Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

"Who gives a f...?" | Jugendkulturen in Deutschland (1950-2005) | bpb.de

Jugendkulturen in Deutschland Vorwort Die 1950er Einführung Die Halbstarken Vaterlose Jugend Bravo Die Entdeckung des "Teenagers" Swinging Sixties Einführung Beat Gammler vs Provos Die heile Bravo Welt Die Hippies Risse im Wirtschaftswunderland Der Aufstand der Bildungseliten Einführung Politik ohne Opposition Subversive Aktion Die Situation eskaliert Attentat auf Dutschke Vom Protest zum Widerstand Scheinrevolution Wiederentdeckung der Arbeiterklasse Die 1970er Politik und Alltag Neue soziale Bewegungen Jugend als "Sicherheitsrisiko" Umwelt- und Anti- Atomkraft- bewegung Disco Punk Einführung Auftritt Sex Pistols Punk in Deutschland Protest und Provokation "Do it yourself!" Skinheads Einführung Die letzten Erben der Arbeiterklasse Ska & Oi! Skinhead – a way of life Hooligans Geschichte Irrtümer Von Guten und Mitläufern Die 1980er Einführung Hausbesetzer II Gefühl und Härte – die Autonomen Die "Wende-Jugend" Gangs Die 1990er Neonazis Einführung Ursachen Die Angst vor dem Kontrollverlust Vom Täter zum Opfer Kameradschaft Gothics Einführung Der Tod Gothics = Satanisten? Techno Einführung Love, Peace & Happiness Techno wird Pop HipHop Einführung Rapper´s Delight "Who gives a f...?" Rap light Die vermarktete Rebellion "Früher war alles besser..." Die Clique Ein- und Ausstieg Sein und Design Exkurs: No woman, no cry Von der Sub- zur Massenkultur und zurück Einführung Mediale Sinnstiftung Kommerz Ins Ghetto und wieder zurück Reclaim the Streets Redaktion

"Who gives a f...?"

Klaus Farin

/ 3 Minuten zu lesen

Im US-Pop-Business war Rap bereits Mitte der 80er-Jahre die Wachstumsbranche Nummer 1. In Großbritannien nahmen Ex-Punk-Stars wie Blondie Deborah Harry und Malcolm McLaren Rap-Songs auf und landeten noch einmal riesige Hits.

Mit "Yo! MTV Raps" setze der Sender Anfang der Neunziger Maßstäbe für die HipHop-Kultur. (© AP)

Der am 1. August 1981 für die konsumfreudige urbane Jugend gestartete Musikkanal MTV, der in den ersten Jahren ausschließlich Videos weißer Musiker sendete und erst nach einer Boykottdrohung von CBS (Michael Jackson!) auch Clips afroamerikanischer Künstler ins Programm aufnahm, Rap jedoch noch jahrelang ignorierte, kapitulierte schließlich vor der nicht mehr zu übersehenden Tatsache, dass sich auch weiße Teenager massenhaft für diese Musik begeistern ließen, und startete 1988 mit "Yo! MTV Raps" eine eigene tägliche HipHop-Show, die aus dem Stand heraus die höchsten Einschaltquoten erreichte, die MTV jemals hatte. Millionen von Fans wollten diese Musik im Radio hören, im Heimkino sehen, im Plattenhandel kaufen.

Daraus ergab sich allerdings für die Industrie ein schwerwiegendes Problem: Die wichtigsten Kultstars wie Ice-T, Ice Cube, Public Enemy, 2Live Crew, N.W.A standen aufgrund ihrer "explicit lyrics" auf dem Index. Elternverbände wie das von Tipper Gore, der Gattin des Präsidentschaftskandidaten Al Gore, gegründete Parents´ Music Resource Center liefen Sturm gegen die angeblich Gewalt, Sex und Drogen verherrlichenden Rapper und riefen zum Boykott von Plattenkonzernen, -läden und Rundfunksendern auf, die Rap im Programm hatten.

Musikindustrie und Medien reagierten zunächst mit einer umfassenden (Selbst-) Zensurkampagne: "Ganze Songs werden vor der Veröffentlichung vom Album genommen, Texte müssen umgeschrieben werden oder werden ausgeblendet. Ganze Songpassagen werden bei der Produktion still und heimlich weggelassen. Coverkunst wird vernichtet. Ein Künstler wird gezwungen, eine "saubere" Version eines "schmutzigen" Songs zu schreiben", berichtet Ice-T in seiner Autobiografie (Ice-T/Siegmund 1995, S. 135).

Die Entschärfung der Original-HipHop-Szene auf ein für den weißen Mittelschichtenmarkt akzeptables Maß genügte allerdings nicht zur Befriedigung der Kaufinteressen. Denn Zensur wirkt selten so, wie die Zensoren sich das vorstellen. Vor allem dann nicht, wenn sie auf eine Szene trifft, die es geradezu darauf anlegt, das Establishment zu reizen. Da wird ein Verbot schnell zur Auszeichnung, zum Qualitätsmerkmal. "Wir machten das "Rhyme Pays"-Album, dann kamen Warner Brothers daher und teilten mir mit, dass sie einen Aufkleber für das Album wollten. Ich fragte, warum. Sie erklärten mir, das wäre zur Information der Öffentlichkeit notwendig, weil ein Teil des Materials die Zuhörer beleidigen könnte. Ich sagte: "Prima, das ist cool." Das Album bekam Gold. Ohne Video. Ohne Radio", berichtet Ice-T (a.a.O., S. 122f.). Die verbotenen oder boykottierten Songs wurden zu Kult- und Sammelobjekten, Index-Platten schossen ohne jegliche Radio- und TV-Unterstützung in die Charts, Rapper erreichten durch krasseste Provokationen einen hohen Bekanntheitsgrad. So brachten N.W.A (Niggaz With Attitude) auf ihrem 88er-Album "Straight Outta Compton" über zweihundert Mal (von entrüsteten Bürgern akribisch gezählt) das Wort "Fuck" unter; Ice Cubes zweiter Longseller "Death Certificate" ging 1991 innerhalb von vier Tagen nach Erscheinen eine Million Mal über die Ladentheke. Die Reaktionen auf seinen Bodycount-Song "Cop Killer" hat Ice-T genüsslich in seiner gnadenlosen Autobiografie erzählt.

Vor allem die Gangsta-Rapper profitierten von der schockierten Reaktion der Mehrheitsgesellschaft. Dr. Dre, der seit 1991 15 Millionen Platten verkaufte, prügelte sich mit Produzenten und einer Fernsehmoderatorin, und als er schließlich dazu verurteilt wurde, einen Funksender am Knöchel zu tragen, der ihn rund um die Uhr mit einem Bewährungshelfer verband, war die Presse dabei. Dr. Dres Zögling Snoop Doggy Dogg verkaufte vier Millionen Exemplare seines 94er-Debütalbums "Doggy Style", nachdem die Öffentlichkeit darüber informiert wurde, dass Snoop nicht nur den Harten markierte, sondern wirklich wegen der Ermordung eines Menschen angeklagt wurde. (Das Gericht sprach ihn allerdings 1996 verkaufsschädigend frei.) Schon die Produktion des Albums war nur möglich, weil seine Plattenfirma eine Kaution in Millionenhöhe bereitstellte. Es sollte sich auszahlen, ebenso ein Jahr später bei Snoops Rapper-Kollegen Tupac Shakur. Auch er wird für 1,4 Millionen Dollar Kaution aus dem Gefängnis geholt, in dem er wegen Vergewaltigung eines weiblichen Fans saß, um das Doppelalbum "All Eyez on Me" aufzunehmen – es springt sofort auf Platz 1 der Charts und wird über sechs Millionen Mal gekauft. 2-Pacs Ermordung durch bis heute unbekannte Täter aus einem fahrenden Auto heraus ("Drive-by-Shooting") im September 1996 machte ihn endgültig zum Kultobjekt für jugendliche HipHop-Fans in aller Welt.

Quellen / Literatur

Ice-T mit Heidi Siegmund: Ice-T: Who gives a Fuck? München 1995.

Fussnoten

Weitere Inhalte

ist Fachautor, Dozent und Leiter des Externer Link: Archiv der Jugendkulturen sowie des gleichnamigen Verlages.