vieler Jugendlicher, "sich zu Szenen, zur Zugehörigkeit zu ihnen, zu bekennen. Hintergrund dieser Entwicklung ist die schamlose Annexion von Szenecodes und Szenesymbolen durch die Medien- und Kommunikationswirtschaft. Diese und die noch hinzukommende unprofessionelle und in vielen Fällen peinliche Handhabung der Szenecodes führt dazu, dass immer mehr Jugendliche ihre eigene Kultur nicht mehr wiedererkennen, sie als deformiert und abgehoben empfinden, sich als kulturell Enteignete fühlen und sich demgemäß zu dem, was ihnen einmal gehört hat und ihnen nun nicht mehr gehört, nicht mehr öffentlich bekennen wollen. Sollte vor allem die Kommunikationswirtschaft in den nächsten Jahren nicht zu einem professionelleren, vor allem aber demütigeren Umgang mit den Szenen und ihren Kulturen finden, kann schon heute ein bevorstehender Massenexodus vor allem von höher gebildeten Jugendlichen aus den großen Super-Szenen prognostiziert werden" (tfactory 2004). Der Trend weist allerdings in die entgegengesetzte Richtung.
Die Industrie begnügt sich nicht mehr damit, sich den jeweils populärsten Stars und Jugendkulturen als Sponsoren anzudienen, um so mit im Rampenlicht zu stehen und ein wenig von dem Glanz der Stars und der Authentizität der Jugendkulturen abzubekommen, sondern sie betrachtet die von ihr Geförderten zunehmend als Konkurrenz und versucht, diese vom Siegerpodest zu stoßen und sich selbst zum Star zu küren.
Marken statt Produkte
"Die Güterproduktion war das Evangelium des Industriezeitalters. Lange Zeit blieb die Herstellung von Dingen das Herz aller industrialisierten Volkswirtschaften. In der Rezession der Achtzigerjahre gerieten jedoch einige große Hersteller ins Trudeln, und es wurde allgemeiner Konsens, dass sie aufgebläht und zu groß waren. Sie besaßen zu viel, hatten zu viele Beschäftigte. Der Produktionsprozess als solcher – der Betrieb eigener Fabriken, die Verantwortung für Zehntausende von fest angestellten Arbeitskräften – all das wirkte nun nicht mehr wie der Schlüssel zum Erfolg, sondern wie eine schwere Last.
Etwa um diese Zeit begannen Unternehmen neuen Stils, wie Nike und Microsoft und später Tommy Hilfiger und Intel, mit den traditionellen Herstellern um Marktanteile zu konkurrieren. Die Unternehmer neuen Stils stellten nicht mehr in erster Linie Dinge her, sondern Markenimages. Tommy Hilfiger ist eigentlich kein Kleiderhersteller; sein Geschäft besteht darin, Kleider zu signieren. Das Unternehmen operiert ausschließlich mit Lizenzverträgen, und Hilfiger gibt sämtliche Produkte bei einer Anzahl anderer Unternehmen in Auftrag: Jockey International macht Hilfiger-Unterwäsche, Pepe Jeans London macht Hilfiger-Jeans, Oxford Industries macht Tommy-Hemden und die Stride Ride Corporation stellt seine Schuhe her. Und was produziert Hilfiger selbst? Nichts" (Klein 2001, S. 25f u. 45).
Diese Formel, nicht Produkte, sondern Marken – Images – zu verkaufen, hat sich für die Konzerne als unglaublich gewinnbringend erwiesen. Allerdings: "Das Markenimage, das den Konzernen so viel Reichtum einbringt, ist zugleich auch ihre Achillesferse" (Klein 2001, S. 353). Ein Schuh ist ein Schuh, begreifbar, sichtbar, fühlbar. Ein eindeutiges Produkt, dessen Höhe, Länge, Breite, Gewicht, Farbe etc. eindeutig messbar ist. Ein Image dagegen ist eine virtuelle Angelegenheit, eher wie ein Luftballon: "Es lässt sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit aufblasen, enthält jedoch nichts als heiße Luft. Es ist kein Wunder, dass diese Technik Hunderte von Kritikern hervorgebracht hat, die nur darauf brennen, den Ballon mit spitzer Feder zum Platzen zu bringen" (Klein 2001, S. 355).