Ein erster Testfall für die Reformbereitschaft wird die Wohnungspolitik. Vor allem in den Großstädten ist die Lage prekär. Die boomende Dienstleistungsbranche, aber auch die wachsenden Verwaltungen haben einen gesteigerten Bedarf an innerstädtischen Büro- und Geschäftsräumen produziert. Für Haus- und Grundeigentümer ist die Vermietung von Geschäftsräumen deutlich profitabler als die von Privatwohnungen. So werden vor allem einkommensschwache Mieter nach und nach aus den Innenstädten in die neuen Trabantensiedlungen des "sozialen Wohnungsbaus" an die Stadtränder verdrängt, entmietete Wohnungen bleiben häufig als Spekulationsobjekte leer stehen (bereits 1968 bundesweit 185000 Wohnungen) oder werden gleich abgerissen. Ganze Stadtviertel mit einstmals billigen Altbauwohnungen verwandeln sich so innerhalb weniger Jahre in moderne Verwaltungsstandorte und von breiten Straßen durchzogene Umschlagplätze für Konsumgüter. Vor allem in Universitätsstädten kommt es angesichts boomender Zahlen von Studierenden zu Engpässen bei gleichzeitig überall sichtbar leer stehenden Wohnungen. Um die Öffentlichkeit auf diese Missstände aufmerksam zu machen und Politiker zum Handeln zu zwingen, beginnen einzelne Bürgerinitiativen, vom Abriss bedrohte Häuser zu besetzen und in Eigeninitiative wieder bewohnbar zu machen.
Die Reaktion der Öffentlichkeit auf die Hausbesetzungen fiel nicht mehr so eindeutig aus wie auf die studentische Protestbewegung in den Sechzigerjahren: Trotz aller Kriminalisierungs- und Diffamierungsversuche durch Polizei und Politik wuchs das Verständnis für die "Instandbesetzer" (vor allem, nachdem immer mehr skandalöse Wohnungsleerstände und mutwillige -zerstörungen bekannt wurden), die Motive und Ursachen für die Besetzungen wurden öffentlich debattiert, selbst Mitglieder der tragenden Parteien empörten sich über Räumungsaktionen und forderten eine neue Wohnungspolitik ein. "Die Hausbesetzungen haben das Westend gerettet. Nichts anderes hätte dazu beigetragen", erklärt 25 Jahre später auch der ehemalige Kommandeur der polizeilichen Räumungstrupps (zitiert nach Wesel 2002, S. 248).
Aber auch zahlreiche Aktivistinnen und Aktivisten der undogmatischen "Neuen Linken" hatten aus den Schwächen der APO gelernt und begannen, ihre systemüberwindenden Utopien als alternative, zivilgesellschaftliche Projekte inmitten der Mehrheitsgesellschaft zu pflanzen und zu konkretisieren. Nur ein Teil der Alternativbewegung der Siebzigerjahre identifizierte sich mit der traditionellen Linken, organisierte sich in kommunistischen Kaderparteien oder suchte den Kampf mit dem System nach dem Vorbild lateinamerikanischer Guerillas. Viele konnten mit diesen rigiden Vorstellungen von Politik und "Links-Sein" nichts anfangen. Sie suchten eine Verknüpfung von Alltag und Politik. Engagement sollte sich gleich auszahlen, nicht erst nach der Revolution. Die Ziele und Wünsche wurden konkreter. Es ging um
Emanzipation statt Bevormundung (d.h. um die Realisierung von größeren persönlichen Freiheiten, Kreativität, teilweise auch Genuss, Konsum und Prestige im Privatleben sowie um mehr Selbstbestimmung am Arbeitsplatz)
Partizipation statt Herrschaft (d.h. um eine mehr oder minder grundsätzliche Kritik an gesellschaftlichen und politischen Institutionen und ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Selbstherrlichkeit; um den Einsatz für Grundrechte und politische Freiheiten der Menschen, für ökologisches Leben und Arbeiten, für Frieden und Abrüstung)
Soziales Engagement statt sozialer Ungleichheit (d.h. um soziale Gerechtigkeit, Sozialstaatlichkeit und ein Engagement für die sozial Schwachen)
Integration statt Ausgrenzung (d.h. um eine positive Bewertung von Gemeinschaft, Gleichheit, Kommunikation und Mitmenschlichkeit; keine soziale Gruppe – insbesondere Frauen, Kinder, Ausländer, Minderheiten – darf diskriminiert werden)
Authentizität statt Entfremdung (d.h. um eine Lebensführung und einen Lebensstil, der das Echte, Natürliche und Selbstgemachte hervorhebt) (vgl. Geiling 1996, S. 167f.).