Fremdzuschreibungen
Jüdisch zu sein ist auch heute in Deutschland keine Selbstverständlichkeit und mit alltäglichen Herausforderungen verbunden. Wenngleich auch 2021 das
Um zu verstehen, warum jüdische Gemeinden und die empowernden Räume, die in ihnen geschaffen werden, für viele jüdische Menschen in Deutschland bis heute eine so prägende Rolle einnehmen, ist die jüdische Jugendarbeit und deren Entwicklung von zentraler Bedeutung. Um aber die Gegenwart jüdischer Jugendarbeit zu begreifen, ist auch ein Blick in ihre Entwicklungsgeschichte notwendig.
Entstehungsgeschichten organisierter jüdischer Fürsorgestrukturen für Kinder und Jugendliche
Ein kurzer Blick in die Zeit vor der Interner Link: Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933: Im Jahr 1924 gründete sich in der Trägerschaft der
Die jüdischen Organisationen, die sich nach 1945 wiedergründeten, machten es sich vor allem zur Aufgabe, Entschädigungszahlungen und humanitäre Hilfsleistungen zu verwalten und Jüdinnen:Juden bei der Emigration in die USA oder nach Israel zu unterstützen. Und so waren auch die Kinder- und Jugendmaßnahmen, die in den ersten zehn Jahren nach Ende des Krieges entstanden, zunächst eher Gesundheitskuren und psychosoziale Erholungsfreizeiten. Nach und nach wurden jedoch die
Mit ihnen veränderte sich auch die Jugendarbeit. Nichtsdestoweniger konnte zu diesem Zeitpunkt keinesfalls von einer Zukunft für jüdisches Leben im Land der Täter ausgegangen werden. Sichere Räume waren für die in weiten Teilen schwersttraumatisierten Überlebenden von essenzieller Bedeutung. Dabei wurden auch israelische Betreuer:innen engagiert, um einerseits die einst in Deutschland entstandene jüdische Pädagogik
"Ich erinnere, dass die Kinder in den 50ern und 60ern anders waren als die Kinder heute. Auf viele Weisen war es viel schwerer mit ihnen umzugehen.
Sie kamen aus völlig unterschiedlichen Hintergründen und ihr Verhalten spiegelte dies wieder. Die eine Gruppe waren die Kinder der Überlebenden, viele von ihren [sic] aus osteuropäischen Ländern, die aus den Lagern befreit worden waren und die damals als sogenannte Displaced Persons (DPs) galten.
Sie trugen die Mentalität des "Shtetls" noch tief in sich. Sie sprachen Jiddisch miteinander […]. Diese Kinder kamen aus Häusern, in denen man ihnen einbläute, dass Deutschland nur eine Zwischenstation sei, bis sie ein Visum in die USA oder nach Kanada bekämen. Sie wollten sich in keinster Weise der deutschen Gesellschaft annähern und fanden es auch schwer, sich in unsere Gruppe einzufinden.
Die andere Gruppe waren Kinder von Israelis, die nach dem Krieg nach Deutschland zurückgekehrt waren, die nur schwer in dem Umfeld des Nachkriegs-Deutschlands zurechtkamen. Dass wir Hebräisch sprachen, half uns dabei. Wir mussten all diese Kinder dazu ermutigen, sich auf diese neue Gemeinschaft einzulassen und ihnen Schritt für Schritt ihre Unsicherheiten und ihr Misstrauen nehmen. Schließlich fanden viele der Kinder ein zweites Zuhause auf den Freizeiten sowie in den örtlichen Jugendzentren, die von Israelis, wie in meinem Fall in Düsseldorf, geleitet wurden.
Auf die Juden in Deutschland wurde in anderen jüdischen Gemeinden auf der Welt herabgesehen. Menschen konnten nicht verstehen, wie Juden nach all dem was geschehen war, in diesem Land noch leben konnten.
Jedes Mal wenn ich in Israel zu Besuch war, stellten mir die Leute die gleichen Fragen: Wie und Warum?
Israel hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine diplomatischen Beziehungen mit Deutschland aufgenommen, Israelis durften nicht nach Deutschland reisen.
Meine Antwort war immer: "Wenn keine Juden mehr in diesem Land leben, dann haben wir Hitlers Traum vom judenreinen Deutschland erfüllt und das wollen wir nicht." Die jüdischen Kinder sahen die Israelis als Symbol von Unabhängigkeit, Stolz und Sicherheit."
Für die ZWST, die 1951 wieder durch den ein Jahr zuvor gegründeten
Mit der Zeit bildeten sich Jugendbewegungen, die den Anspruch hatten, sich ideologisch und international zu vernetzen. Neben dieser stärkeren ideologischen Ausrichtung ging es auch darum, sich selbstständig und unabhängig zu organisieren und sich von den institutionalisierten Strukturen der jüdischen Gemeinden abzugrenzen. Gleichwohl blieb ein Großteil der jüdischen Gemeinschaft auch weiterhin auf stark subventionierte Fürsorgestrukturen angewiesen, Armut bestimmte einen großen Teil der jüdischen Gemeinschaft.
Im Rahmen einer Ehemaligenveranstaltung anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der ZWST wurden Berichte von ehemaligen Teilnehmenden und Wegbegleiter:innen der Jugendarbeit aufgezeichnet. Eine Teilnehmerin schrieb:
"Ich wurde 1961 in Münster, Westfalen geboren. (…) In einer Familie mit einer Holocaustüberlebenden aufzuwachsen, war schwer und anders. Wir waren zwar eine Familie, aber irgendwie auch wieder nicht. Etwas fehlte.
Ferienfreizeit in der Bildungsstätte der ZWST in Bad Sobernheim (1980er Jahre). (© Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland)
Ferienfreizeit in der Bildungsstätte der ZWST in Bad Sobernheim (1980er Jahre). (© Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland)
Etwas, das meine Mutter uns aufgrund ihrer schrecklichen Erfahrungen nicht geben konnte: Zusammenhalt, Geborgenheit, Zuwendung und Schutz. Was ich zuhause entbehrte, erfuhr ich auf den Machanot
Zuwanderung
Die Zuwanderung der russischsprachigen Jüdinnen:Juden aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion stellte für die jüdische Gemeinschaft ab den 1990er Jahren eine der größten Herausforderungen ihrer gesamten Entwicklung dar, da eine zahlenmäßig kleine Minderheit eine überwältigende Mehrheit integrieren musste. Durch die Zuwanderung sind nunmehr über 93 Prozent der Gemeindemitglieder in Deutschland russischsprachig. Die Soziologin und Migrationsforscherin Julia Bernstein beschreibt die zusätzliche Herausforderung für Menschen, die aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland emigrierten, folgendermaßen: Sie hatten mit der Diskrepanz zu kämpfen, in der ehemaligen Sowjetunion als Juden diskriminiert worden zu sein, u.a. durch die Markierung im Pass und in den Geburtsurkunden – um dann in den Jüdischen Gemeinden in Deutschland aufgrund ihres Mangels an Kenntnissen über jüdische Traditionen durch teilweise sehr traditionell geprägte Gemeindemitglieder, für die die jüdische Tradition wiederum etwas wie Heimat bedeutete, als "nicht jüdisch genug" erachtet zu werden.
Jugendarbeit als empowernder Raum
Heute bestehen im Bereich der jüdischen Jugendarbeit vielfältige regionale und überregionale Angebote: Die meisten von ihnen sind in die Infrastrukturen örtlicher jüdischer Gemeinden eingebettet. So verfügen viele jüdische Gemeinden über ein Jugendzentrum oder Angebote der offenen Jugendarbeit, in denen sich Jugendliche mindestens einmal die Woche zu Programmen zusammenfinden. Das Kinder-, Jugend- und Familienreferat der ZWST bildet den Zusammenschluss der Jugendarbeit für jüdische Gemeinden. Auf den im Sommer und Winter stattfindenden ca. 15 Ferienfreizeiten nehmen pro Jahr ca. 1.400 jüdische Kinder und Jugendliche zwischen acht und 18 Jahren teil. Des Weiteren werden über das Referat zahlreiche Ehrenamtsfortbildungen, insbesondere im Bereich der Ausbildung der Jugendleiter:innen, pädagogische Materialien und Unterstützungsmaßnahmen für lokale Institutionen angeboten. Ferner gibt es auch jüdische Jugendorganisationen, die mehr oder weniger unabhängig von jüdischen Gemeinden operieren und in ihrer Struktur an internationale jüdische Jugendorganisationen angegliedert sind. Aktiv sind in Deutschland Netzer, Bnei Akiwa, die Zionistische Jugend Deutschland und HaShomer Hatzair. Sie alle sind religiös sehr unterschiedlich ausgerichtet, entstammen aber alle der Tradition zionistischer Jugendbewegungen. Es gibt den
Das Machane, das hebräische Wort für Zeltlager, gilt innerhalb jüdischer Communities – nicht nur in Deutschland, sondern in jüdischen Jugendorganisationen weltweit – als Synonym für Ferienfreizeiten für jüdische Kinder und Jugendliche. In US-amerikanischen popkulturellen Kontexten taucht das "Jewish Summer Camp" häufig analog zu den Pfadfindern auf.
Safe Space
Eine weitere strukturelle Folge der Zuwanderung ist, dass die Menschen nach einem Verteilungsschlüssel auf die gesamtdeutsche Bundesrepublik verteilt wurden, um jüdisches Leben flächendeckend zu stärken. Faktisch können jedoch in einem großen Teil der 106 jüdischen Gemeinden, von denen viele nur wenige 100 Mitglieder haben, jungen jüdischen Menschen nur eine spärliche Infrastruktur jenseits des formellen jüdischen Religionsunterrichtes angeboten werden. Jüdisch in Deutschland zu sein bleibt folglich für die allermeisten jungen jüdischen Menschen eine einsame Erfahrung. Hinzu kommt die antisemitische Alltagserfahrung, die wie eingangs beschrieben kaum einem jüdischen Menschen in Deutschland erspart bleibt. Der Raum Machane wird vor dieser Kulisse ein informeller und sehr persönlicher Raum der Selbstverwirklichung, ein sozialer Empfangsraum, der für die meisten Kinder und Jugendlichen der einzige Raum ist, in dem sie sich nicht erklären müssen. Diesen Safe Space beschreiben viele Jugendliche als Ort, an dem sie auch das zurückgeben wollen, was sie selbst erhalten haben, als Ort einer peer-geleiteten Kollektiverfahrung, als Ort jüdischer Selbstverständlichkeit.
Und so lassen sich die zunehmende Sichtbarkeit und die öffentliche politische Positionierung junger jüdischer Erwachsener nicht zuletzt auch auf diesen Inkubationsort zurückführen. Viele der Geschichten, die jüdische Menschen heute erzählen und schreiben, haben irgendwann mal – direkt oder indirekt – auf einem Machane begonnen. Auch diese Räume verändern sich stark, sie werden geprägt durch internationale Vernetzung, durch Social Media, durch den Aktivismus der ehrenamtlich Engagierten, ob nun für Fridays for Future, Inklusion oder LGBTQIA*-Rechte. Nicht nur weil es kaum antisemitismusfreie Räume in Deutschland gibt, sollten diese Räume geschützt werden und bleiben. Das ressourcenorientierte Erleben, was es bedeuten kann jüdisch zu sein, dass dieses Erleben mit Kultur, diskursiver Auseinandersetzung und Spaß verbunden sein kann, bleibt unerlässlich, damit jüdisches Leben ein selbstbestimmter Bestandteil einer diversen Gesellschaft sein kann. Auch in Deutschland.