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Die 1990er | Jugendkulturen in Deutschland (1950-2005) | bpb.de

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Die 1990er

Klaus Farin

/ 7 Minuten zu lesen

Nach Ansicht vieler liegt das Land Ende der 80er-Jahre in Agonie. Doch dann fällt die Mauer. Über Nacht scheint alles anders. Neue Horizonte öffnen sich.

Der Fall der Mauer 1989 erzeugt große Aufbruchstimmung in Deutschland. (© AP)

Die 80er-Jahre waren ein Jahrzehnt, das durch hohe Arbeitslosigkeit und politische Lähmung gekennzeichnet war. Politik und Wirtschaft schoben sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu und forderten die jeweils andere Seite auf, endlich zu handeln. Pessimismus breitete sich aus, besonders unter Jugendlichen. Vierzehnjährige erklärten in Studien, sie glaubten nicht mehr daran, noch eine erstrebenswerte Zukunft zu erleben. Nach Ansicht vieler liegt das Land Ende der 80er-Jahre in Agonie.

Doch dann fällt die Mauer. Über Nacht scheint alles anders. Neue Horizonte öffnen sich. Eine gewaltige Aufbruchstimmung erfasst das Land. "Schluss mit frustig", bringt die Shell-Jugendstudie ´92 den neuen Zeitgeist auf den Punkt.

Der Jubel kam zu früh. Die ehemaligen Bürger der nun nicht mehr existierenden Deutschen Demokratischen Republik mussten bald merken, dass sie mit der SED nicht nur die Regierung gestürzt hatten, sondern ein ganzes System. Das bedeutete viele neue Chancen, aber auch, dass ein Großteil der bisher gelebten Alltagskultur und Erfahrungen obsolet waren. Sie mussten lernen, dass das neue System auch neue Risiken und Hierarchien mit sich brachte. Und Massenarbeitslosigkeit.

Menschen, die ohnehin Angst haben, die existentiell verunsichert sind, machen häufig dicht, mauern sich ein, wollen sich nicht noch mehr durch neuartige Erfahrungen, fremde Gefühle verunsichern lassen. Es war nicht die Arbeits- und Perspektivlosigkeit allein. Auch viele westdeutsche Jugendliche haben keine Arbeit und sehen keine Zukunftsperspektive für sich. Doch was sich im Westen über zwei Jahrzehnte an Problemen aufgebaut hatte, geschah im Osten quasi über Nacht. Die Diskrepanz zwischen den Verheißungen der euphorischen Wochen der Wiedervereinigung und der Realität des kapitalistischen Systems war für viele ein Schock. Noch 1990 erschienen den meisten Ostdeutschen der Mauerfall und die Aufnahme in den "Goldenen Westen" als Einlasskarte ins irdische Paradies. "Blühende Landschaften" sollten auch in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern entstehen. Es sollte bekanntlich anders kommen.

Viele Ostdeutsche suchten einen Ausweg oder zumindest eine Erklärung für diese Enttäuschungen. Drei Modelle boten sich an: Sie konnten sich selbst die Schuld geben, der ostdeutschen Misswirtschaft, wie die Politiker des Westens es vorzugsweise machten. Sie konnten dem neuen, kapitalistischen System die Schuld geben, das Leistung und Konkurrenzkampf betonte. Manche machten das und engagierten sich in kapitalismuskritischen Bündnissen oder Parteien. Oder sie konnten andere Sündenböcke finden, noch Schwächere als sie, und sich selbst damit gleichzeitig aufwerten, auf eine Stufe mit den Westdeutschen zu stellen versuchen. Viele entschieden sich für die bequemste Lösung, den dritten Weg. Im Sommer 1990 – zu einem Zeitpunkt, als es in der gesamten DDR noch kein einziges Asylbewerberheim gab und die Zahl der ehemals dort lebenden 200000 Ausländer aufgrund von Ausreisen auf etwa 150000 gesunken war – erklärten in einer Studie des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung 40 Prozent der befragten ostdeutschen Jugendlichen, sie empfänden Ausländer als "störend". Menschen, denen sie niemals begegnet waren.

Die "Stolz auf Deutschland"-Parole wird zum identitätsstiftenden Signal, gegen (vermeintlich) Nicht-Deutsche vorzugehen. Einige der neuen Einwanderer in die bundesdeutsche Marktwirtschaft aus Sachsen, Thüringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Ostberlin entladen ihren ohnmächtigen Zorn auf die Einwanderer und Flüchtlinge, die schon vor ihnen da waren. Hoyerswerda und Rostock werden weltweit Synonyme für den neu grassierenden, brandgefährlichen deutschen Nationalismus. Und die Täter kommen nicht klammheimlich bei Nacht, sondern stehen völlig selbstverständlich zu ihren Taten, erzählen von ihnen mit stolzgeschwellter Brust und ungebremstem Hass in jede laufende Kamera. Sie fühlen sich nicht nur im Recht, sondern auch als Speerspitze der breiten Bevölkerung, die genau ihrer Meinung sei und sich nur nicht traue, es zu tun.

Ein Blick in die Medienberichterstattung jener Tage bestätigt diesen Eindruck. "Die Bevölkerung drängt auf rasche Entscheidungen. Das Ziel, den Zuzug von Ausländern und Asylanten zu begrenzen, hat in den letzten Monaten wie kein anderes an Bedeutung gewonnen", stellt die FAZ am 9. Oktober 1991 fest. Weniger staatsmännisch drückt es die Bild aus: "Immer mehr Asylbewerber kommen nach Deutschland. Gestern waren es 1000. Heute werden es wieder 1000 sein. Wie lange geht das noch gut?", fragt Bild am 5. September 1991. Zwei Wochen später kommt die Antwort in Hoyerswerda. Dazwischen liegt eine bundesweite Plakataktion: "Asylanten in... – wer soll das bezahlen?" – Werbung für eine ganz normale Bild-Serie.

Gleich die erste Folge des "Großen Bild-Reports" geht klar zur Sache: Flüchtlinge werden als "Scheinasylanten" und "Schmarotzer" tituliert, die das deutsche Asylrecht missbrauchen und die Steuergelder der Bürger verprassen. "In Dortmund leben 257 Asylbewerber in 18 Hotels. Für das viele Geld könnte man auch Kindergärten bauen, sagen manche. Oder Krankenhäuser. Oder Wohnungen."

Der Brandanschlag von Solingen am 29. Mai 1993, bei dem fünf Frauen und Mädchen starben, war der Höhepunkt einer Welle ausländerfeindlicher Gewalt. (© AP)

Fünf Tage nach dem Brandanschlag in Solingen, am 3. Juni 1993, erschien aus der Feder von Chefredakteur Jürgen Köpcke in der Praline ein Beitrag unter dem Titel "Jetzt wollen die Bürger Taten sehen: Schein-Asylanten ab nach Hause, aber schnell!" –"Dass sich umgehend was ändert, das wollen wir Bürger jetzt ruck, zuck vor der eigenen Haustür sehen, wo die vielen Asylantenunterkünfte bitte zügigst geleert, gesäubert und für deutsche Zwecke umgewidmet und umgebaut werden!", fordert Köpcke weiter. "Es wurde (viel zu lange) debattiert, nun wurde beschlossen und ab sofort wird GEHANDELT!" (zitiert nach: journalist 8/93, S. 31).

Zwei Extrembeispiele zweier extremer Medien – doch auch die "seriöse Presse" von Spiegel bis FAZ beteiligte sich ungeniert an der "Asylantenhatz". Für die meisten Journalisten stand die vermeintliche Kausalkette Asylmissbrauch – Passivität der Politik – rechtsradikale Übergriffe nicht zur Diskussion. Auch manche Wissenschaftler, die das Phänomen Rechtsextremismus untersuchten, machten die Opfer zu Tätern und erklärten "die Überforderung der Kommunen durch zwei sich überlappende Einwanderungswellen (der Aussiedler und der Asylbewerber)" (Helmut Willems) zur Ursache für die Zunahme rassistischer Gewalttaten. Dem früheren CDU-Generalsekretär Heiner Geißler blieb es überlassen, sich in der Zeit vom 11. Oktober 1991 darüber zu wundern, dass die Ausschreitungen gegen Flüchtlinge ausgerechnet zu einem Zeitpunkt begannen, als die Asylbewerberzahlen zurückgingen, und Politik und Medien als Hauptverursacher der Gewalt zu benennen: "Richtig los gingen die Krawalle, nachdem das Asylthema im Bremer Wahlkampf mit bundesweitem Echo hochgezogen wurde."

Erst am 12. September 1991 hatte CDU-Generalsekretär Volker Rühe mit einem internen Rundbrief an alle christdemokratischen Fraktionsvorsitzenden eine bundesweite Kampagne gestartet mit dem Ziel, "die Asylpolitik zum Thema zu machen." In bereits ausformulierten Presseerklärungen und parlamentarischen Anfragen, bei denen die Kommunalpolitiker nur noch den Namen ihrer Stadt einfügen mussten, sollten die christdemokratischen Mandatsträger den "Unmut" der Bevölkerung stärken: "Sind Asylbewerber in Hotels oder Pensionen untergebracht worden? Zu welchen Kosten? Welche Auswirkungen hatte die Belegung von öffentlichen Einrichtungen mit Asylbewerbern auf die bisherigen Benutzer/ Besucher?" usw.

Auch Sozialdemokraten beteiligten sich an der Kampagne gegen Flüchtlinge und Einwanderer. "Ich wünsche keine multikulturelle Gesellschaft, weil die nur zu gesellschaftlichen Disharmonien, zu Egoismus bis hin zum Gruppenhass führt", erklärte der SPD-Fraktionschef in Nordrhein-Westfalen, Friedhelm Farthmann, im April 1992. "Aus Deutschland ein Einwanderungsland zu machen, ist absurd. Es kann dazu kommen, dass wir überschwemmt werden", erklärte auch Altbundeskanzler Helmut Schmidt am 12. September 1992 im Interview mit der Frankfurter Rundschau und forderte, für Asylbewerber zentrale "Lager zu bauen mit fließendem Wasser und Toiletten". So ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Politik in ihrer Mehrheit auf die Explosion der Gewalttaten mit rechtsextremem Hintergrund von 178 Delikten im Jahr 1990 auf 1485 Taten 1992 mit viel Verständnis für die Täter und den Abtransport der Opfer, zumeist Asylbewerber, aus der entsprechenden Region reagierte – häufig unter dem Beifall der am Straßenrand Spalier stehenden Täter.

Es gibt "eine nennenswerte Zahl von Jugendlichen, die für Gegenkulturen, Bewusstseinsmoden und extremistisches politisches Verhalten zu mobilisieren sein dürften", stellte der Soziologe Erwin Scheuch schon 1975 fest. "Es gibt allerdings keine Anzeichen, dass diese Gruppen Vorreiter eines allgemeinen Aufbruchs wären. Aber sie sind umfangreich genug, um den Eindruck eines Massenphänomens hervorrufen zu können. Damit kommt es dann wesentlich auf das Verhalten der Institutionen und insbesondere der Führungsgruppen an, was aus diesem Potenzial wird" (Scheuch 1975, S. 66).

Die Politik hatte keine Lösung für die wachsenden wirtschaftlichen Probleme des wiedervereinigten Deutschland und förderte die Ablenkung der Bevölkerung von ihrer eigenen Unzufriedenheit auf "die Fremden", die "Scheinasylanten". Und auch die Reaktionen vieler Bürger bestätigen die Täter in ihrer Meinung. "Die Brandstifter haben Signale aus ihrer heimischen Umgebung empfangen, viele versteckte Aufmunterungen und nur diffuse Entmutigungen, auch nach dem Anschlag", berichten Jörg Bergmann und Claus Leggewie, die in ihrer Kursbuch-Reportage "Die Täter sind unter uns" den konkreten Fall eines Brandanschlages auf ein Asylbewerberheim nachzeichneten und dabei anders als die Mehrzahl der journalistischen Berichterstatter sehr genau beobachteten und nachfragten. "Aus den Gesprächen zu Hause, in den Läden und Gaststätten wussten sie, dass die Einrichtung des Asylbewerberheims nicht gut gelitten war. Sie hörten die Milchmädchenrechnungen der Bewohner, wonach jede Mark, die für die Asylanten draufging, uns, den Einheimischen, fehlen wird. Vor allem sahen sie die bitteren Gesichter, wenn solche Sätze fielen. Sie spürten die Entschlossenheit der Unterschriftenaktion und der Ressentiments, die dahinter lauerten, auch gegen die Befürworter der Flüchtlinge und später gegen die Betroffenheit der Nachtwachen, die als Nestbeschmutzung aufgefasst wurden. Eine schwelende Wut schien sich ein Ventil zu suchen" (a.a.O., S. 29).

Nach den Brandanschlägen auf türkische Familienhäuser in Mölln (Schleswig-Holstein) und Solingen (Nordrhein-Westfalen), bei denen drei Frauen und fünf Kinder verbrannten, kippte die Stimmung endlich um. Eine Welle der Empörung schwappte über das Land. Die neue rechtsextreme, gewaltorientierte Jugendkultur hatte sich jedoch bereits etabliert.

Quellen / Literatur

Bergmann, Jörg/Leggewie, Claus: Die Täter sind unter uns. Beobachtungen aus der Mitte Deutschlands. In: Kursbuch 113, Berlin 1993, S. 7 – 37.

journalist 8/1993

Scheuch, Erwin K.: Die Jugend gibt es nicht. Zur Differenziertheit der Jugend in heutigen Industriegesellschaften, in: Jugend - - in der Gesellschaft. Ein Symposion. München 1975, S. 54–78.

Shell Deutschland (Hrsg.): 50 Jahre Shell Jugendstudie. Von Fräuleinwundern bis zu neuen Machern. Berlin 2002.

Fussnoten

Weitere Inhalte

ist Fachautor, Dozent und Leiter des Externer Link: Archiv der Jugendkulturen sowie des gleichnamigen Verlages.