Innerhalb weniger Monate waren auch in Deutschland Dutzende von Fanzines entstanden, die die Szene vernetzten, über neue Plattenlabel und Spielstätten informierten, neue Bands präsentierten und dabei ihre Leser immer wieder anstachelten, selbst aktiv zu werden: "Nun sitz nicht da rum und glotz blöd, sondern mach auch was, fanzines, clubs, shops, bands! kauf keine zeitungen, die über 5000 stück auflage haben, keine platten von superstars wie stones, rollers, beatles, genesis etc. steckt den reichen wixern nicht noch mehr geld in den arsch! kauft keine klamotten über 20 mark, am besten überhaupt keine! (bei euch gibt´s bestimmt auch eine altkleidersammlung, da gibt´s bestimmt was gutes!) gestaltet eure klamotten selbst! habt eigene ideen! macht was IHR wollt, lasst euch nicht herumkommandieren!! SAGT eure meinung. glaubt nicht, was die clash, chelsea, charley´s girls, saints und die anderen können, das könnt ihr nicht. macht bands. schickt tapes an kleine labels! gebt free concerts! DON´T BE THE PROBLEM - BE THE SOLUTION!" (zitiert aus einem Fanzine um 1980, in Ott/Skai 1983, S. 23)
Nicht Professionalität war gefragt, sondern Energie. Als die Toten Hosen ihre Band starteten, losten sie die Instrumente kurzerhand aus.
"Mit Sicherheit 5000 oder noch mehr" Punkbands seien seit 1977 allein in der Bundesrepublik entstanden, schätzt das Hamburger Punk-Label Weird System (CD-Compilation "Punk Rock BRD", Booklet 1, S. 2).
Martina Weith (Östro 430): "1978 in Düsseldorf - das war so eine Ursuppe. Keiner konnte ein Instrument. Aber jeder, der da rumrannte, spielte mindestens in zwei Bands. Die Kellner und die Bierlieferanten und die Typen am Flipper. Im Hof konnte jeder alles. Weil jeder alles gemacht hat."
Ralf Dörper (S.Y.P.H.): "Der Grundgedanke war: 'Jeder, der unten im Publikum ist, könnte genauso auf der Bühne stehen.' Und viele, die im Publikum standen - irgendwann standen die auch auf der Bühne."
Moritz Reichelt (Plan): "Bisher war man nur Fan von englischen oder amerikanischen Platten - obwohl man die kulturelle Entwicklung, die zu diesen Platten geführt hatte, gar nicht mitgekriegt hatte. Das war alles Konservenkultur. Und jetzt passierte etwas Eigenes. Man konnte wirklich mitkriegen, wie die Dinge, über die man im Hof mit Leuten redete, ein paar Tage später als Text auf der Bühne wieder auftauchten. Man hat mitgekriegt, dass kulturelle Entwicklung genau so passiert." (aus: Teipel 2001, S. 130)
Der Punk hatte den Rock´n´Roll - wenigstens für eine kurze Zeit - aus den Fängen der Industrie-Giganten befreit und wieder auf die Straße getrieben. Doch die Musikindustrie hatte aus ihren Fehlern früherer Jahrzehnte gelernt. So sehr sie diese neuen Bands auch verachteten, begannen die großen Schallplattenkonzerne nun doch, eifrig alles aufzukaufen, was nur Punk-Nähe suggerierte. Aus purer Angst, einen lukrativen Trend der Konkurrenz zu überlassen. The Clash, die viel Zeit und eine Menge Songzeilen darauf verwendet hatten, das Business zu beschimpfen, pöbelten nun im Auftrag der CBS - für eine Garantiesumme von 100000 Pfund, meldeten die Schlagzeilen. Die Buzzcocks, 999 und The Stranglers unterschrieben bei United Artists (Ariola), letztere für 160000 DM.
"Ich denke, das Beste wäre, aufzuhören, Platten zu kaufen", warnte voller Vorahnungen Sniffin´ Glue (Schnüffelleim), das erste Punkzine der Insel. "Ja, hört auf, Platten zu kaufen. Geht lieber hin und guckt euch die Bands live an, weil ich meine, dass Gruppen, sobald sie einen Vertrag mit einer Plattenfirma haben, nicht mehr bestimmen können, was läuft und was nicht. Mit dem Kaufen aufhören bedeutet, dass die fetten Manager keinen Pfennig aus uns rausholen können. Außerdem - mit dem ganzen Plattenmarkt sind wir voll drauf, Lehnstuhl-Punks zu werden, und all die kleinen Bands werden zugunsten einiger neuer Supergruppen in der Versenkung verschwinden. Wir brauchen Kommunikation. Wenn du was zu sagen hast, sag es, warte nicht so lange, bis eine Schallplatte es für dich sagt. Geht in die Klubs, überallhin, tanzt, singt und brüllt, solange ihr miteinander kommuniziert. Lasst euch nicht ausverkaufen!"
Doch die Warnung verpuffte ungehört. Zumal nicht nur die Industrie auf den fahrenden Zug aufsprang, sondern auch die inzwischen blühende Independent-Szene jeder Band eine Plattenveröffentlichung ermöglichte, und sei sie noch so schlecht und unoriginell. "Trotz ihres entschlossenen Enthusiasmus machten sich allzu viele von den unabhängigen Labels der Überfüllung und Sättigung des Marktes mit Unmengen von Schund schuldig, von dem das Lohnende und Vielversprechende oft nur mit Mühe zu trennen war", klagte Allan Jones schon im Sommer 1978 über den "endlosen Strom der Mittelmäßigkeit, der auf den Dutzenden unabhängigen Labels hochgespült wurde, von Punk-Bands, die ihre Identität aus dem Image-Baukasten zusammengeschustert hatten und wieder und wieder ihre Klosprüche herunterleierten, die von einer derart erlesenen Wahrnehmungsfähigkeit zeugten, dass sich Joe Strummer dagegen wie einer der tiefsinnigsten Polit-Theoretiker der westlichen Hemisphäre ausnahm. Die Bands, die zwischen Wand und Tapete hervorgekrochen waren, ihrer Publicity sicher, wenn sie sich nur zu Punks ernannten, waren zumeist komplette Nachahmungstäter. All diese Gruppen machten aus dem Grundmuster des Punk ein Stereotyp, sie spielten dieselben irren Riffs mit der Geschwindigkeit eines Meteors und spuckten dazu Parolen aus zweiter Hand und hohle Propaganda aus. Der echte Zorn, den man beispielsweise bei den Pistols findet, fehlt heute weitgehend in der Musik. Er ist an den Klippen der Mode zu Bruch gegangen." (a.a.O., S. 20ff.)
Anders als in Großbritannien war der Punk-Rock der ersten Generation hierzulande zunächst nicht kommerziell erfolgreich. "In Deutschland findet Punk nicht mal Platz am Katzentisch der Showszene", höhnt der konservative Business-Infodienst Rundy im Januar 1978. "1977 wurden kaum 100000 Platten mit Punk und Punk-Verschnitt zwischen Kiel und Konstanz verkauft - etwa 0,4 Prozent vom Gesamtumsatz am deutschen Musikmarkt."
Schon zwei Jahre später hatte sich die Situation radikal verändert. Der Punk hatte sich weiterentwickelt, ausdifferenziert und dabei ein halbes Dutzend neuer Jugendkulturen geboren. Ab 1978/79 waren verstärkt Gymnasiasten, Studenten, Künstler in die Punkszene geströmt. Diese reizte weniger die Abgrenzung zum "Spießbürger" und die Stilisierung zum Underdog der Gesellschaft als die neuen Möglichkeiten der Musik, auch ohne traditionelle Ausbildung, Notenkenntnis etc. kreativ tätig werden zu können. Die "Genialen Dilettanten" formierten sich, Lautmaler der großstädtischen Industrielandschaft, Motto "Hören mit Schmerzen": Einstürzende Neubauten, Die Tödliche Doris, Der Plan.
Die Gruftis (wahlweise auch Gothics, New Romantics, Dark Waver, Dark Punks oder schlicht "die Schwarzen" genannt) entstanden, ebenfalls Kinder aus besseren Familien, denen der Lebensstil des Punk zu aggressiv und nihilistisch geworden war. Die düstere, melancholische Seite des Punk. Ihren Höhepunkt - zumindest quantitativ - sollten die "Schwarzen" erst ab den späten Neunzigerjahren erfahren. Fast zwangsläufig führten das kreative Experimentieren und die wachsende Popularität des Punk weg vom Drei-Akkorde-Minimalismus und mündete in der Neuen Deutschen Welle. Das Motto lautete: Spaß statt Weltuntergangsparolen, Ironie statt Aggressivität. "Zurück zum Beton/Da ist der Mensch noch Mensch/Ekel, Ekel, Ekel-Natur, Natur/Ich liebe nur Beton pur." (S.Y.P.H.) Synthesizer, Sequenzer, Rhythmusmaschinen, gerade zur rechten Zeit erschwinglich geworden, erweiterten die traditionelle Gitarre-Bass-Schlagzeug-Gesang-Besetzung. DAF, Fehlfarben, Wirtschaftswunder, Neonbabies und schließlich Nena, Extrabreit, Trio, Ideal. Als Geier Sturzflug in der ZDF-Hitparade auftrat, kündigte der Moderator Dieter Thomas Heck empört.