Anlässlich des 100. Geburtstages der Widerstandskämpferin Sophie Scholl im Jahr 2021 initiierten die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten SWR und BR ein neuartiges Instagram-Projekt. Dabei sollte Sophie Scholl mitsamt ihrem historischen Umfeld "aus den Geschichtsbüchern ins Hier und Jetzt" geholt werden. Die Schauspielerin Luna Wedler übernahm die Aufgabe, die "User*innen emotional, radikal subjektiv und in nachempfundener Echtzeit an den letzten zehn Monaten ihres [Scholls] Lebens teilhaben" zu lassen. Was als innovativer Versuch beschrieben wurde, neue Wege für die Vermittlung historischer Ereignisse zu finden, zog unmittelbar scharfe Kritik auf sich. Über das Projekt, dem am 7. März 2022 757.000 Menschen auf Instagram folgten, schreibt die Journalistin Nora Hespers, dass es einerseits "enorm ambitioniert und wirklich innovativ" sei, andererseits diverse Probleme bestünden: So mangele es häufig an einer angemessenen Kontextualisierung; es würden entlastende Narrative der Täter:innengeneration bestärkt; während Sophie im Vordergrund stehe, rücke ihr Bruder Hans, der eine weitaus zentralere Funktion für die Widerstandsgruppe Interner Link: Die Weiße Rose innehatte, in den Hintergrund – was auch im Kontext von dessen zurückhaltender gesamtgesellschaftlicher Rezeption aufgrund seiner mutmaßlichen Homo- oder Bisexualität gesehen werden sollte; ferner bemängelte Hespers in dem Instagram-Format eine intransparente Vermischung von Fiktion und historischen Tatsachen; eine "Verharmlosung der Rolle ihres Freundes Fritz, der als Offizier bei der Wehrmacht in Russland an der Front kämpft"; und schließlich eine starke (Über-)Identifikation der User:innen mit der fiktionalen Figur, die das Gefühl hinterlasse, "dass damit vor allem den eigenen Großeltern verziehen werden soll."
Der Münchner Journalist Robert Andreasch meint, dass in der allgemeinen deutschen Erinnerung an die Widerstandsgruppe ein "auf Hans und Sophie Scholl verengter Blick auf das Netzwerk der Weißen Rose geworden [ist] und ein überhöhtes, idealisiertes Bild der Studierenden und Jugendlichen entstanden" sei. In der postnazistischen deutschen Nachkriegsgesellschaft stehe die Weiße Rose für ein "identitätsstiftendes, positives Geschichtsnarrativ", bei welchem nicht "auf eine dezidiert linke oder jüdische Traditionslinie des Widerstands" zurückgegriffen werden muss.
Und auch die taz-Redakteurin Erica Zingher stellt die Frage, warum erneut eine Widerstandskämpferin im Mittelpunkt eines erinnerungskulturellen Projektes steht, das die breite Öffentlichkeit erreicht, die vor allem für nichtjüdische Nachfahr:innen der Täter:innengeneration das Potenzial zur Identifikation biete. "Offenbar", schreibt Zingher, sei "die deutsche Gesellschaft 76 Jahre nach dem Kriegsende für solche Figuren des Widerstands [jüdische oder kommunistische] noch immer nicht bereit".
Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn man sich mit der Anwesenheit der Abwesenheit jüdischer Widerstandskämpfer:innen in deutschen Film- und Fernsehproduktionen befasst. Es wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Filme und Serien über tatsächliche Akteuer:innen, wie die Weiße Rose, das Interner Link: "Unternehmen Walküre" oder auch über fiktionale entlastende Erzählungen wie Interner Link: Unsere Mütter, unsere Väter produziert. Doch für den jüdischen Widerstand sind die Produktionen rarer. Es kann v.a. auf die deutsch-israelische Koproduktion Plan A der israelischen Regisseure Doron und Yoav Paz verwiesen werden: in diesem Film wird anhand eines fiktionalen Charakters über die Ereignisse rund um die Gruppe jüdischer Shoa-Überlebender namens Nakam (hebräisch für "Rache") berichtet, die sich zusammenschlossen, um sich für den systematischen Massenmord an Jüdinnen*Juden zu rächen. Die Beispiele sind zahlreich und bewegen sich nicht nur im Bereich des fiktionalen (Inglourious Basterds, Hunters). An dieser Stelle seien beispielhaft genannt die Widerstandskämpfe von Herschel Grynszpan, Gertrude Boyarski, David Frankfurter, Mira Fuchrer, Gad Beck, Violeta Yakova, Leon Poliakov, Faya Schulman, Jean Améry. Besonders wichtig ist es uns ebenfalls den jüdischen Widerstand außerhalb Zentral- und Osteuropas, also insbesondere in Nordafrika sowie explizit den Widerstand jüdischer Frauen hervorzuheben, die zumindest in den populären Widerstandsdiskursen nur selten einen besonderen Fokus erfahren.
Hinsichtlich des augenscheinlichen Mangels an Repräsentation jüdischer Widerständigkeit in erinnerungskulturellen Narrativen kritisierte einer der Autoren dieses Textes bereits vor einiger Zeit, dass Jüdinnen:Juden in der deutschen Gesellschaft und ihren Erinnerungsnarrativen vor allem dann sichtbar werden, wenn sie sich den Erwartungen fügen als Stimme der Versöhnung und Vergebung zu dienen. Sobald Jüdinnen:Juden diesem Bild jedoch nicht entsprechen, verschwinden sie aus den populären Erzählungen deutscher Erinnerungskultur: je größer der Widerspruch, desto geringer die Sichtbarkeit. Dieses Schicksal ereilte sowohl queere als auch wehrhafte Jüdinnen:Juden. Noch mehr sogar, wenn beides zusammentraf. Erinnerungskulturelle Diskurse, ob in der breiten Öffentlichkeit oder auch in progressiven Bewegungen sind zumeist durch die Täter:innenperspektive geprägt. Die Zugehörigkeit von Jüdinnen:Juden zur deutschen Gesellschaft und zu progressiven Bewegungen wird weiterhin verdrängt, wie es Judith Coffey und Vivien Laumann in Gojnormativität formulieren. Für diese Diskurse existieren Jüdinnen:Juden nur in der Rolle des vernichteten 'Anderen‘, daran konnten auch popkulturelle Referenzen wie Inglourious Basterds oder Nakam bisher nur wenig ändern.
Die mangelnde Auseinandersetzung mit jüdischer Widerständigkeit hat im deutschsprachigen Diskurs auch die Folge, dass die Ambivalenzen und Widersprüche des Begriffes über den wissenschaftlichen Kontext hinaus kaum bearbeitet erscheinen. Nähern wir uns dem Begriff an, dann sind die ersten Assoziationen historischer und religiöser Natur: Von Erzvater Jakob, der in der Bibel den Namen Israel (dt.: mit G’tt ringen) erhielt, über die Aufstände der Makkabäer gegen die hellenistische Vormacht der Seleukiden (167 bis 142 v. Chr.) in der Chanukka-Geschichte, bis hin zu den Erfahrungen jüdischer Soldat:innen, Interner Link: Widerstandskämpfer:innen und Partisan:innen, die u.a. "mit der Waffe in der Hand gegen Hitler" kämpften. Im deutschen Kontext nach 1945 sind beispielsweise die Verhinderung der Uraufführung des antisemitischen Stücks "Der Müll, die Stadt und der Tod" von Rainer Werner Fassbinder 1975 durch die jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main durch eine Bühnenbesetzung oder die Proteste jüdischer Aktivist:innen gegen die Abschiebung von Rom:nja nach den rassistischen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen 1992 zu nennen.
In der Gegenwart handelt es sich bei jüdischer Widerständigkeit auch um eine Art Lebensgefühl junger Jüdinnen:Juden in Deutschland. Das verdeutlichten die Reaktionen junger Jüdinnen:Juden auf den Kurzfilm Masel Tov Cocktail (2020). Viele von ihnen bejubelten den Film regelrecht, weil sie zum ersten Mal Erfahrungen auf der Leinwand sahen, die sie in ihrem eigenen Alltag gemacht haben. Das gojnormative Othering, das viele von ihnen selbst erfahren haben – d.h. die von nicht-jüdischen Menschen ("Goj") gesetzte nichtjüdische Norm als gesellschaftliche Struktur, mit denen gesellschaftliche Prozesse des Otherings von Juden:Jüdinnen einhergehen –, wurde nicht nur eindrücklich, sondern auch unterhaltsam und aufrüttelnd dargestellt.
Mögliche Quellen jüdischer Widerständigkeit
Facetten, die unserer Ansicht nach in einer Ideengeschichte jüdischer Widerständigkeit besonderer Aufmerksamkeit bedürften, sind jene, die in ihrer Bedeutung für die Gegenwart produktiv gemacht werden können und aus denen jüdische Widerständigkeiten Potenzial schöpfen könnten. Felder, die für uns im Fokus stehen, weil sie Ursprung unaufgelöster Spannungsverhältnisse sind, betreffen die Frage von Universalismus (Tikkun Olam) und Partikularismus (Kiddusch HaSchem & Kiddusch HaChajim), den Konflikt von Interner Link: Zionismus und Interner Link: Antizionismus sowie unterschiedliche Vorstellungen des Antifaschismus.
Die Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus ist eng verbunden mit den erregt geführten Auseinandersetzungen um (Anti-)Zionismus, Interner Link: Israel und den Diasporismus. Einzelne Teildebatten beschäftigen sich dabei mit der Frage, in welcher Relationalität sich Jüdinnen:Juden zu einer nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft, in denen sie leben, begreifen sollen. Diese Relation hat Konsequenzen sowohl für das Verständnis jüdischer Identität als auch von Religiosität und Geschichte. Diese Fragestellung erhält ihre besondere Bedeutung durch die Geschichte der Jüdinnen:Juden in Deutschland im 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts: während sie in dieser Zeit zunächst einen Interner Link: rasanten kollektiven sozialen Aufstieg erlebten, sich ihre Interner Link: bürgerliche Gleichstellung und gesellschaftliche Emanzipation erkämpften, im Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik Interner Link: politisch entscheidend mitwirkten – wurde jüdisches Leben in der NS-Zeit und der Interner Link: Shoa fast vollständig vernichtet. Vor diesem Erfahrungshintergrund ist die Frage der Relationalität eine äußerst spannungsreiche. Wiederum bezogen auf das Spannungsfeld (Anti-)Zionismus, Israel und Diasporismus beziehen auch die jüdischen Quellen selbst keine eindeutige Position. Auslegungen, die einen "unsichtbare[n] Bau des Judentums" als Folge des "Zerfall[s] des sichtbaren Tempels" proklamierten, können sich auf Grundlage der gleichen Textgrundlage rechtfertigen, wie diejenigen, die eine ‚Rückkehr‘ in die jüdische Heimstatt forderten. Auf die Gegenwart bezogen und das Verhältnis zu Israel aus der Diaspora heraus, bedeutet das: Weniger die konkreten Handlungen des jüdischen Staates, sondern vielmehr die eigene Identität als Minderheit in einer nichtjüdischen Gesellschaft verlangt, zu erörtern, ob überhaupt und falls ja, in welchem Verhältnis man sich selbst zu jenem jüdischen Staat setzt. Die Ambivalenz und Pluralität jüdischer Identitätsvorstellungen ermöglicht ebenfalls eine breite Debatte darüber. Auch wenn die überwiegende Mehrheit der Jüdinnen:Juden Europas sich nicht für eine Auswanderung nach Israel entscheidet, betonen die meisten dennoch die wichtige Rolle, die der Staat für die eigene Identität einnimmt.
Die Interner Link: (geo-)politische Komplexität des arabisch-israelischen Verhältnisses verschärft diese Diskussion insbesondere unter Jüdinnen:Juden, die sich selbst der politischen Linken oder progressiven Bewegungen zugehörig fühlen. Für sie besteht die Herausforderung darin, auszuhandeln, in welchem Verhältnis sich jüdische Selbstbehauptung zum Kampf für eine auf "Rechtsgleichheit der Verschiedenen" beruhende Gesellschaft befindet. Die historischen Entwicklungen im arabisch-israelischen Konflikt haben dazu geführt, dass der Aushandlungsprozess von Universalismus und Partikularismus, von Zentrum und Peripherie eng mit diesem verknüpft wurde. Menschenrechts- und Sicherheitsfragen ergeben ein kompliziertes Geflecht, in dem das historische Bewusstsein für die jüdische Verfolgungs- und Vernichtungsgeschichte auf die mit den in militärischen Auseinandersetzungen und durch die Besetzung palästinensischer Gebiete auftretenden Diskriminierungs- und Gewaltverhältnisse trifft. Dazu tritt der Konflikt im jeweiligen Selbstverständnis von Jüdinnen:Juden, die als Minderheit in der Diaspora leben und jenen, die im jüdischen Staat als Mehrheit andere gesellschaftliche Normsetzungen erleben. Weitere Komplexität erhält diese Debatte insbesondere für Jüdinnen:Juden in den postnazistischen Gesellschaften Interner Link: Deutschlands und Interner Link: Österreichs.
Denn in diesen Gesellschaften ist nicht nur die Erinnerung an die Shoa weithin etabliert, sondern auch Interner Link: dessen Abwehr und Instrumentalisierung durch Teile nichtjüdischen Gesellschaft zu beobachten. Konkret bedeutet das: Jüdinnen:Juden erleben in diesen Ländern die Negation jüdischer Existenz und das Unwissen über lebendige jüdische Erfahrungen, die Verdrängung von antisemitischer Gewalt und antisemitischem Terror, das mangelnde Verständnis, was genau Jüdinnen:Judenfeindschaft ist, die Distanzierung von der eigenen Täter:innengeschichte in vielen nichtjüdischen Familien und die fortdauernde Bedrohung jüdischen Lebens. Daraus ergibt sich wiederum eine Konflikthaftigkeit gegenüber der politischen Linken und progressiven Bewegungen: denn trotz ihres Anspruchs auf Anerkennung und Emanzipation marginalisierter Gruppen wird diese alltägliche Wirklichkeit jüdischer Erfahrungen und das Benennen von Antisemitismus kaum wahrgenommen oder gar negiert. Aus dem Versuch diesen Widerspruch aufzulösen, entfaltet sich ein angespanntes Verhältnis einiger Jüdinnen:Juden gegenüber sich als progressiv verstehender Gruppen. Das wiederum nutzen häufig rechte politische Bewegungen, die versuchen sich selbst gegenüber der Kritik des Antisemitismus zu immunisieren, indem sie einen "Antisemitismus der Anderen" betreiben.
Jüdische Widerständigkeit ist ein Phänomen, das weder im erinnerungskulturellen noch im politischen Rahmen bisher eine breitere Rezeption erlebt hat. Mit Blick auf die historischen Widerständigkeiten insbesondere während des Zweiten Weltkriegs und der Shoa scheint im Besonderen zu gelten, was Samuel Salzborn im Allgemeinem formulierte: In Deutschland sei eine Erinnerungsabwehrgemeinschaft entstanden, die durch antisemitische Projektionen und ethnische Selbstviktimisierungsfantasien zusammengehalten werde. Neue Erkenntnisse über die NS-Vergangenheit und den Antisemitismus, die eine hochprofessionelle (geschichts-)wissenschaftliche Forschung stetig liefert, treffen auf eine "historisch desorientierte und weitgehend faktenresistente deutsche Bevölkerung".
Der Begriff der Widerständigkeit lässt sich vielfältig bestimmen. Er dient dazu eine gewisse Mentalität zu beschreiben, die junge Jüdinnen:Juden zu einer Form der Selbstbehauptung geformt haben. Gleichermaßen können mit ihm bestimmte historische als auch religiöse Erzählungen umfasst werden, in denen Jüdinnen:Juden nicht als Objekt auftreten, sondern als Subjekte gegen Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse ankämpften, in denen sie eine unterlegene Rolle einnahmen. Ebenfalls umfasst er aber auch soziale Kämpfe der Gegenwart, in denen Jüdinnen:Juden konflikthafte Aushandlungsprozesse durchlaufen, die auch breitere gesellschaftliche Rezeption erfahren.