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Einführung | Jugendkulturen in Deutschland (1950-2005) | bpb.de

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Einführung

Klaus Farin

/ 3 Minuten zu lesen

Es existiert zwar kaum ein zweites Land auf der Welt, in dem so viele jugendliche Szenen aktiv sind, dennoch ist keine einzige dieser Jugendkulturen eine originär deutsche Schöpfung. Der Ursprung liegt meist in den USA oder Großbritannien, erst Medienberichte erweckten die Neugier deutscher Jugendlicher.

Besonders in den 1990er jahren prägte MTV ganze Jugendkulturen. Start der MTV Video Music Awards 1996 in New York. (© AP)

Normalerweise lässt sich kein exakter Geburtstag einer neuen Jugendkultur festlegen, kein singuläres Ereignis benennen, das den neuen Stamm im sich scheinbar grenzenlos ausbreitenden Dschungel der Jugendkulturen gezeugt hätte. Es passierte einfach über Wochen, Monate, Jahre. Ein paar Jugendliche fingen an, entwickelten, um sich von ihrer Umwelt abzugrenzen oder just for fun, eine neue Art zu reden, zu tanzen, sich zu kleiden; andere – Freunde, Mitschüler, Nachbarskinder – stiegen ein, das Ganze wurde größer, aus einzelnen Cliquen formierte sich eine überregionale Szene; Außenstehende bekamen mit, dass da etwas Neues entstanden war, suchten nach Erklärungen, Einordnungsmöglichkeiten, nach dem Bekannten im Unbekannten. Von da an war es nicht mehr weit, bis das Ding seinen Namen bekam, Medien zu berichten begannen. Dick Hebdige wies bereits 1979 auf die "entscheidende Rolle" der Medien schon in diesem frühen Entstehungsstadium von Jugendkulturen hin: "Sie versorgen uns mit den meisten der vorhandenen Kategorien zum "Begrifflichwerden" der gesellschaftlichen Umwelt. Wenn man so will: Sie kauen uns unsere Erfahrungen vor. Presse, Fernsehen, Film interpretieren sie für uns und machen sie in ihrer Widersprüchlichkeit zu einem zusammenhängenden Ganzen. Es ist also nicht verwunderlich, wenn auch viele der in Subkulturen verschlüsselt ausgedrückten Erfahrungen vorher schon durch die Hände der Medien gegangen sind "(Diederichsen/Hebdige/Marx 1983, S. 78).

Dies trifft besonders für Jugendkulturen in Deutschland zu. Es existiert zwar kaum ein zweites Land auf der Welt, in dem so viele jugendliche Szenen aktiv sind, dennoch ist keine einzige dieser Jugendkulturen eine originär deutsche Schöpfung. Die Ursprungsheimat der meisten Jugendkulturen sind die USA oder Großbritannien, erst Medienberichte erweckten die Neugier deutscher Jugendlicher. MTV und Bravo lockten den HipHop aus dem New Yorker Ghetto hervor, die imponierenden Bilder im Spiegel von der jungen Punkkultur in London zeigten Ende der 70er-Jahre bundesdeutschen Kids, wie sie sich stylen mussten, um den Rest der Welt zu schocken.

Ein besonders beeindruckendes Beispiel der "Sinnstiftung" durch Medien widerfuhr Ende 2000 der Firma New Balance, dem viertgrößten Sportschuhproduzenten der Welt. Den Auftakt bildete ein Gerichtsverfahren, bei dem die wegen einschlägiger Taten mit rechtsextremem Hintergrund aktenkundigen Angeklagten auf eine Bewährungsstrafe hofften, da sie nach eigener Aussage inzwischen die rechte Szene verlassen hätten. Doch es sollte anders kommen: "Ein "N" auf den Turnschuhen outete sie als Neonazis", berichtete Bild am 19. Dezember 2000. "Staatsanwalt Konrad Beß und Rechtsanwalt Klaus Witt sahen genauer hin – auf die Füße der Angeklagten. Vier trugen Schuhe der Marke New Balance. Das große "N" auf dem Schuh bedeutet für Rechte das Wort "national". Damit dokumentieren sie, dass sie sich keineswegs von der Szene gelöst haben, argumentierte Beß. (...) Die falschen Schuhe am falschen Ort hatten Folgen für die Angeklagten. Keine Bewährungsstrafen mehr. Denn Richterin Ingrid Kaps schloss sich der Auffassung des Staatsanwaltes an. Haupttäter Florian D. bekam zwei Jahre, zwei seiner Freunde sitzen mit ihm ein." Zahlreiche andere Medien, etwa das TV-Magazin der Süddeutschen Zeitung oder Focus, zogen sofort nach und "berichteten" aufgeregt über die "neuen Kulttreter der Neonaziszene". Natürlich bekam dies auch die rechte Szene mit, und so wurde aus einer völlig aus der Luft gegriffenen Phantasie eines offenbar nicht sehr sportinteressierten Staatsanwaltes schließlich Realität: Vor allem 12-17-Jährige aus der rechten Szene in den Dörfern und Kleinstädten der neuen Bundesländer, immer auf der Suche nach Abgrenzungs- und Identitätsangeboten, fanden die Idee pfiffig oder glaubhaft und legten sich sofort begeistert New-Balance-Sportschuhe zu. Bald tauchte sogar nur noch die Sportschuhmarke New Balance im Internetversandhandel der Neonazis auf. Da der Konzern dem gefährlichen Image aufgrund der Fehleinschätzung, mit einer Gegenkampagne erst schlafende Hunde zu wecken, nicht entschieden und öffentlichkeitswirksam entgegentrat, geriet die Marke sehr schnell in weiten Gegenden Deutschlands so sehr in Verruf, dass Andersdenkende sie mieden, um nicht in den Verdacht zu geraten, ein "Rechter" zu sein.

Quellen / Literatur

Diederichsen, Diedrich/Hebdige, Dick/Marx, Olaph-Dante: Schocker. Stile und Moden der Subkultur. Reinbek 1983.

Fussnoten

Weitere Inhalte

ist Fachautor, Dozent und Leiter des Externer Link: Archiv der Jugendkulturen sowie des gleichnamigen Verlages.