Doch der kulturelle bzw. kommerzielle Befreiungsschlag der Jugend aus den moralischen Zwangsjacken nationalsozialistisch geprägter Eltern bedeutete nicht, dass "die Jugend" auch politisch vollkommen anders – progressiv – dachte. Im Gegen-teil: Studien jener Jahre weisen eher auf eine abgeschwächte Kontinuität hin, beschreiben "die Jugend" der Sechzigerjahre als mehrheitlich konservativ-konformistisch.
Es ist also zunächst nur eine qualifizierte Minderheit, Kinder der Bildungseliten, die sich politisch empört. Selbst von den Studentinnen und Studenten engagierten sich nur drei bis vier Prozent aktiv in der Protestbewegung, und auch langhaarige Blumenkinder waren in Deutschland rar gesät. Dennoch gelang es diesen wenigen, ihrer Zeit den Stempel aufzudrücken und schließlich sogar – wie keiner anderen Jugendbewegung zuvor – zur Initialzündung weit reichender Veränderungen in der Mehrheitsgesellschaft zu werden, deren Folgen zum Teil erst heute, mehr als 30 Jahre später, sichtbar werden.
Ermöglicht wurde diese erstaunliche Wirkungsgeschichte nur dadurch, dass die sanften Erschütterungen der Fünfzigerjahre durch Rock´n´Roll und Halbstarke, Jazzer und Exis, Teenager und die amerikanische Popkultur, dann schließlich der zweite rock- und popkulturelle Durchbruch der Beatles, Rolling Stones etc. immer mehr Menschen prägten oder zumindest sensibilisierten. Die Mehrheitsgesellschaft war kein monolithischer Block mehr, die jungen Wilden bildeten lediglich die Vorhut einer breiten Stimmungslage, die einen spürbaren Umbau der Gesellschaft wünschte. "Die neue Jugendbewegung ist Indikator, auch Verstärker einer faktischen Verbindlichkeitsschwäche unseres politischen Systems. Sie hat diese Verbindlichkeitsschwäche nicht verursacht, sondern ist durch sie verursacht worden", erkannten selbst konservative Professoren wie Hermann Lübbe, Jahrgang 1926 (Lübbe 1975, S. 53). "In diesem Sinne war unsere "Kulturrevolution" weitgehend Konformität", lautete gar das provokative Fazit des Soziologieprofessors Erwin Scheuch, Jahrgang 1928, über die Rebellion der Bürgerkinder in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre. "Bitte erinnern Sie sich an das Wehklagen über den Zustand der Jugend vor zehn Jahren! Da konnte man nicht vom Protest der Jugend reden, wohl aber vom Protest der Erwachsenen gegen das Fehlen dieses Protestes. Der Protest gegen Werte der Erwachsenengesellschaft ist unseren Bildungsidealen entsprechend eine Norm, eine positive Erwartung – wobei dann die Inhalte durchaus befremden, ja Feindschaft zur Folge haben können. Aber zunächst ist Jugendrevolte für junge Menschen aus "gebildeten" Elternhäusern ein konformes Verhalten." (Scheuch 1975, S. 73f.)
Noch 1965 kommt eine Studie zu dem Schluss, es sei "gegenwärtig in Deutschland kaum vorstellbar, dass etwa Studenten gegen ihre Professoren streiken oder auf andere Weise in größerem Ausmaß ihre Interessen geltend machen. Denn Voraussetzung für wirksame öffentliche Aktionen der Studenten wäre ein, wenigstens in einer größeren Minderheit vorhandenes, politisches Bewusstsein..." (Adam 1965, S. 70) Vier Jahre später hatte sich die Situation radikal gewandelt: "Die Protestbewegung hat das politische Bewusstsein der Studierenden entscheidend verändert. Die Umfragedaten, die vorliegen, lassen den Schluss zu, dass die Studenten in einem unerwartet hohen Ausmaß politisiert worden sind, ohne dass bisher eine Polarisierung in zwei Lager eingetreten wäre. Die empirischen Anhaltspunkte sprechen für die Richtigkeit der Behauptung, dass heute zum ersten Mal seit den Tagen des Vormärz wieder eine "linke" Studentengeneration an deutschen Universitäten vorherrscht." (Habermas 1969, S. 28)
Der Anlass für zahlreiche studentische Proteste war natürlich hausgemacht, nämlich die miserablen Zustände an deutschen Universitäten: sinnlos-autoritäre Strukturen und Umgangsformen, die die Studierenden entmündigten, aber auch überkommene Lehrinhalte und -methoden, die den Anforderungen der modernen Gesellschaft nicht mehr genügten, unzulängliche räumliche und andere Arbeitsbedingungen, die dem Ansturm von jährlich bis zu 20000 neuen Studenten nicht gewachsen waren. "Unser mittelalterliches Hochschulsystem praktiziert eine empörende Verletzung menschlicher Würde. Erwachsene Menschen werden wie unmündige Kinder behandelt und unwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen unter fast unumschränkter Herrschaft selbstherrlicher Lehrpersonen ausgeliefert. Wer diesen Zustand, der immerhin der qualifiziertesten Gruppe unserer Gesellschaft zugemutet wird, nicht durch radikale Demokratisierung und Beschneidung professoraler Herrschaftsprivilegien, durch radikale Verbesserung der studentischen Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verändern bereit ist, der darf sich nicht wundern, wenn dieser qualifizierte, verelendete, zutiefst durch die Gesellschaft frustrierte und diese Gesellschaft durchschauende Teil des Proletariats mit verzweifelnden, revolutionären oder pseudorevolutionären, anarchistischen Aktionen zurückschlägt", prophezeite Mitte der Sechzigerjahre der Professor für Strafrecht Werner Maihofer, der einige Jahre später Innenminister der sozialliberalen Koalition werden würde (hier zitiert nach Uesseler 1998, S. 98f.).