Die Ramones trugen bei ihren ersten Auftritten ab 1974 zwar noch seltsame Pilzkopffrisuren, erspielten sich aber bald ihren Ruf als "Hohepriester" der drei Akkorde, indem sie ihr eigentlich eineinhalbstündiges Programm in knapp 30 Minuten bewältigten. Andere US-Bands wie Velvet Underground, MC Five und die charismatische Dichterin Patti Smith zelebrierten auf der Bühne musikalische Höhepunkte mit Drei-Finger-Akkorden und rüden Four-Letter-Lyrics.
Selbst das Wort "Punk" war nicht neu: "Im Oxford Dictionary ist der Begriff schon für das 16. Jahrhundert belegt: als Substantiv für Hure, als Adjektiv für verdorben, wertlos, ohne irgendwelche Qualitäten", berichtete Der Spiegel 4/1978. "Nach dem Etymologen Eric Partridge soll Punk ursprünglich als eine Slangbezeichnung für schimmeliges, altbackenes Brot verwendet worden sein, möglicherweise abgeleitet vom französischen 'pain'. In seinem Buch "Hard Travellin" bezeichnet der Schriftsteller Kenneth Allsop die jungen Begleiter homosexueller Tramps als Punks. Und ganz ähnlich wird Punk im US-Gefängnisjargon verwendet: für Jungen, die ihr Gesäß an alte Knastbrüder verkaufen." Auch Marlon Brando musste sich 1953 in "The Wild One" von einem Kleinstadt-Redneck als "Punk" beschimpfen lassen. So war das Wort "Punk" zumindest in den USA bereits seit Jahrzehnten eingeführt: als Schimpfwort der Spießbürger für Verlierer und Außenseiter - Huren, Homosexuelle, Tramps, Obdachlose, Gammler, Rocker, kurz: Dreck jeder Art. "Punk-Rock ist nichts Neues", meinte denn auch lakonisch der Kinks-Drummer Mick Avory im Frühjahr 1977. "Herumklotzen und an die Wand pissen, das hab ich schon vor acht Jahren gemacht." (ran 8/1977) Neu war allenfalls das Ausmaß an Müll, Beton und Langeweile, Arbeitslosigkeit, Depression und Hass, dem die erste Punk-Generation (in Großbritannien etwa 1975 - 1979, in Deutschland 1977 - 1980) ausgesetzt war. Neu waren auch die Fronten. Die alte Kriegsgeneration, mit der sich die studentischen Rebellen und die Hippies der Sechzigerjahre auseinander setzen mussten, war abgetreten. Auf ihren verwaisten Thronen hatten inzwischen die Revoluzzer von einst Platz genommen. Der "Marsch durch die Institutionen" hatte zwar nicht das kapitalistische System ernsthaft erschüttert, doch zahlreiche "68er" an der Macht - zumindest über die nachwachsende Jugend - beteiligt. Ob im Elternhaus (allerdings nur bei den bildungsbürgerlichen und Mittelschichtkids) oder im Jugendzentrum, in der Schule oder der Universität, im Journalismus und im Musikbusiness, überhaupt im kulturellen Alltag war es nicht schwer, auf tolerante langhaarige "Alternative" mit viel Verständnis für aufmüpfige Jugendliche zu treffen. Natürlich waren die meisten im Zuge ihres Alterungsprozesses der "Straße" genauso entrückt wie den einstigen Utopien vom herrschaftsfreien Leben. Nur: Die meisten merkten es nicht - oder wollten es nicht wahrhaben, dass sie nun selbst zu denjenigen gehörten, denen man nicht trauen sollte. Sie hörten schließlich noch die gleiche Musik wie früher, träumten immer noch mit Cat Stevens und Joan Baez von mehr Menschlichkeit und Wärme in dieser kalten Welt, kifften weiterhin (schwer illegal!) mit Neil Young und ballten mit Bob Dylan die Fäuste gegen ein Establishment, dem sie längst angehörten.
Um zu verstehen, warum die Teenager-Rebellion der späten Siebzigerjahre ausgerechnet im Punk explodierte, müssen wir einen Blick auf die Musikszene jener Jahre werfen. In den Verkaufscharts gaben Superstars wie Genesis, Yes, Supertramp, Pink Floyd und Emerson, Lake & Palmer den Ton an. Die meisten waren wirklich exzellente Musiker. Doch vor allem unerträglich satt. Fett wie ihr Sound. Universen vom Lebensalltag der Jugendlichen entfernt. Künstliche Götter auf dem Weg in den Pop-Olymp. Die Zeiten, in denen sich die "Jagger-Gang" noch auf der Straße mit Teddyboys prügelte und Rod The Mod Stewart den Totengräber-Blues lebte, waren vorbei. Rock'n'Roll war, wie John Cale von Velvet Underground im Juli 1975 bemerkte, "noch so'n Amüsement" geworden, "das der Regierung hilft, den Mob von der Straße fernzuhalten". Der Soundtrack zum Aufstand der Jugend gegen die spießige Erwachsenenwelt war zum lukrativen Bestandteil des Establishments mutiert, ein Tranquilizer für glückliche Konsumenten. "Auf der Flughafentoilette dudelt gedämpfter Rockverschnitt; beim Einkaufen im Supermarkt senkt er sich wie eine Bleiglocke übers Gehirn, sodass der Einkaufsakt mehr einem Schlafwandeln zwischen gefüllten Regalen gleicht; im Kino untermalt er die Langeweile der Dia-Werbung. Rock ist Begleitmusik für alle nur erdenklichen Betätigungen. Besonders eng ist sie mit dem Waren(ver)kauf verbunden, am auffälligsten in der Glitzerwelt der Boutiquen, wo eingängiger Rock einem schon vorab die Gewissheit gibt, mit dem Kauf dieser oder jener Jeans auch der Verheißungen der Jugend teilhaftig zu werden, durch die Modernisierung der eigenen Oberfläche mit 'dabei zu sein. Die Rockmusik insgesamt ist nicht mehr die Musik, die Jugendliche in ihrer Faust halten." (Penth/Franzen 1982, S. 262). Die Wilden der Sechzigerjahre waren tot - wie Jim Morrison, Janis Joplin und Jimi Hendrix - oder alt und langweilig geworden. Überlebende wie die Rolling Stones, The Who oder Led Zeppelin waren zu Cyberstars mutiert, die ohne Technik für einige hunderttausend DM gar nicht mehr auftreten konnten. "Etwas Improvisation in das Spiel der Rolling Stones zu bringen, bedeutet soviel wie eine Boeing 747 mit der Hand festzuhalten", gestand schon 1974 Stones-Tourmanager Peter Rudge einem Reporter (zitiert nach Leitner 1977, S. 18).
"Der Rock war in Bars und kleinen Clubs geboren worden; jetzt wurde er in gewaltigen Hallen und Sälen geschändet, die besser für politische Kundgebungen oder religiöse Zusammenkünfte gepasst hätten. Der Geist des Rock, sein Zorn und sein ungebärdiger Widerstand gegen konservative Emotionen, war bedroht von der Hygiene, vom Beharren der Gruppen auf einer Präsentation ihrer Musik ohne Ecken und Kanten, ohne die ungehobelte Inspiration und die unverhüllte Leidenschaftlichkeit, die den Rock'n'Roll immer so ausdrucksstark und aufregend gemacht hatten. Es war kein Gefühl des Zorns, der Verzweiflung, des Verlangens, der Gewalt, des Wahnsinns da: noch nicht einmal das Gefühl von Spaß, Heiterkeit, Ruhmseligkeit oder Lust. Es gab nur äußerst wenig, das einen zuhören machte, weil es teilweise für - oder über - einen sprach", schrieb sich Allan Jones, Redakteur der Musikzeitschrift Melody Maker, seinen Frust aus dem Leib (Jones 1978, S. 12f). Rockmusik hatte als Jugendmusik begonnen, die Opposition gegen die Erwachsenengesellschaft war ihr zentrales Merkmal von Chuck Berrys "Hail, hail, Rock'n'Roll / Deliver me from the days of old!" ("School Day") über "My Generation" von The Who bis zu "Ich will nicht werden, was mein Alter ist" von Ton Steine Scherben. Nun war der Rock mit seinen Fans erwachsen geworden - und damit, aus der Perspektive der nachwachsenden Generation, rührselig, bieder, langweilig, kraftlos. Memorials für Eltern und Lehrer, ohne Bezüge zu ihrem Leben.