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Sein und Design | Jugendkulturen in Deutschland (1950-2005) | bpb.de

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Sein und Design

Klaus Farin

/ 8 Minuten zu lesen

"Jugend(sub)kulturen konstituieren auf merkwürdige Weise Sozialität. Menschen, die sich noch nie vorher begegnet sind, können von einem Tag zum anderen durch den Anschluss an ein Zeichenensemble, eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe erreichen."

Kleidung, Frisur, Stil - subtil oder auch weniger subtil sind sie die Erkennungsmerkmale einer jeden Szene. Auch beim Midi Music Festival in Peking. (© AP)

"Das geschieht wortlos, bedarf keiner Zustimmung, findet täglich tausendfach statt und funktioniert. Alle Regeln der Vorsicht, des Abtastens, der Zurückhaltung können von einem Moment zum anderen fallengelassen werden. Dadurch, dass sie sich ähnlich machen, finden binnen Sekunden die "Kurzhaarigen" oder die, die einen "Flat" oder einen "Kamm" tragen, soziale Zugehörigkeit." Outfit und Körpersprache ermöglichen es einem Skinhead, Punk oder Angehörigen der Schwarzen Szene, einen anderen Angehörigen der eigenen (und auch der gegnerischen) Kultur selbst beim Erstkontakt in einer völlig fremden Umgebung sofort zu erkennen und darüber hinaus häufig sogar differenziert als Mitläufer oder Insider, Newcomer oder alten Hasen einzuschätzen.

Damit dies funktioniert, muss die optische Präsentation punktgenau sein, darf bei der Auswahl von Kleidung und Accessoires nichts der Beliebigkeit überlassen werden. Jugendkulturen sind Orte permanenter, bewusster Inszenierung der eigenen Person, und die Qualität und Stilsicherheit dieser Inszenierung signalisiert den anderen Szeneangehörigen, ob da ein Neuling den Kontakt zu ihnen sucht, ein Poser, der in Wirklichkeit kein Wissen über die Ursprünge und Ausprägungen der eigenen Jugendkultur besitzt, zu Unrecht seinen Anspruch auf Szenezugehörigkeit bekundet, oder ein echter Insider, der quasi-natürlich die Traditionen der Szene mit seiner "authentischen" Note zu einem eigenständigen Stil kombiniert, vor ihnen steht.

Angehörige von Jugendkulturen bewegen sich also pausenlos in einem Spagat zwischen Konformität (die Traditionen und Regeln der Szene müssen beachtet werden) und Individualität (dem Wunsch, sich gerade durch den Anschluss an eine Jugendkultur als Individuum zu präsentieren und von allen anderen zu unterscheiden). Ist der junge Neueinsteiger noch ängstlich darauf bedacht, sich die Regeln und Normen der Szene möglichst perfekt anzueignen, wird es für den schon länger der Szene Angehörigen mit zunehmender Stilsicherheit interessanter, die vorgegebenen Normen innerhalb eines gewissen Rahmens individuell abzuwandeln und seiner eigenen Phantasie und Persönlichkeit unterzuordnen – und damit auch die Szene wieder ein Stück weit zu verändern.

Wird jemandem attestiert, er habe "Stil", so bezieht sich dieses Kompliment zumeist nicht nur auf die geschmackvolle Auswahl und Kombination der Kleidung und anderer Accessoires wie Schmuck und Schminke, sondern auch auf die Körpersprache, auf Mimik und Gesten, Verhaltens- und Umgangsformen des Betreffenden. "Stil" meint nicht nur die äußerliche Mode, sondern die gesamte Körpererscheinung, das bewusst und unbewusst nach außen projizierte Spiegel-(oder auch Wunsch-)bild der Persönlichkeit. Arroganz und Offenheit, Introvertiertheit, Kontaktfreude, Aggressivität und vieles mehr drücken sich im Stil aus: in der Haltung der Hände und der Art des (Nicht-)Lächelns ebenso wie in der Wahl der Tätowierungen (ein strahlendes Clownsgesicht, kindlich-naiv oder bösartig?, eine bluttriefende Axt, ein Hakenkreuz, ein Peace-Zeichen). Stil buhlt um Aufmerksamkeit für seinen Träger (bzw. Performer) oder will unangenehme Aufmerksamkeit von ihm ablenken, signalisieren: Ich bin nur ein ganz normaler, garantiert nicht aus der Rolle fallender, braver Bürger.

Die meisten Menschen verfügen in ihrem Stilrepertoire zumindest über zwei Varianten: den oftmals fremdbestimmten und auf betonte Unauffälligkeit, Disziplin und Leistungsbereitschaft zielenden Stil der Arbeitswelt und den zumeist frei verfügbaren, auf Individualität und Distinktion setzenden Stil der Freizeit. Während in der (traditionellen) Arbeitswelt "Grautöne" und formelle Umgangsformen dominieren, verwandeln sich immer mehr Menschen in ihrer Freizeit in schrille Wesen. Die Farben der Kleider werden bunter (oder schwärzer), die Schnitte gewagter, die Umgangsformen informeller. Tagsüber verdeckte Tätowierungen und Piercings erblicken im künstlichen Licht der Klubs und Kneipen die Welt.

Stil ist das Mittel, die eigene Attraktivität bestmöglich zu betonen oder zu steigern. Der Mainstream trifft dabei die Auswahl seiner Stilmittel recht zufällig und nach vorgeschneiderten Trends: Aus der Angebotsflut des kommerziellen Marktes werden jene Kleider, Accessoires, In-Treffs, Modesportarten und Weltsichten herausgepickt, die aktuell ihren Nutzern bei möglichst vielen Mitbürgern den höchsten Grad an Attraktivität sichern und den eigenen grundsätzlichen Vorlieben und körperlichen Optionen nicht zu deutlich widersprechen. Dreht sich das Trendkarussell weiter, kein Problem: Otto hat´s.

Auch die Mehrzahl der Jugendlichen orientiert sich nach der Masse. H & M statt Otto oder Neckermann, MTV statt Freundin und Brigitte. Ihre "Bezugsgruppe" sind wie bei ihren Eltern auch vor allem die etwa Gleichaltrigen, die Mitschüler und Arbeitskollegen, und natürlich die Role-Models der Popindustrie. Auch die Mehrzahl der Jugendlichen sucht die größtmögliche Anerkennung und strömt dementsprechend zu Jugendkulturen, die bereits unter ihren Freunden beliebt sind. So laufen heute beispielsweise Hunderttausende von Jugendlichen im "klassischen" Outfit der HipHop- und Skater- bzw. Snowboarderszenen herum: tiefer gelegte Hosen (Baggypants), mit Markenlogos, Comicfiguren oder Bandnamen bedruckte Shirts, beides so oversized, als müsse der große Bruder mit untergebracht werden, darüber oft einen Kapuzenpullover, auf dem Kopf Baseballcaps, Wollmützen (Beanies) oder Stirnbänder, an den Füßen Sneakers. Doch der Szene-Insider sieht mehr als der außenstehende Beobachter. Er erkennt zum Beispiel, ob sich der szenegemäß Eingekleidete seine Grundausstattung bei H & M oder anderen Kaufhäusern für die Massen zugelegt hat oder in speziellen Szeneshops. Manche Marken werden eben nur in relativ kleinen Stückzahlen produziert und über ausgewählte Szeneläden vertrieben, größere Marken produzieren für die verschiedenen Zielgruppen unterschiedliche Kollektionen: Die hochwertigeren, technisch anspruchsvolleren Produkte, die sich auch bei täglicher Nutzung bewähren, gibt es nur in speziellen Snow- und Skateboardshops, die einfacheren und preiswerteren Kollektionen für diejenigen, die nur gelegentlich oder gar nicht auf dem Board stehen und eher an dem Imageeffekt der Marke interessiert sind, werden auch im allgemeinen Sporthandel vertrieben.

Für die Angehörigen der subkulturellen Szenen bedeutet "Stil" also mehr als eine beliebig zu variierende Mode, ein oberflächliches Repertoire an Verhaltensweisen und Kostümierungen, sondern ein hochdifferenziertes System. Markennamen, ein bevorzugter Musikstil, Drogenkonsum oder -verweigerung werden so zu identitätsstiftenden und -symbolisierenden Zeichen der Persönlichkeit – bzw. einer Persönlichkeit. Denn hierin unterscheidet sich die Mehrheit der seit den 90er-Jahren sozialisierten Jugendlichen in der Tat deutlich von ihren Eltern und auch den gleichaltrigen Angehörigen historischer Jugend(sub)kulturen: Sie fürchten nichts so sehr, wie auf eine einzige Rolle festgelegt zu werden. So springen sie stetig von Szene zu Szene, von Stil zu Stil. Das Outfit wird zum Barometer für die tägliche Stimmungslage, signalisiert der Umwelt: Heute bin ich gut drauf, heute möchte ich angemacht werden, heute bitte nicht ansprechen oder flirten. Und da Stimmungslagen selten so eindeutig sind, werden Stile bevorzugt, die widersprüchliche Elemente enthalten, möglichst mehrere subkulturelle "Backgrounds" als Interpretationsspielraum anbieten, bei Bedarf einen schnellen Stimmungswechsel ermöglichen. Ironie kommt dabei immer gut an, Zynismus allerdings gar nicht.

"Stil" ist das Kernsegment der gemeinsamen kulturellen Praxis jeglicher Jugendkulturen, denn Stil erzählt von ihren spezifischen Ideen und Inhalten, vom Selbstbewusstsein und Wissen seiner Träger. Erst Stil konstituiert die Identität der Kultur und schließt diejenigen aus, die über die notwendige Stilsicherheit nicht verfügen. Szene-Fremde, die glauben, sich nur ein paar Accessoires besorgen und beobachtete Verhaltensweisen kopieren zu müssen, um "unerkannt" in eine Szene eintauchen zu können, müssen oft erleben, dass sie von Szeneangehörigen sehr bald in die gleiche Kategorie eingeordnet werden wie Vati, der biertrinkend vom Sofa aus die Profisportler in der Glotze herumkommandiert.

Der jugendkulturelle Stil ist nur selten das, was er vorgibt, verschleiert oft mehr, als dass er enthüllt, legt mitunter bewusst falsche Fährten und hat stets zwei Absichten: Interessanten Menschen – also vor allem den Angehörigen der eigenen und befreundeter Szenen, aber manchmal auch den offenen Gegnern – sehr viel über die eigene Persönlichkeit, kulturelle (und manchmal auch politische) Positionierung in der Welt zu erzählen und alle anderen zu verwirren und auf Distanz zu halten. So ist es Außenstehenden oft nicht möglich, einen Skinhead mit Skrewdriver-T-Shirt und neonazistischem "14 words"-Logo auf der Bomberjacke von einem solchen mit "Spirit of "69"-Logo und Laurel-Aitken-T-Shirt zu unterscheiden oder die Sounds von Ambient und Gabber oder die rund ein Dutzend Spielarten von Heavy Metal auseinanderzuhalten – für die entsprechenden Fans und Szeneangehörigen liegen jedoch ganze Galaxien zwischen diesen Stilen. Grenzziehungen, die von der Welt der Erwachsenen und auch vielen Mainstreamjugendlichen nicht einmal als solche erkannt werden, bilden zentrale Koordinationspunkte im kulturellen Alltag der Jugendszenen, künstliche Identifikationsbojen im Kosmos der subkulturellen Stile, die es Gleichgesinnten ermöglichen, sich um sie zu scharen und alles andere, die ganze böse, langweilige, spießige, von tausend Zwängen erfüllte Außenwelt, wenigstens für einige Stunden oder Tage aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Der Stil dient also auch dazu, Grenzen zu setzen. Doch genau dies fällt Jugendlichen immer schwerer. Wie soll man sich auch gegenüber einer Elterngeneration absetzen, die glaubt, für sich selbst die "ewige Jugend" gepachtet zu haben? Dabei geht es den meisten Jugendlichen und Jugendszenenangehörigen nicht etwa um so etwas Grundsätzliches wie einen "Generationenkonflikt" (die Mehrzahl bekundet in Studien ein entspanntes Verhältnis zu den Erziehungsberechtigten), sondern schlicht um das Recht auf einen Freiraum, eine eigene (Freizeit-)Welt, die nicht schon von den Eltern besetzt und kontrolliert wird. Um dies zu erreichen, setzen sie auf die üblichen, seit Jahrzehnten bewährten Methoden: Lautstärke, Geschwindigkeit und immer extremere Stilaccessoires. Viele Ältere, aufgewachsen in den Siebzigern oder Achtzigern, als äußerer Stil und innere Gesinnung meist noch identisch waren, wenden sich schockiert von dieser neuen Jugendgeneration ab.

Doch die Realität ist komplizierter: Sein und Design stimmen nicht mehr überein. Unter der oft rebellischen Oberfläche versteckt sich nicht selten eine recht konventionelle, brave Gesinnung: "Eine Generation, die mit Baggypants durch die Gegend läuft, bei denen der Hosenboden bis in die Kniekehlen hängt, die an allen möglichen und unmöglichen Körperstellen mit Piercings aufwarten kann und in der scheinbar jedes zweite Mädchen ein sogenanntes "Arschgeweih" auf den Anfang des verlängerten Rückens tätowiert hat, eine Generation, die zu Tausenden in die Konzerte von Marilyn Manson läuft, die Slipknot zu Plattenmillionären macht und die HipHop-Gangsta verehrt, die sich bei Drive-By-Shootings gegenseitig umnieten und die sich mit ihren Händen bei Konzertauftritten dermaßen häufig in den Schritt fassen, dass man dort schon doppelt verstärkte Stoffe verarbeitet, damit das Modestück nicht vorzeitig an der Schamstelle aus dem Leim geht, genau eine solche Generation verbleibt länger als je eine zuvor im Elternhaus, weil es dort so harmonisch ist und es kaum mehr Konflikte gibt, findet, dass gute Manieren wichtig sind, möchte ihre Kinder genauso erziehen, wie sie selbst von ihren Eltern erzogen wurde, und hat ihr Giro-Konto auch beim selben Bankinstitut wie diese" (tfactory 2004).

Gäbe es nicht eindeutige historische Nachweise, dass "Generationenkonflikte" von Beginn an ein vorwärtstreibendes Moment der menschlichen Zivilisierung waren, so könnte man annehmen, sie seien eine Erfindung cleverer Kaufleute zur Vermarktung neuer Produkte. Denn worin unterscheiden sich Jugendliche schon von ihren Eltern und Lehrern? "Eigentlich" in nichts. Jugendliche denken "fast" genauso spießig und konsumorientiert, rechtskonservativ oder linksradikal, "unpolitisch" oder kritisch wie ihre erwachsenen Vorbilder auch.

Jugendliche leben nicht in einem Vakuum, sondern sie wachsen seit ihrer Geburt und zunächst ohne eigenen Einfluss in bestimmten sozialen Verhältnissen auf, sie werden gleichgültig, (anti-)autoritär, gewalttätig oder im besten Fall liebevoll-kompetent zu selbstbewussten Menschen "erzogen", "verschult", "ausgebildet". Dieses sehr verschiedenartige "Rohmaterial ihrer gesellschaftlichen Existenz" (Stuart Hall) setzen Jugendliche wiederum sehr unterschiedlich in Kultur um. Niemals auf die gleiche Weise wie ihre Elterngeneration und doch auch niemals völlig losgelöst von deren Kultur und Realität. Denn der Stil von Jugendkulturen, analysierte Phil Cohen bereits 1972, ist stets "eine Kompromisslösung zwischen zwei gegensätzlichen Bedürfnissen: dem Bedürfnis, Unabhängigkeit und Verschiedenheit von der Elternkultur auszudrücken, und dem Bedürfnis, die elterliche Identifikation zu bewahren" (zitiert nach Diederichsen/Hebdige/Marx, S. 71).

Quellen / Literatur

Diederichsen, Diedrich/Hebdige, Dick/Marx, Olaph-Dante: Schocker. Stile und Moden der Subkultur. Reinbek 1983.

tfactory: TIMESCOUT. Deutschlands junge Meinungsführer. Ihr Leben, ihre Werte, ihr Konsum- und Medienverhalten, ihre Markenpräferenzen. Hamburg 2004.

Fussnoten

Weitere Inhalte

ist Fachautor, Dozent und Leiter des Externer Link: Archiv der Jugendkulturen sowie des gleichnamigen Verlages.