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Rap light | Jugendkulturen in Deutschland (1950-2005) | bpb.de

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Rap light

Klaus Farin

/ 4 Minuten zu lesen

Die Industrie schuf eine zweite Rapkultur mit garantiert pflegeleichten Acts, die Mode und die Signalsprache der HipHop-Kultur kopierten, aber ihren sozialen Kontext ausblendeten. Rap light.

Rap light, made in Germany: Die Fantastischen Vier. (© AP)

Der Stuttgarter Top-Act Die Fantastischen Vier, die 1991 die Idee des engagierten Sprechgesangs zwar aufgriffen, aber in ihren Texten eigentlich "nichts zu sagen haben" (Jacob 1993, S. 214), und natürlich die unzähligen von Musikkonzernen "gecasteten" rappenden Boygroups und Daily-Soap-Sternchen wie Oli P. oder Die 3. Generation sind nur zufällige Belege für die Loslösung des HipHop aus seinen ursprünglichen Zusammenhängen und die Verwandlung einer schwarzen Jugendkultur in eine Mode für jedermann. Noch immer sind das "Ghetto" ein zentraler Mythos der deutschen HipHop-Szene und der afroamerikanische Rapper, Writer oder B-Boy eine prägende Leitfigur. Doch mit dem Siegeszug des "Deutschen HipHop" ab Mitte der 90er-Jahre betraten unzählige deutschstämmige Mittelschichtkids die Szene, die beim besten Willen zu keiner an den Rand gedrängten ethnischen oder sozialen Minderheit gehören – und dementsprechend auch andere Themen in ihren Raps aufgreifen. "Die Straße ist da, wo man herkommt", erklärt Bo von Fünf Sterne Deluxe im taz-Interview. "Ich komme aus Horst bei Elmshorn. Da gibt es die Drogenprobleme nicht, also kann ich auch nicht drüber reden. Meine Straße ist schon eher die Sesamstraße" (zitiert nach Klein/Friedrich 2003, S. 75). Also reicht das Themenspektrum von Hymnen auf aktuelle Fernsehsendungen oder angesagte Comics und Computerspiele über Auseinandersetzungen mit Lehrern und Neonazis bis zu – merkwürdig oft unerfreulichen – Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Im Mittelpunkt stehen fast immer die eigenen Gefühlswelten gelangweilter oder sonstwie unzufriedener Bürgerkinder – und die unterscheiden sich doch deutlich von denen amerikanischer Ghettokids. Während manche "old-school"-Verfechter darin den Ausverkauf des HipHop und den Verlust von Authentizität und Realness sehen, schätzen andere gerade jene HipHop-Aktivisten als authentisch ein, die nicht bloß die US-amerikanischen Ghetto-Images kopieren, sondern ihre eigenen Themen und Lebenserfahrungen künstlerisch bearbeiten. Entscheidend für den Erwerb von Respect und Fame ist für sie nicht die eigene (marginalisierte) gesellschaftliche Position, sondern die Originalität der eigenen Kunst und die Ernsthaftigkeit der Teilhabe an der HipHop-Community. "Anders als in anderen Pop-Szenen reicht eine Konsumhaltung nicht, um sich als Mitglied der Szene zu fühlen oder dort Akzeptanz zu erzielen: Man kann zwar Rocker sein, weil man Rockmusik hört, knatschenge Lederhosen trägt und ein Motorrad fährt, aber im HipHop ist man nicht real, nur weil man Sneakers trägt, Rap-Musik hört und am Wochenende in HipHop-Clubs geht. Nur durch Engagement erhält man Anerkennung und Respekt" (Klein/Friedrich 2003, S. 156).

Ende der 90er-Jahre hatte HipHop Techno überholt und war zur größten und umsatzstärksten Jugendkultur angewachsen. Immer mehr Rapper und Sprayer konnten von ihrer Kreativität gut leben. David Toop, Musiker und Journalist, notiert 1991 im Vorwort der Neuauflage seines 1984er Standardwerkes "Rap Attack": "Einer der größten Unterschiede ist vielleicht der, dass ich bei den Recherchen zum ersten Teil des Buches die meisten Rapper bei ihrer Mutter am Telefon erreichen konnte, während man sich heute durch eine Mauer von Managern und persönlichen Referenten hindurchkämpfen muss" (Toop 1992/2000, S. 17).

Dieser gewaltige kommerzielle Siegeszug des HipHop (der längst zum Imagefaktor für andere Industrieschöpfungen wie Streetball geworden ist) wurde jedoch nur möglich, weil es nach wie vor auch den HipHop-Underground gibt: eine breite Subkultur mit Dutzenden von eigenen Fanzines und Homepages, unabhängigen Plattenfirmen und Kassettenvertrieben, selbst- und nicht von szenefremden Veranstaltern organisierten Jams, einer eigenen (Jugend-)Klub- und oft illegalen Graffitiszene und mit Rappern, die wissen, wovon sie reden. So hat das "Anything goes" der Gesamtgesellschaft auch die HipHop-Kultur erreicht. Ihr Spektrum reicht inzwischen vom aufklärerischen "Edutainment" bis zum puren Party-HipHop, von antifaschistischen bis zu rassistischen Aussagen. Der Ursprungsidee von HipHop – gegen Gewalt und (harte) Drogen – hat sich seit den 90er-Jahren ein Gewalt- und Drogenkult dazugesellt, der inzwischen viele potentielle Veranstalter davor zurückschrecken lässt, HipHop-Jams anzubieten, da sie massive Randale und Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Gruppen befürchten müssen. HipHop ist nach wie vor "eine Art CNN der Schwarzen, ein Netzwerk, das wir niemals zuvor hatten", wie Chuck D von Public Enemy meint (zit. nach Blümner 2002, S. 302), und zugleich "noch so´n Amüsement" geworden, "das der Regierung hilft, den Mob von der Straße fernzuhalten", wie John Cale von Velvet Underground schon 1975 über Rockmusik feststellte. Allerdings hat HipHop der Rockmusik immer noch eins voraus: Während große Teile der Rockmusik sich sehr schnell ihrer "schwarzen" Wurzeln entledigten (bis hin zu – im Extremfall – White-Power-Nazi-Rock), ist HipHop eine im Wortsinn multikulturelle Szene geblieben. So wie schon die ersten DJs vor dreißig Jahren das Gebräu namens HipHop (bzw.: Rap) aus einer Synthese aus Funk, Soul, Disco, Latin, Salsa, Rock und diversen anderen Stilen kreierten (Afrika Bambaataa etwa benutzte für seine ersten Mixes Kraftwerk, die Rolling Stones, James Brown und Beethoven!), so verfügt heute fast jede in Deutschland beheimatete Minderheit von den Deutschrussen über arabische und türkische Jugendliche bis zu Sachsen und Franken über eine eigene (regionale) HipHop-Community, die wiederum weit über die Landesgrenzen hinaus vernetzt ist.

Auch wenn die Realität widersprüchlicher aussieht, gilt HipHop nach wie vor aufgrund seiner Geschichte und der massiven Präsenz afroamerikanischer und aus Einwandererfamilien stammender Szenestars als Jugendkultur, die gegen Rassismus und Neonazis – gegen "rechts" – steht. Dass eine Jugendkultur mit diesem Image Ende der 90er-Jahre in Ost- wie Westdeutschland zur umsatzstärksten Teenager-"Marke" werden konnte, ist vielleicht nicht unbedingt eine der schlechtesten Nachrichten zum Ausklang des 20. Jahrhunderts.

Quellen / Literatur

Blümner, Heike: Street Credibility. HipHop und Rap. In: Kemper/Langhoff/ Sonnenschein (Hrsg.) 2002, S. 292 – 306.

Jacob, Günther: Agit-Pop. Schwarze Musik und weiße Hörer. Berlin 1993.

Klein, Gabriele/Friedrich, Malte: Is this real? Die Kultur des HipHop. Frankfurt am Main 2003.

Toop, David: Rap Attack. African Jive bis Global HipHop. A-St. Andrä-Wördern 1992 u. A-Höfen 2000.

Fussnoten

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ist Fachautor, Dozent und Leiter des Externer Link: Archiv der Jugendkulturen sowie des gleichnamigen Verlages.