Viele einstmals euphorisch geplante Reformvorhaben versickern nun im Sande. Lehrstellenmangel und Numerus clausus an den Universitäten verschärfen den Leistungsdruck für Jugendliche und lassen in den Medien desillusionierende Schlagworte wie das von der "überflüssigen Generation" aufkommen.
"Die Befürchtung, nach Abschluss des Studiums arbeitslos zu sein, lässt viele Studenten die Prüfung hinausschieben, obwohl sie alle Leistungen erbracht haben. Das heißt: Sie bauen sich selbst Barrieren auf, um die Prüfung nicht bestehen zu müssen, um nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen zu werden." (Joachim Gutmann, zitiert in: Körfgen 1978, S. 1001) "Diese Gesellschaft hat versäumt, ihrer Jugend sichtbare soziale Aufträge zu geben. Unorganisiert richten sie Altenheime ein, betreuen Strafgefangene, versorgen Kinder, suchen sich Auswege für das nicht abgeforderte soziale Engagement – und bleiben doch ganz unsicher, ob die Gesellschaft sie überhaupt brauchen kann." (Eberhard Lämmert, a.a.O., S. 1002)
Jugend wird zum "Sicherheitsrisiko", und das durchaus im doppelten Sinne, denn auch die repressive Politik der Großen Koalition, das Misstrauen der Herrschenden gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung (vor allem der Jugend), lebt weiter. Wer Willy Brandts Wahlkampfslogan "Mehr Demokratie wagen" ernst nahm, lebte seit dem "Extremistenbeschluss" vom Januar 1972, der alle vermeintlichen "Verfassungsfeinde" mit Berufsverbot bedrohte, gefährlich. "Keineswegs sind nur hartgesottene Spartakisten und DKP-Leute betroffen, sondern in der Mehrheit jugendbewegte Politisierer oder engagierte Demokraten, die allenfalls mit dem vagen Begriff "links" zu kennzeichnen wären – und dies zu sein ist zwar de jure nicht verboten, de facto aber wächst es sich zum Existenzrisiko aus." (Ulrich Greiner in der FAZ vom 12. Juni 1976) Von Anfang 1973 bis Dezember 1978 wurden 1,5 Millionen Bewerberinnen und Bewerber für den Öffentlichen Dienst auf ihre potenzielle "Verfassungsfeindlichkeit" hin überprüft und mehr als 4000 Berufsverbotsmaßnahmen durchgeführt.
Betroffen waren (Hochschul-)Lehrer, Juristen, Sozialarbeiter, Ärzte und Fernmeldehandwerker, aber auch Lokomotivführer, Gärtner, Bademeister und Köche. Sogar Schüler, die sich für einen vierwöchigen Ferienjob bei der "Stadtranderholung" für benachteiligte Kinder bewarben, wurden auf ihre "Verfassungstreue" überprüft. Schon, wer den "Extremistenbeschluss" als "Berufsverbot" bezeichnete, musste mit der Androhung von Disziplinarmaßnahmen rechnen. Menschen, die ihr Auto in der Umgebung von Veranstaltungen geparkt hatten, die der Verfassungsschutz für "verfassungsfeindlich" befand, wurden plötzlich zu Anhörungen geladen – Mitarbeiter des VS [Verfassungsschutzes] hatten in den umliegenden Straßen sämtliche PKW-Kennzeichen notiert. "Stasi?", kommentiert denn auch dreißig Jahre später der linksliberale Jurist Uwe Wesel. "Stasi. Vielleicht nicht direkt, aber sehr nah dran." (a.a.O., S. 225)
Die Revolte der späten Sechzigerjahre hatte die politisch Etablierten tief verunsichert. Die staatstragende bürgerliche Mitte fühlte sich von "Extremisten" bedroht – und schlug um sich. Unter dem Slogan der "wehrhaften Demokratie" wurde zur Hatz geblasen gegen alles, was als "links" galt: aufmüpfige Schüler, kritische Intellektuelle, progressive Lehrer.
Die Paranoia ging um und führte zu Allmachtsphantasien kafkaesken Ausmaßes: Alles sollte überprüft, überwacht, kontrolliert, bei Bedarf wie ein Virus von der Mehrheitsgesellschaft isoliert werden. Der Wortschatz der Deutschen erweitert sich um Begriffe wie "Putative Notwehr", "Ziel-" oder "Ringfahndung", "GSG 9", "Kriminelle Vereinigung" und "Baader-Meinhof-Bande". Die "Terroristenjagd" wird das innenpolitische Thema Nummer eins und die Ereignisse, die im so genannten "Deutschen Herbst" 1977 kulminieren, werden für viele Jüngere eine prägende Generationserfahrung.
"Ausbildungsgesetz abgelehnt – Antiterrorismus-Gesetz gebilligt" bringt eine Schlagzeile der Stuttgarter Zeitung vom 30. Juli 1976 die neue Gewichtung sozialdemokratischer Reformpolitik auf den Punkt. Und weitere Schlagworte beleben nun die Diskussion: Politiker sprechen immer häufiger vom "Sachzwang", und erste Studien registrieren bei einem Teil der Jugendlichen "Institutionenfeindlichkeit".
"Das Ergebnis", warnte Peter Glotz, von 1977 bis 1981 Wissenschaftssenator in Berlin, "wird ja nicht sein, dass die Leute Terroristen werden, das Ergebnis wird sein, dass die Leute Abteilungsleiter werden, Schlips und Kragen anziehen und Volvo fahren. Aber hinter diesen Statussymbolen wird dann eine aggressive Distanz zu unserem Staat nisten. Und wenn das bei jeweils 15 Prozent unserer Studenten der Fall wäre, dann ist das in zehn Jahren ein Potenzial, das unsere Demokratie ganz schön in Schwierigkeiten bringen kann." (zitiert in: Körfgen 1978, S. 1003)
"Der Eindruck, Staat und Gesellschaft hätten ihre eigene Jugend abgeschrieben, resultiert nicht nur aus dem rapiden Schrumpfen ihrer Berufs- und Beschäftigungschancen. Ebenso ausschlaggebend ist das Empfinden einer bewusst aufrechterhaltenen Unmündigkeit. Die meisten Studierenden sehen sich von allen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. Sie mutmaßen, dass man befürchtet, ihre Mitsprache beeinträchtige das Prinzip der größtmöglichen ökonomischen Effizienz." (a.a.O., S. 1002)
Auch die Stimmungslage an den Universitäten ist wieder schlecht. Das Studium scheint "perspektivlos", selbst Hochschulabgänger können sich nicht mehr darauf verlassen, den von ihnen angestrebten Arbeitsplatz zu bekommen, die "Vermassung der Seminare und Mensen" führt zu Isolierung und Anonymisierung.
"1968 hieß es: Bauernkinder, Arbeiterkinder sollten an die Universität kommen. Nun sind die Universitäten tatsächlich ausgeweitet worden, aber plötzlich wieder eingeengt: Numerus clausus und verschärfte Prüfungsordnungen, Kurzstudiengänge und schlechte Berufsaussichten. Das heißt: Der Jugendliche soll je nach öffentlichen Belangen einmal den Beruf anstreben, einmal ihm absagen; einmal viel Bildung wollen, einmal wenig. Wir haben ein bisschen Mitbestimmung gehabt Anfang der Siebzigerjahre – endlich, nachdem die alte deutsche autoritäre Universität schlechterdings nicht mehr tragbar war. Nun haben wir eine Rücknahme der Mitbestimmung. Statt dass man versucht, Schüler und Studenten in die Verantwortungsfähigkeit einzubeziehen, stößt man sie wieder aus." (Wolfdieter Narr, Politikprofessor an der Freien Universität Berlin, zitiert nach Körfgen 1978, S. 1004)
Das Stichwort "strukturelle Gewalt" macht die Runde. Diskutiert und theoretisiert wird immer noch gerne, doch es ging längst nicht mehr darum, real etwas zu verändern – zu übermächtig erschien "das System", "der Kapitalismus":
"Wir wollten die Revolution zur Befreiung aller und bekriegten uns nur selbst. Kriegszustand in Seminaren, Vorlesungen, Mensen, Clubräumen, Wohngemeinschaften, Einzelzimmern: Kriegsschauplätze austauschbar: Berlin, Freiburg, Heidelberg, Frankfurt, Tübingen – überall wurde gekämpft, mit Worten, mit Sätzen, mit Zitaten, mit Buchtiteln und Erscheinungsorten und Erscheinungsjahren und Auflagenhöhen. Jeder hatte seine Reizwortkaugummis zwischen den Zähnen, Dialektik, Klassenkampf, Regel, Widerspruch und Widerspiegelung oder umgekehrt. Es gab fast keine Probleme. Nur den Kapitalismus eben. Der war an allem schuld. Deswegen wurde er permanent beschworen. Den ganzen Tag lang. Aber abends war er immer noch da, währte über Nacht, steckte frühmorgens schon in Form des privatkapitalistisch betriebenen Tagesblatts im Zeitungsschlitz. Der Kapitalismus war resistent. Er hielt durch. Kein Referat, keine Parole, kein Flugblatt, keine Vollversammlung und auch keines dieser theoriegespickten Tutorien der Genossen von der "Argument"-Fraktion Berlin-Tübingen-Moskau-Havanna hat die Rotation dieses Systems unterbrochen." (Der Spiegel 1/1980)