Das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) ist das Begabtenförderungswerk der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) vergibt ELES Stipendien an begabte und sozial engagierte jüdische Studierende und Promovierende. Zusätzlich zu einer finanziellen Förderung bietet ELES seinen Stipendiat*innen ein ideelles Förderprogramm, das aus Tagesseminaren, mehrtägigen Kollegs, Sommerakademien und regionalen Aktivitäten besteht. Seit 2010 wurden bislang fast eintausend Stipendiat*innen gefördert.
So lässt sich erzählen, was ELES ist. Aber so erzählt man Struktur, nicht einmal Form, geschweige denn Inhalt. Was ist ELES? ELES ist Labor. Diskursmaschine. Familie. Ein Safe Space und ein Brave Space. ELES ist ein produktiver Motor für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland und ein Impulsgeber für unsere gemeinsame Gesellschaft.
Von einer Serviette zum Begabtenförderungswerk
Um die Gründung des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks ranken sich einige Mythen. Verifiziert ist ein Treffen der ehemaligen Präsidentin des
Die deutsche Begabtenförderung ist ein in Europa einmaliges Instrument, deren Entstehung auf die Einsicht des völligen Versagens deutscher "Eliten" in der Zeit des Nationalsozialismus zurückgeht. Heute fördern insgesamt 13 Begabtenförderungswerke unterschiedlichster gesellschaftlicher, religiöser und weltanschaulicher Ausrichtung akademische Exzellenz und soziales Engagement. "Eliten" in Anführungszeichen ist in Anbetracht der versuchten Vernichtung des europäischen Judentums geboten, aber auch heute ist das Sprechen von "Eliten" im Zusammenhang mit den Stipendiat*innen der Begabtenförderung strittig. ELES legt Wert auf den Begriff der "Verantwortungselite": Studierende und Promovierende mit hervorragenden akademischen Leistungen zu fördern war von Beginn an nicht das wichtigste Ziel des Studienwerks. ELES sollte ein Ort des lebendigen Austauschs werden, eine Keimzelle für jüdische Gelehrsamkeit und jüdische Gestaltung. Das Vermächtnis des Namensgebers Ernst Ludwig Ehrlich (1921-2007) ist dabei wegweisend: der Historiker und Religionsphilosoph, dessen Lebensgeschichte Flucht und Vertreibung wie Neu-Aufbau der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und Europa umspannt, ist die Gestalt und Gestaltungskraft, der sich ELES und seine Stipendiat*innen verpflichtet fühlen. ELES fördert jüdische Studierende und jüdische wie nicht-jüdische Promovierende, sofern sie über "jüdische Themen" forschen. Letztere aus dem Grund, da die wissenschaftliche Zukunft der jüdischen Studien, der jüdischen Theologie, der Holocaust- und Antisemitismusforschung etc. auch mit der Gesamtgesellschaft in Deutschland und Europa verbunden sein muss. Diese Verbindungen werden durch den lebendigen Austausch im Studienwerk geschaffen.
Jüdische Pluralität als Fundament für Struktur und Selbstverständnis von ELES
Im Beirat des ELES kommen jüdische Hochschullehrer*innen aller Fachrichtungen und Disziplinen mit jüdischen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sowie Vertreter*innen der Allgemeinen und Orthodoxen Rabbinerkonferenzen zusammen. Gemeinsam bilden diese den Auswahl- und Programmausschuss, berufen das große Netzwerk der Vertrauensdozent*innen und diskutieren die Förderschwerpunkte. Diese einmalige Zusammenarbeit einer vielfältigen jüdischen Gemeinschaft in der Gremienstruktur von ELES ist seit Beginn unserer Arbeit unverzichtbar und Ausdruck für ein Selbstverständnis des Studienwerks, das vieles von dem ermöglicht hat, was ELES heute ist: eine Bildungsinstitution, keine religiöse Institution. Liberale,
ELES-Familie – Stipendiat*innen im Zentrum
Der Motor des Studienwerks sind die ELES-Stipendiat*innen. Dass diese schon in der ersten Generation Strukturen für eine stipendiatische Mitgestaltung geschaffen haben, macht uns heute noch stolz. Die ersten Stipendiat*innen waren noch mehrheitlich „
Die Förderung von Auslandsaufenthalten im Rahmen des Studiums oder der Promotion ist von großer Bedeutung. Die Stipendiat*innen sammeln hier wertvolle Studienerfahrungen, vernetzen sich mit anderen jüdischen Organisationen, Institutionen und Initiativen im Ausland – und am Ende fließt das Gelernte nicht nur bei ELES wieder ein, sondern erweitert sich auch das ELES-Netzwerk beständig.
Safe Space – Brave Space
Das Aufeinandertreffen der großen jüdischen Vielfalt innerhalb einer Institution war etwas völlig Neues in Deutschland – und ist bis heute einmalig. Diese Vielfalt musste und muss immer wieder neu navigiert werden, weshalb die Frage nach Jewish Identities zu den Schwerpunkten der Förderarbeit gehört. Der Schlüssel zum Erfolg dieses Navigierens ist das Finden und Erarbeiten gemeinsamer Ziele. Dabei geht es nicht um eine harmonische Vielfalt, sondern um einen Raum des ständigen Machloket, des am Erkenntnisgewinn orientierten Streits. Und die Streitthemen sind viele: religiöse Themen, die Bedeutung Israels und der Diaspora, kulturelle und politische Themen, Fragen nach jüdischen Positionen zu einer Vielfalt, die sich nicht nur innerhalb von ELES, sondern auch in unserer gemeinsamen Gesellschaft abbildet. Für all das braucht es ein vertrauensvolles Miteinander, einen Safe Space, damit ELES immer wieder auch Brave Space sein kann: Das ist, was die Stipendiat*innen seit Jahren die "ELES-Familie" nennen.
Diskursmaschine
ELES war für junge Jüdinnen*Juden oft der erste Raum, in der die komplexen Fragen, die für ihre individuelle Geschichte von Bedeutung waren, anerkennend thematisiert werden konnten: das Anknüpfen an jüdische Traditionen in einem fremden Land, meistens in ihrer Zweitsprache, die Belastung gesellschaftlicher Erwartungen, ohne, dass selbst Erwartungen formuliert werden konnten. Die wechselnden Generationen von engagierten Stipendiat*innen und Ehemaligen haben ELES zu einer Diskursmaschine gemacht: so sind unsere Stipendiat*innen im ständigen Austausch darüber, wie sie die Gegenwart und Zukunft unserer gemeinsamen Gesellschaft gestalten möchten. Dieser Austausch richtet sich zunächst nach innen, in die jüdische Gemeinschaft hinein. Aus der gemeinsam entwickelten Stärke wiederum positionieren sich Stipendiat*innen und Ehemalige in der jüdischen Gemeinschaft, in den Wissenschaften, im gesellschaftlichen Diskurs. Sie verstehen sich selbst als Teil einer gesellschaftlichen Pluralität, in der der Austausch im Sinne eines Machloket weit mehr bewirkt als das einfache Anerkennen von Vielfalt.
Die ideelle Förderung ist der Lernraum des Studienwerks – ein Raum in dem Stipendiat*innen und auch ELES als Institution immer wieder neu voneinander lernen können. Seit Beginn wird daher großer Wert auf den Austausch mit den anderen inzwischen zwölf Begabtenförderungswerken, die vom BMBF gefördert werden, gelegt. In gemeinsamen Workshops kommen Stipendiat*innen unterschiedlichster weltanschaulicher und religiöser Zugehörigkeiten zusammen, um gemeinsam inhaltlich zu arbeiten. Diese Kooperationen sind nicht immer einfach, nicht zuletzt, weil an ihnen immer wieder sichtbar wird, wie wenig über jüdisches Leben in Deutschland bekannt ist. Es sind dennoch insbesondere diese Kooperationen, die für ELES von Bedeutung sind, weil sich hier die genannte jüdische "Verantwortungselite" mit anderen gesellschaftlichen Akteuren wie Parteien, Gewerkschaften oder Religionsgemeinschaften trifft, auseinandersetzt, gemeinsam lernt, Beziehungen aufbaut, Ziele entwickelt.
Eine besondere Beziehung verbindet ELES mit dem Avicenna-Studienwerk, das Begabtenförderungswerk der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland. Ermöglicht wurden die ersten Schritte dieser Zusammenarbeit durch Orte und Partner, die uns den Raum gegeben haben, junge Muslim*innen und Jüdinnen*Juden zusammenzubringen – zu Beginn allen voran die Akademie des Jüdischen Museums Berlin. Die Arbeit zwischen jüdischen und muslimischen Studierenden bei ELES und Avicenna hat den ersten jüdisch-muslimischen Think Tank Karov-Qareeb initiiert: dieser befasst sich nicht nur mit gemeinsamen gesellschaftlichen Themen, sondern öffnet immer wieder auch Räume für schmerzhafte, aber notwendige Dialogformate, über den
Diese Formen der Zusammenarbeit finden im Programm Dialogperspektiven ihren stärksten Ausdruck, hier wird Vielfalt als Chance für gesellschaftliche Veränderung verstanden. Dialogperspektiven wurde 2015 bei ELES als Plattform für einen gesellschaftsorientierten Diskurs von Religionen und Weltanschauungen mit Unterstützung durch das BMBF gegründet. Inzwischen ist daraus eine eigenständige europäische Plattform geworden, die über 250 Teilnehmer*innen unterschiedlichster religiöser und weltanschaulicher Identitäten in 18 europäischen Ländern miteinander verbindet und Positionen im europäischen gesellschaftlichen Diskurs aushandelt. Auch das Programm zur Förderung jüdischer Künstler*innen DAGESH, das sich neben der Sichtbarkeit jüdischer Künstler*innen auch der Vermittlung jüdischen Lebens über die Kunst verpflichtet fühlt, ist einst auf Initiative von ELES entstanden und heute unter dem Dach der
Die Zäsur
Es ist unmöglich, heute über ELES zu schreiben und den
Für ELES ist Halle auch deshalb eine Zäsur, weil das Studienwerk einen Tag nach den Anschlägen in Halle sein zehnjähriges Bestehen feierte. Ein Jahr lang dauerten die Vorbereitungen an für einen Abend, der als ein großes Fest jüdischen Selbstbewusstseins geplant war. Es wurde ein Fest der Gleichzeitigkeit: der Gleichzeitigkeit von Trauer und Wut, von Verletzbarkeit und Unsicherheit, aber auch von Selbstbewusstsein, Stärke, Trotz und Resilienz. Stipendiat*innen, die am Vorabend in Halle zu Zielen terroristischer Gewalt wurden, waren am nächsten Tag im Kreis der ELES-Familie, auch um zu zeigen, dass die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland keine Zukunft in Angst sein kann und darf. Es liegt an uns allen, uns dafür einzusetzen, dass jüdisches Leben in Deutschland nicht nur möglich, sondern auch sicher und sichtbar ist.
Produktive Pluralität, Klarheit und Kooperation
Jüdisches Leben in Deutschland kann nicht allein durch hohe Mauern und Sicherheitszäune gefördert werden. Jüdisches Leben in Deutschland fördern bedeutet vor allem die Förderung der jüdischen Zivilgesellschaft und ihrer Mitgestaltungsräume. Der Weg, den ELES mit seinen Stipendiat*innen dabei geht, ist ein Weg der Klarheit und der Kooperation. Die Klarheit ist besonders dort notwendig geworden, wo jüdisches Leben bedroht wird. Mit Blick auf den Rechtsruck in Deutschland und Europa positioniert sich ELES klar in seinem Einstehen für eine offene und plurale Gesellschaft, gegen Antisemitismus, jeder Form von Rassismus, gegen Frauenhass und Hass gegenüber der LGTBQI*-Community. ELES übernimmt in diesem Einstehen Verantwortung: in der Ausrichtung seines Programms, in seinen Kooperationen sowie in seiner Arbeit gegen Antisemitismus, die sich gemeinsam mit den Stipendiat*innen aller 13 Begabtenförderungswerke an die Politik und die deutsche Öffentlichkeit richtet.
Aber zur Klarheit gehört auch das Einfordern von Verantwortungsübernahme: es gehört zur Verantwortung der Zivilgesellschaft, an einer offenen, toleranten und pluralen Gesellschaft mitzuwirken und Antisemitismus, wo auch immer und in welcher Form er auch auftritt, kompromisslos zu bekämpfen. Und es gehört zur staatlichen Verantwortung dieses Engagement, nicht nur durch Beschwörungen und Bekundungen zu begrüßen und gutzuheißen, sondern durch Ressourcen zu ermöglichen und zu festigen.
Als ELES 2010 seine ersten Stipendiat*innen aufgenommen hat, hat es sich einen Claim gegeben: Eine Geschichte mit Zukunft. Ernst Ludwig Ehrlich selbst hat seinerzeit diese Zukunft gesehen als eine, an der die ganze Gesellschaft mitschreibt. Wir fangen einfach schon mal damit an.