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Jüdische Jugendarbeit in Deutschland | Jüdisches Leben in Deutschland – Vergangenheit und Gegenwart | bpb.de

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Jüdische Jugendarbeit in Deutschland

Laura Cazés

/ 11 Minuten zu lesen

Jüdische Gemeinden und die in ihnen geschaffenen empowernden Räume nehmen für viele jüdische Menschen bis heute eine prägende Rolle ein. Der Beitrag zeichnet Geschichte und Gegenwart sowie Funktion und Bedeutung der jüdischen Jugendarbeit nach.

Ferienfreizeit in der Bildungsstätte der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland in Bad Sobernheim (2017). (© Robert Poticha)

Fremdzuschreibungen

Jüdisch zu sein ist auch heute in Deutschland keine Selbstverständlichkeit und mit alltäglichen Herausforderungen verbunden. Wenngleich auch 2021 das Interner Link: Festjahr "1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" gefeiert wird und somit das Erbe jüdischer Existenz eigentlich nicht aus der kulturellen Entwicklung dieses Landes wegzudenken sein sollte: Jüdinnen:Juden sind in ihrem Alltag vor allem mit Fremdzuschreibungen konfrontiert und werden vor der Kulisse mehrheitsgesellschaftlicher Assoziationen mit dem Judentum adressiert. In allen Situationen ihres Alltags können ihnen Antisemitismus oder eine ungefilterte Konfrontation mit der Interner Link: Schoah und mit den damit einhergehenden Abwehrmechanismen begegnen. Des Weiteren werden sie in ungeschützten und öffentlichen Räumen immer wieder in die Situation gebracht, sich stellvertretend für die Politik des Staates Israel zu äußern, ohne um diese Rolle selbst jemals gebeten zu haben. Studien, die in den vergangenen Jahren den Interner Link: Bildungsraum Schule als Raum für Antisemitismuserfahrungen untersucht haben, bestätigen dieses Bild: Jüdische Schüler:innen fühlen sich nicht nur mit Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen von Gleichaltrigen alleine gelassen, sie berichten auch von grenzüberschreitenden und verletzenden Bemerkungen seitens der Lehrkräfte selbst, wenn jüdisches Leben im Kontext der Shoah oder des Interner Link: Nahostkonfliktes im Unterricht thematisiert wird. Was jedoch selten Eingang in die öffentliche Auseinandersetzung mit jüdischem Leben findet, sind zum einen die Interner Link: vielschichtigen Lebensrealitäten und Biografien jüdischer Menschen, die heute in Deutschland leben und die jenseits des kollektiven Erbes der Shoah auch Migrationserfahrungen, religiöse Diversität und vielfältige politische Einstellungen und Lebensentwürfe mit sich bringen; und zum anderen die fragile, in Teilen auch prekäre Situation der jüdischen Gemeinschaft seit 1945.

Um zu verstehen, warum jüdische Gemeinden und die empowernden Räume, die in ihnen geschaffen werden, für viele jüdische Menschen in Deutschland bis heute eine so prägende Rolle einnehmen, ist die jüdische Jugendarbeit und deren Entwicklung von zentraler Bedeutung. Um aber die Gegenwart jüdischer Jugendarbeit zu begreifen, ist auch ein Blick in ihre Entwicklungsgeschichte notwendig.

Entstehungsgeschichten organisierter jüdischer Fürsorgestrukturen für Kinder und Jugendliche

Ein kurzer Blick in die Zeit vor der Interner Link: Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933: Im Jahr 1924 gründete sich in der Trägerschaft der Interner Link: Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) der "Reichsausschuss der jüdischen Jugendverbände". Unter diesem Dach versammelten sich zahlreiche Jugendorganisationen unterschiedlichster Ausrichtungen. Außerdem übernahm die ZWST die Rolle der jüdischen Jugendberufsberatung und in Teilen auch die Vorbereitung zur Auswanderung nach Palästina, was Interner Link: im Angesicht eines zunehmenden Antisemitismus eine immer größere Rolle spielte. Spätestens mit dem Terrorregime der Nazis wurden jegliche (organisatorische) Strukturen in Deutschland vernichtet und fanden, wenn überhaupt, ihre Fortsetzung in Nord- und Südamerika sowie in Palästina.

Die jüdischen Organisationen, die sich nach 1945 wiedergründeten, machten es sich vor allem zur Aufgabe, Entschädigungszahlungen und humanitäre Hilfsleistungen zu verwalten und Jüdinnen:Juden bei der Emigration in die USA oder nach Israel zu unterstützen. Und so waren auch die Kinder- und Jugendmaßnahmen, die in den ersten zehn Jahren nach Ende des Krieges entstanden, zunächst eher Gesundheitskuren und psychosoziale Erholungsfreizeiten. Nach und nach wurden jedoch die Interner Link: Displaced Persons-Camps aufgelöst und erste jüdische Gemeinden gründeten sich wieder.

Ferienfreizeit in der Bildungsstätte der ZWST in Bad Sobernheim Ende 1950er Jahre. (© Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland)

Mit ihnen veränderte sich auch die Jugendarbeit. Nichtsdestoweniger konnte zu diesem Zeitpunkt keinesfalls von einer Zukunft für jüdisches Leben im Land der Täter ausgegangen werden. Sichere Räume waren für die in weiten Teilen schwersttraumatisierten Überlebenden von essenzieller Bedeutung. Dabei wurden auch israelische Betreuer:innen engagiert, um einerseits die einst in Deutschland entstandene jüdische Pädagogik wieder in Jugendmaßnahmen einzubetten; und andererseits, weil die israelischen Betreuer:innen seit der Interner Link: Staatsgründung Israels für die Überlebenden der Shoah einen Bezug zu ihrer jüdischen Heimstätte herstellten. Auch ideell sollte dieses Verständnis in der Jugendarbeit verankert werden. Einer der ersten dieser Betreuer, David Blumenthal, beschrieb 2017 in seinen Erinnerungen:

"Ich erinnere, dass die Kinder in den 50ern und 60ern anders waren als die Kinder heute. Auf viele Weisen war es viel schwerer mit ihnen umzugehen.

Sie kamen aus völlig unterschiedlichen Hintergründen und ihr Verhalten spiegelte dies wieder. Die eine Gruppe waren die Kinder der Überlebenden, viele von ihren [sic] aus osteuropäischen Ländern, die aus den Lagern befreit worden waren und die damals als sogenannte Displaced Persons (DPs) galten.

Sie trugen die Mentalität des "Shtetls" noch tief in sich. Sie sprachen Jiddisch miteinander […]. Diese Kinder kamen aus Häusern, in denen man ihnen einbläute, dass Deutschland nur eine Zwischenstation sei, bis sie ein Visum in die USA oder nach Kanada bekämen. Sie wollten sich in keinster Weise der deutschen Gesellschaft annähern und fanden es auch schwer, sich in unsere Gruppe einzufinden.

Die andere Gruppe waren Kinder von Israelis, die nach dem Krieg nach Deutschland zurückgekehrt waren, die nur schwer in dem Umfeld des Nachkriegs-Deutschlands zurechtkamen. Dass wir Hebräisch sprachen, half uns dabei. Wir mussten all diese Kinder dazu ermutigen, sich auf diese neue Gemeinschaft einzulassen und ihnen Schritt für Schritt ihre Unsicherheiten und ihr Misstrauen nehmen. Schließlich fanden viele der Kinder ein zweites Zuhause auf den Freizeiten sowie in den örtlichen Jugendzentren, die von Israelis, wie in meinem Fall in Düsseldorf, geleitet wurden.

Auf die Juden in Deutschland wurde in anderen jüdischen Gemeinden auf der Welt herabgesehen. Menschen konnten nicht verstehen, wie Juden nach all dem was geschehen war, in diesem Land noch leben konnten.

Jedes Mal wenn ich in Israel zu Besuch war, stellten mir die Leute die gleichen Fragen: Wie und Warum?

Israel hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine diplomatischen Beziehungen mit Deutschland aufgenommen, Israelis durften nicht nach Deutschland reisen.

Meine Antwort war immer: "Wenn keine Juden mehr in diesem Land leben, dann haben wir Hitlers Traum vom judenreinen Deutschland erfüllt und das wollen wir nicht." Die jüdischen Kinder sahen die Israelis als Symbol von Unabhängigkeit, Stolz und Sicherheit."

Für die ZWST, die 1951 wieder durch den ein Jahr zuvor gegründeten Interner Link: Zentralrat der Juden in Deutschland ins Leben gerufen wurde, dienten die Jugendmaßnahmen auch als Bestandsaufnahme für soziale Bedarfe, die dann in die Sozialfürsorge implementiert werden konnten. Sie waren außerdem notwendig, um Kinder und Jugendliche überregional erreichen zu können.

Mit der Zeit bildeten sich Jugendbewegungen, die den Anspruch hatten, sich ideologisch und international zu vernetzen. Neben dieser stärkeren ideologischen Ausrichtung ging es auch darum, sich selbstständig und unabhängig zu organisieren und sich von den institutionalisierten Strukturen der jüdischen Gemeinden abzugrenzen. Gleichwohl blieb ein Großteil der jüdischen Gemeinschaft auch weiterhin auf stark subventionierte Fürsorgestrukturen angewiesen, Armut bestimmte einen großen Teil der jüdischen Gemeinschaft. Aber ungeachtet der Tatsache, dass die Jugendarbeit der ZWST ohnehin immer auch in Fürsorgestrukturen eingebettet war, ermöglichten diese neuen Strukturen eine neue, persönlichere Vertrauensbasis. Die ersten Mitarbeiter:innen des Jugendreferates der ZWST Walther W. Jacob Oppenheimer und Harry Maor beobachteten die psychischen und gesundheitlichen Probleme von jüdischen Kindern und Jugendlichen, die aus der gesellschaftlichen Isolation und innerfamiliären Traumatisierungen resultierten. Als Reaktion auf diese Beobachtungen wurden neben den Ferienfreizeiten auch lokale Jugendzentren in den örtlichen Gemeinden geschaffen. Dies muss vor dem Hintergrund verstanden werden, dass bis in die späten 1980er Jahre hinein ca. 30.000 Jüdinnen:Juden in der Bundesrepublik lebten, von denen die allermeisten aufgrund ihrer Biografien "auf gepackten Koffern" saßen. Orte des Ankommens oder "Safe Spaces" gab es für jüdische Menschen außerhalb der jüdischen Gemeinden nicht. Berthold Scheller hielt 1987 in seiner Publikation über die Interner Link: jüdische Wohlfahrtspflege fest: "(…) Die Jugendarbeit der ZWST ist im Laufe der Jahre ein unverzichtbares Element im Prozess der Entstehung eines 'Wir-Gefühls' bei der jüdischen Jugend in Deutschland geworden." Diese Beobachtung manifestierte sich auch darin, dass viele derjenigen, die auf die Ferienfreizeiten fuhren und dann selbst als Betreuer:innen aktiv wurden, begannen, Verantwortung in ihren lokalen jüdischen Gemeinden zu übernehmen. Die Jugendarbeit wurde somit ein Inkubator für jüdisches Leben in Deutschland.

Im Rahmen einer Ehemaligenveranstaltung anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der ZWST wurden Berichte von ehemaligen Teilnehmenden und Wegbegleiter:innen der Jugendarbeit aufgezeichnet. Eine Teilnehmerin schrieb:

"Ich wurde 1961 in Münster, Westfalen geboren. (…) In einer Familie mit einer Holocaustüberlebenden aufzuwachsen, war schwer und anders. Wir waren zwar eine Familie, aber irgendwie auch wieder nicht. Etwas fehlte.

Ferienfreizeit in der Bildungsstätte der ZWST in Bad Sobernheim (1980er Jahre). (© Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland)

Etwas, das meine Mutter uns aufgrund ihrer schrecklichen Erfahrungen nicht geben konnte: Zusammenhalt, Geborgenheit, Zuwendung und Schutz. Was ich zuhause entbehrte, erfuhr ich auf den Machanot. Diese zwei Wochen im Winter und zu manchen Zeiten sogar vier Wochen im Sommer gaben mir das Gefühl in einer großen Familie zu leben." Sobald sie zu alt gewesen sei, um selbst als Teilnehmerin dabei zu sein, habe für sie der Entschluss festgestanden, selbst Betreuerin zu werden, um das weitergeben zu können, was ihr gegeben wurde. Diese Leidenschaft habe sich später auch auf ihre eigenen Kinder übertragen, die selbst auch alle aktiv in der Jugendarbeit wurden.

Zuwanderung

Die Zuwanderung der russischsprachigen Jüdinnen:Juden aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion stellte für die jüdische Gemeinschaft ab den 1990er Jahren eine der größten Herausforderungen ihrer gesamten Entwicklung dar, da eine zahlenmäßig kleine Minderheit eine überwältigende Mehrheit integrieren musste. Durch die Zuwanderung sind nunmehr über 93 Prozent der Gemeindemitglieder in Deutschland russischsprachig. Die Soziologin und Migrationsforscherin Julia Bernstein beschreibt die zusätzliche Herausforderung für Menschen, die aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland emigrierten, folgendermaßen: Sie hatten mit der Diskrepanz zu kämpfen, in der ehemaligen Sowjetunion als Juden diskriminiert worden zu sein, u.a. durch die Markierung im Pass und in den Geburtsurkunden – um dann in den Jüdischen Gemeinden in Deutschland aufgrund ihres Mangels an Kenntnissen über jüdische Traditionen durch teilweise sehr traditionell geprägte Gemeindemitglieder, für die die jüdische Tradition wiederum etwas wie Heimat bedeutete, als "nicht jüdisch genug" erachtet zu werden. Zwischen 1990 und 2005 kamen knapp 200.000 sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland, nicht alle davon wurden Mitglieder von jüdischen Gemeinden. Jene wiederum, die sich dem Gemeindeleben anschlossen, brauchten eine Anbindung an den Arbeitsmarkt, Unterstützung bei der Ankunft in Deutschland – und plötzlich wurde auch in den jüdischen Gemeinden nicht mehr die gleiche Sprache gesprochen, nicht nur verbal, sondern auch kulturell. Die Menschen dachten nicht mehr: "Wie komme ich hier weg?" Sondern: "Wie komme ich hier an?" Auch in dieser Zeit spielte die Jugendarbeit eine maßgebliche Rolle. Die Ferienfreizeiten schufen einen sozialen Empfangsraum und informellen Anknüpfungspunkt, in dem Kinder und Jugendliche erstmalig damit in Kontakt kamen, was es jenseits der Fremdmarkierung und der Ausgrenzung bedeutete, jüdisch zu sein. Denn in der Sowjetunion war jegliche Ausübung von Religion strengstens verboten gewesen. Viele Jugendliche, die mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen waren, um hier jüdisch sein zu können, erlebten auf einer Ferienfreizeit zum ersten Mal, was es bedeutete gemeinsam Schabbat zu feiern oder erfuhren, was koscheres Essen ist.

Jugendarbeit als empowernder Raum

Heute bestehen im Bereich der jüdischen Jugendarbeit vielfältige regionale und überregionale Angebote: Die meisten von ihnen sind in die Infrastrukturen örtlicher jüdischer Gemeinden eingebettet. So verfügen viele jüdische Gemeinden über ein Jugendzentrum oder Angebote der offenen Jugendarbeit, in denen sich Jugendliche mindestens einmal die Woche zu Programmen zusammenfinden. Das Kinder-, Jugend- und Familienreferat der ZWST bildet den Zusammenschluss der Jugendarbeit für jüdische Gemeinden. Auf den im Sommer und Winter stattfindenden ca. 15 Ferienfreizeiten nehmen pro Jahr ca. 1.400 jüdische Kinder und Jugendliche zwischen acht und 18 Jahren teil. Des Weiteren werden über das Referat zahlreiche Ehrenamtsfortbildungen, insbesondere im Bereich der Ausbildung der Jugendleiter:innen, pädagogische Materialien und Unterstützungsmaßnahmen für lokale Institutionen angeboten. Ferner gibt es auch jüdische Jugendorganisationen, die mehr oder weniger unabhängig von jüdischen Gemeinden operieren und in ihrer Struktur an internationale jüdische Jugendorganisationen angegliedert sind. Aktiv sind in Deutschland Netzer, Bnei Akiwa, die Zionistische Jugend Deutschland und HaShomer Hatzair. Sie alle sind religiös sehr unterschiedlich ausgerichtet, entstammen aber alle der Tradition zionistischer Jugendbewegungen. Es gibt den Interner Link: jüdischen Sportverband Makkabi, in dem jüdische und nichtjüdische Menschen gemeinsam Sport machen. Makkabi ist mit zahlreichen Ortsvereinen regional vertreten und verfügt mittlerweile auch über einen dezidierten Jugendbereich. Die "Jewrovision", ein vom Zentralrat der Juden ausgerichteter, jährlich stattfindender Gesangs- und Tanzwettbewerb, ist die größte Veranstaltung für jüdische Jugendliche aus ganz Deutschland. Mit der Gründung der Jüdischen Studierendenunion Deutschland im Jahr 2016 und des queer-jüdischen Verbandes Keshet Deutschland haben sich in den vergangenen Jahren auch zunehmend Interessensvertretungen junger jüdischer Erwachsener organisiert.

Das Machane, das hebräische Wort für Zeltlager, gilt innerhalb jüdischer Communities – nicht nur in Deutschland, sondern in jüdischen Jugendorganisationen weltweit – als Synonym für Ferienfreizeiten für jüdische Kinder und Jugendliche. In US-amerikanischen popkulturellen Kontexten taucht das "Jewish Summer Camp" häufig analog zu den Pfadfindern auf.

Safe Space

Eine weitere strukturelle Folge der Zuwanderung ist, dass die Menschen nach einem Verteilungsschlüssel auf die gesamtdeutsche Bundesrepublik verteilt wurden, um jüdisches Leben flächendeckend zu stärken. Faktisch können jedoch in einem großen Teil der 106 jüdischen Gemeinden, von denen viele nur wenige 100 Mitglieder haben, jungen jüdischen Menschen nur eine spärliche Infrastruktur jenseits des formellen jüdischen Religionsunterrichtes angeboten werden. Jüdisch in Deutschland zu sein bleibt folglich für die allermeisten jungen jüdischen Menschen eine einsame Erfahrung. Hinzu kommt die antisemitische Alltagserfahrung, die wie eingangs beschrieben kaum einem jüdischen Menschen in Deutschland erspart bleibt. Der Raum Machane wird vor dieser Kulisse ein informeller und sehr persönlicher Raum der Selbstverwirklichung, ein sozialer Empfangsraum, der für die meisten Kinder und Jugendlichen der einzige Raum ist, in dem sie sich nicht erklären müssen. Diesen Safe Space beschreiben viele Jugendliche als Ort, an dem sie auch das zurückgeben wollen, was sie selbst erhalten haben, als Ort einer peer-geleiteten Kollektiverfahrung, als Ort jüdischer Selbstverständlichkeit.

Und so lassen sich die zunehmende Sichtbarkeit und die öffentliche politische Positionierung junger jüdischer Erwachsener nicht zuletzt auch auf diesen Inkubationsort zurückführen. Viele der Geschichten, die jüdische Menschen heute erzählen und schreiben, haben irgendwann mal – direkt oder indirekt – auf einem Machane begonnen. Auch diese Räume verändern sich stark, sie werden geprägt durch internationale Vernetzung, durch Social Media, durch den Aktivismus der ehrenamtlich Engagierten, ob nun für Fridays for Future, Inklusion oder LGBTQIA*-Rechte. Nicht nur weil es kaum antisemitismusfreie Räume in Deutschland gibt, sollten diese Räume geschützt werden und bleiben. Das ressourcenorientierte Erleben, was es bedeuten kann jüdisch zu sein, dass dieses Erleben mit Kultur, diskursiver Auseinandersetzung und Spaß verbunden sein kann, bleibt unerlässlich, damit jüdisches Leben ein selbstbestimmter Bestandteil einer diversen Gesellschaft sein kann. Auch in Deutschland.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Chernivsky, Marina/ Lorenz, Friederike/ Schweitzer, Johanna (2020): Antisemitismus im (Schul-) Alltag – Erfahrungen und Umgangsweisen jüdischer Familien und junger Erwachsener. Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment, Berlin.

  2. Sabine Hering: "Wir wollen die Seele!" Die jüdische Jugendbewegung, ihre sozialen Aufgaben und die Hilfe zur Selbsthilfe, in: Die jüdische Jugendbewegung – Eine Geschichte von Aufbruch und Erneuerung, Hentrich und Hentrich (2021)

  3. Einigen deutsch-jüdischen Pädagog:innen war die rechtzeitige Flucht nach Palästina gelungen und sie setzten ihre Arbeit dort fort.

  4. Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland: ר ע ו Jugend. Die Jugendarbeit der ZWST (2018)

  5. Berthold Scheller: Zedaka in neuem Gewand, Neugründung und Neuorientierung der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland" nach 1945, in: Zedaka: Jüdische Sozialarbeit im Wandel der Zeit, Katalog des Jüdischen Museums (1992)

  6. Benjamin Bloch: Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland – Ausblick in die Neunziger Jahre, in: Zedaka: Jüdische Sozialarbeit im Wandel der Zeit, Katalog des Jüdischen Museums (1992)

  7. Hebräischer Plural für Ferienlager

  8. Begleitbroschüre zum "Good Old Times" Alumnitreffen der Ehrenamtlichen in der Jugendarbeit der ZWST (2018)

  9. Julia Bernstein: Herausforderungen der jüdischen Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion, in: 100 Jahre Zentralwohlfahrtsstelle – Brüche und Kontinuitäten, Fachhochschulverlag (2017)

  10. ZWST Machane Imagefilm: Externer Link: https://youtu.be/sSVIK0UCYQY

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autor/-in: Laura Cazés für bpb.de

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Laura Cazés Ist Leiterin der Abteilung Kommunikation und Digitalisierung bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST).