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Irrtümer | Jugendkulturen in Deutschland (1950-2005) | bpb.de

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Irrtümer

Klaus Farin

/ 5 Minuten zu lesen

Erster Irrtum: Hooligans sind alles milieugeschädigte Underdogs, von Arbeitslosigkeit und Bildungsdefiziten gepeinigte Modernisierungsverlierer. Die Realität ist schlimmer. War der Fußball noch vor zwanzig Jahren die letzte sichere Heimstatt der Arbeiterklasse, so hat die von Vereinen und DFB seit Mitte der Achtzigerjahre massiv betriebene Umorientierung des Profifußballs vom proletarischen Vergnügen zum Event-Entertainment-Park für die ganze (Mittelschicht-)Familie auch vor den Fankurven nicht Halt gemacht.

Italienische Polizisten versuchen während eines WM-Qualifikationsspiels 1997 britische Hooligans in Schach zu halten. (© AP)

Beschrieb die Shell-Studie "Jugend '81" den typischen jugendlichen Fußballfan noch als "Hauptschüler aus der Unterschicht, mit traditionellen und zum Teil zuversichtlichen Zukunftserwartungen, politisch in der Nähe zur CDU, toleriert von anderen Jugendlichen" (zitiert nach Göbbel 1986, S. 99), so stellt eine Marketingstudie 13 Jahre später fest: "Der Fußballplatz ist aus seiner ursprünglichen sozialstrukturellen Verortung herausgerissen. Fußballfan zu sein ist zu einem freien optionalen Lifestyle geworden, dem sich jeder, der Lust dazu hat, frei zuordnen kann." (Heinzlmaier/Großegger/Zentner 1999, S. 18)

Selbst unter den ganz Harten der Hooliganszene trifft man heute mehr Lehrer, Verwaltungsangestellte oder selbststständige Kleinunternehmer als arbeitslose Hauptschulabbrecher. Mario zum Beispiel ist Bäcker, Thomas Speditionskaufmann, Martin Schlosser, Schlenne Klempner, Spion Gärtner, Pickel, Sascha und Ingo arbeiten als Straßenbauer, Winter hat gerade sein Ingenieurstudium aufgenommen und Frank eine Kneipe gepachtet, Tom träumt von der eigenen Arztpraxis und Olli von einem Job beim Bundesgrenzschutz. Zwölf Beispiele aus einer langen Serie von Interviews mit Hooligans zwischen 15 und 32 Jahren, Mitläufer und "Erste Reihe" - und keine dramatischen Kindheitstraumata, keine Sozialfälle darunter, zumindest nicht mehr als üblich. "Eines sind Hooligans mit Sicherheit nicht: ein Beleg für die These, dass Gewalt in unserer Gesellschaft von ökonomisch Benachteiligten ausgeht", bestätigt Joachim Kersten, Polizeiausbilder und langjähriger Erforscher aggressiver Männlichkeiten. "Im alltäglichen Leben sind sie alles Mögliche, sehen sie aus wie junge Geschäftsleute oder Studenten. Und am Wochenende gehen sie nach Hause, ziehen ihre Designerjeans, -schuhe und -jacken an und ziehen los, um 'richtig' männlich zu werden."

Zweiter Irrtum: Hooliganismus ist nur eine moderne Variante des Boxkampfes.

Sicherlich: Auf den ersten Blick läuft alles darauf hinaus, den Gegner zu verprügeln. Doch wer genauer hinsieht, merkt bald, dass sich die große Mehrheit der Hools ja gar nicht prügelt. Kommt es überhaupt zur körperlichen Begegnung (was heutzutage aufgrund der massiven Polizeipräsenz eher eine Ausnahme darstellt), prallen wirklich einmal zwei Hooligan-Mobs gegeneinander, so haben allenfalls die zehn, fünfzehn, zwanzig Mann in den ersten Reihen die Möglichkeit, aufeinander einzuprügeln, bis die Polizei dazwischen- geht. Zwischen dem ersten Blickkontakt, dem Aufeinanderstürmen, der wüsten Schlägerei und der Flucht vor den knüppelschwingenden Uniformen liegen eher Sekunden als Minuten.

Verständlich ist es, dass die gesamte öffentliche - das heißt: mediale, denn wer hat schon den Mut, das Schauspiel live zu beobachten - Aufmerksamkeit sich auf diese wenigen Sekunden des Hooligan-Daseins konzentriert. Massenprügeleien auf offener Straße erfüllen Sensationsgelüste. Aber merkwürdig bleibt es doch, dass bis auf ganz wenige seriöse Ausnahmen kaum ein medialer Beobachter der Fußballszenen registrierte, dass vier Fünftel aller Hooligans das vermeintliche Ziel - die Prügelei mit dem gegnerischen Mob - niemals erreichen - und dennoch glücklich und zufrieden von dannen ziehen, und dennoch immer wieder auftauchen. Die Auflösung dieses Mysteriums ist recht einfach: Der Weg ist das Ziel. "Ob du nun der obergeile Schläger bist oder nicht, interessiert hier erstmal keinen. Der Punkt ist: Kann man sich auf dich verlassen? Oder nicht? Wie reagiert der, wenn der Mob auf ihn zuläuft? Wenn das Flattern anfängt und du am liebsten wegrennen willst. Schaffst du's, überwindest du dich, bleibst du stehen oder nicht? Das ist der entscheidende Moment." - Wenn Hooligans mit rhythmischem Klatschen und aufreizenden Gesängen auf der Suche nach ihren Gegnern durch die Fußgängerzonen der Innenstädte ziehen und schließlich mit martialischem Gebrüll aufeinander losstürzen, wollen sie damit weniger den anderen Mob erschrecken als ihren eigenen inneren Schweinehund an die Kette legen. Der ganze Ablauf eines Hooligan-Wochenendes ist perfekt bis ins kleinste Detail auf das Ziel hin komponiert.

Es beginnt im Grunde schon zwei, drei Tage vorher, wenn sich die Clique noch einmal in ihrer Stammkneipe trifft, mehr oder weniger nervös die aktuelle Stärke des gegnerischen und die Mobilisierungsreserven des eigenen Mobs zu kalkulieren versucht, bei Auswärtsfahrten die Reiseroute festlegt. Fuhr man früher noch gemeinsam mit dem Zug (je länger, desto schöner), so reisen Hooligans nun unauffällig in PKWs an, um nicht schon vor Erreichen des Ziels von der Polizei aus dem Rennen genommen zu werden.

Die Fahrt wird genutzt, um wieder und wieder Chancen und Risiken der angesetzten Begegnung zu diskutieren, natürlich ergebnislos. Im Gegensatz zu dem neunzigminütigen Vorspiel auf dem Rasen lässt sich die Dritte Halbzeit nicht planen, stehen Ort und Zeit des Matches erst in dem Moment fest, in dem es passiert. Doch wie der Trainer in der Kabine noch in letzter Minute mit seiner Elf zum wiederholten Male die Stärken und Schwächen der gegnerischen Mannschaft bespricht, so lassen auch die Hools in den PKWs immer wieder die letzte Konfrontation vor ihren Augen ablaufen. Wie zufällig taucht dabei so manche offene Rechnung auf, die unbedingt beglichen werden muss - und zwar heute. Am Zielort angekommen, klettert das Fieberthermometer langsam in die Höhe. An der Häufigkeit, mit der nun immer mehr Hooligans zum nervösen Pinkeln aus den Reihen scheren, merkt auch der Beobachter, dass die voller Angstlust erwartete Konfrontation unmittelbar bevorsteht.

Es geschieht in Wellen, ein ewiges Auf und Nieder wie die La-Ola-Rituale im Stadion, sich nur langsam umkreisend auf den Höhepunkt zu bewegend. Der Marsch ins Stadion, das scheinbar ziellose Umherirren in der Stadt, das plötzlich und immer unerwartet von gemächlichem Schlendern ansatzlos in einen Spurt überwechselt und wieder zurück, ohne dass für den Außenstehenden ein bestimmter Anlass zu erkennen ist - das ganze vorsichtig-offensive Gebaren der Hooligans ähnelt Demonstrationsriten. Schließlich geht es ja auch um die Verwirrung, im besten Fall sogar Abhängung desselben Gegners - der Polizei. Doch die eigentliche und wichtigste Funktion der Jagden und Ruhepausen, der Hass- und Spottgesänge, der lange vor ihrer Zeit erschallenden "Jetzt-geht's-lohos"-Chöre ist eine andere: Sie bereiten den Körper auf die kommende Ekstase vor, zwingen ihn zur Freisetzung immer neuer, immer heftigerer Schübe der körpereigenen Droge Adrenalin.

Dritter Irrtum: Hooligans sind im normalen Leben besondere Problemkinder - psychisch angeknackste Frustbolzen.

Sicherlich ist Hooliganismus ein Ventil zum Abbau von Aggressionen. Doch Hooligans sind weder Aussteiger noch Ausgegrenzte. Sie sind, im Gegenteil, nicht selten "äußerst ehrgeizige, ökonomisch denkende Leistungsträger dieser Gesellschaft, junge Männer mit ausgeprägtem Organisationstalent und hoher Kommunikationskompetenz, sprich mit eindeutigen Managementqualifikationen" (Joachim Kersten). Hooligans leiden nicht unter individuellen Extremlagen, sondern an den normalen pathologischen Alltagsstrukturen. Während andere Menschen trinken, depressiv werden oder ihre Familien terrorisieren, entladen Hooligans den Druck in einer gewaltigen Explosion offensiv am Wochenende.

Hooliganismus ist eine männliche Form zivilen Ungehorsams, eine nichtpolitische Rebellion gegen die sinnlose Autorität des Alltags, ein Versuch, die von montags bis freitags aufgezwungene Rolle abzustoßen, aus dem langweiligen Spießer-dasein auszubrechen - wenigstens für ein paar Stunden. Du bist, zumindest für einen Moment, kein pflichtbewusster Vater, Ehemann, Arbeitsuntertan. Du bist wieder jung, unverantwortlich jung. Hooliganismus ist nicht zuletzt ein Versuch, die Jugendzeit festzuhalten, den Übergang zum Stammtischrabauken und Fernsehsessel-Django hinauszuzögern.

Quellen / Literatur

Göbbel, Narciss: Fußballfans - Wilde Gesellen mit gebremstem Schaum, in: Deutscher Werkbund e.V. (Hrsg.) 1986, S. 99-103.

Heinzlmaier, Bernhard/Großegger, Beate/Zentner, Manfred (Hrsg.): Jugend- marketing. Setzen Sie Ihre Produkte in Szene. Wien/Frankfurt am Main 1999.

Fussnoten

Weitere Inhalte

ist Fachautor, Dozent und Leiter des Externer Link: Archiv der Jugendkulturen sowie des gleichnamigen Verlages.