Der jüdische
Als 1871 das
Woher kam dieses Vertrauen, dieser Optimismus? Lazarus, Sohn eines Talmudgelehrten in der kleinen Stadt Filehne in der preußischen Provinz Posen, sollte eigentlich Kaufmann werden. Er studierte stattdessen an der Berliner Universität Philosophie, Philologie und Geschichte. Nach dem Erfolg seiner ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen lehrte er als Professor für Psychologie, Völkerpsychologie und Philosophiegeschichte an der Universität Bern, der Preußischen Kriegsakademie und der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin. Zwar blieb ihm als Jude an deutschen Hochschulen eine ordentliche Professur verwehrt. Dennoch war er ein anerkanntes Mitglied der gehobenen Gesellschaft. Seine Bücher und die von ihm mitgegründete Völkerpsychologie wurden nicht nur in der Wissenschaft weithin rezipiert. Zu seinen Freunden und Bekannten zählten die Schriftsteller Berthold Auerbach und Theodor Fontane oder die Pianistin Clara Schuhmann. Der preußische Kronprinz protegierte ihn. Der deutsche Nationalstaat nach 1871 war für jüdische Bürger wie Lazarus Produkt wie Garantie der Emanzipation.
Die Wende zum Schlechteren begann um das Jahr 1879. Parallel zum politischen Rechtsruck ergriff der Antisemitismus immer weitere Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit. Eines der wichtigsten Ereignisse war ein Artikel des angesehenen Historikers Heinrich von Treitschke (1834–1896), in dem dieser die Juden zum "Unglück" der Deutschen erklärte. Lazarus war erschüttert über diesen antisemitischen Ausbruch seines Berliner Kollegen. Nicht lange vorher hatte Treitschke zu den Besuchern im Salon des Ehepaars Lazarus gehört. Und Lazarus war einer der ersten, die sich öffentlich gegen Treitschke äußerten. Sein Vortrag "Was heißt national?" wurde als Broschüre gedruckt und weit verbreitet. Darin wies er den Angriff Treitschkes vor allem mit Hilfe seiner Kulturtheorie zurück. Für Lazarus gehörten Menschen nicht aufgrund ihrer Herkunft oder Sprache zu einem Volk, sondern weil sie sich dazu zählten und daran mitwirkten. Dass die Antisemiten erneut behauptet hatten, dass das Judentum nicht zu Deutschland gehöre, empörte ihn weniger als Juden denn als Deutschen. Denn für ihn stand damit in Frage, ob Deutschland weiter Teil der zivilisierten Nationen Europas bleiben oder in die Barbarei des Mittelalters zurückfallen wollte. Er erwartete den Kampf gegen den Antisemitismus deshalb auch "nicht bloß von meinem Candidaten, den ich wähle; ich erwarte ihn von der Regierung und von dem Parlament; ich fordere und erwarte ihn von jedem für Recht und Gerechtigkeit einstehenden Manne; ich erwarte ihn von dem Genius der deutschen Nation."
Lazarus beließ es nicht bei dem Text, sondern gründete in der Berliner jüdischen Gemeinde das sogenannte Dezemberkomitee. Es war die erste organisierte jüdische Antwort auf den Antisemitismus. Man verschickte in großem Umfang Broschüren und Bücher an Multiplikatoren im gebildeten Bürgertum und arbeitete an der innerjüdischen Vernetzung. Höhepunkt der Arbeit war eine Versammlung von 2.000 jüdischen Veteranen des
Bis dahin arbeiteten Juden wie Lazarus weiter in Organisationen wie der Alliance Israélite Universelle, Hilfsvereinen (z.B. für jüdische Studierende) oder Comités wie dem für die rumänischen Juden mit. Und 1883 gab der Deutsch-Israelitische Gemeindebund, der seinerzeit größte Zusammenschluss jüdischer Gemeinden, eine für die Epoche typische Broschüre heraus: Die wieder unter Federführung von Lazarus entstandenen "Grundsätze der jüdischen Sittenlehre" waren als Apologie gegen die antisemitischen Unterstellungen gedacht.
Erst 1893 wurden die Widerstände gegen eine offene Gegenwehr überwunden. In diesem Jahr wurde der "Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens", kurz: CV, gegründet. Er trug erheblich zu einem jüdischen Gruppenbewusstsein bei und fußte auf den liberalen und aufgeklärten Ideen der religiösen Gleichberechtigung, Partizipation und einer ethisch fundierten, aufgeklärten Religiosität, wie sie von Gabriel Riesser, Hermann Cohen oder eben Moritz Lazarus entwickelt und vertreten wurden. Auslöser der Gründung war der Artikel "Schutzjuden oder Staatsbürger" von Raphael Löwenfeld (1854-1910): Der ebenfalls aus Posen stammende Slavist und Theater-Direktor kritisierte den Berliner Gemeindevorstand für seine Unfähigkeit, sich gegen den Antisemitismus zu wehren. Es reiche nicht, den Kaiser in einem Bittbrief um Schutz zu bitten. Die Politik von honorigen Bürgern, die bei den Mächtigen interpellierten, war an ihre Grenzen gekommen. Löwenfeld, der sich in seinem Beruf darum verdient gemacht hatte, auch weniger Wohlhabenden die Welt des Theaters zu ermöglichen, erkannte, dass die Politik gegen den Antisemitismus sich auch an die "Massen" richten und der Massenmedien bedienen musste. Der CV repräsentierte durchaus eine Mehrheit der deutschen Juden, und auch einige Orthodoxe engagierten sich dort, zum Beispiel Hirsch Hildesheimer. Anfänglich konzentrierte sich der CV auf den Rechtsschutz bzw. Zivilprozesse und die meist wenig erfolgreiche juristische Auseinandersetzung mit dem Judenhass. Aber mehr und mehr begann er, sich politisch zu engagieren, Parteien zu unterstützen, die den Antisemitismus bekämpften, und breite Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Es ging nach außen um eine Rechtfertigung jüdischer Existenz in Deutschland und nach innen um ein starkes deutsch-jüdisches Selbstbewusstsein. Im Rückblick der Forschung war der CV als deutsch-jüdische Massenorganisation damit ebenso erfolgreich gegen den Taufdruck wie gegen den Antisemitismus. Wie keine andere jüdische Organisation schuf und stärkte er eine Identifikation als deutsch und jüdisch und bremste so die Erosion des Judentums durch Konversionen und Austritte; und er führte einen konsequenten und kontinuierlichen Kampf gegen den Antisemitismus, der zumindest dessen öffentliche Wirksamkeit zeitweise beschränkte.
Eine wichtige Rolle im CV nahmen Eva Reichmann-Jungmann (1897-1998) und Hans Reichmann (1900-1964) ein. Der promovierte Jurist Hans war schon als Student in jüdischen Studentenverbindungen aktiv und auch Mitglied des sozialdemokratischen Abwehr-Organisation "Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold", dessen Ziel die Verteidigung der Republik gegen die radikale Rechte war. Im CV war der promovierte Jurist lange Zeit Leiter der Rechtsabteilung. Ende der 1920er Jahre richtete er das "Büro Wilhelmstraße" ein, das ein neues Tätigkeitsfeld des CV eröffnete: Es sammelte Material über die
Seine Frau Eva Reichmann, eine promovierte Soziologin, war ebenfalls aktiv im CV. Sie schrieb eine Vielzahl Artikel gegen den Antisemitismus und leitete die CV-Zeitschrift "Der Morgen". Nach der Entlassung von Hans aus der KZ-Haft emigrierten beide im April 1939 nach London. Von dort aus arbeitete Eva vor allem an der sozialpsychologischen Untersuchung des deutschen Antisemitismus. Nach Kriegsende beteiligten sich beide Reichmanns an der Gründung des
Andere bedeutende jüdische Widerstandskämpferinnen und -kämpfer gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus entkamen der Verfolgung nicht. Ein Beispiel ist der Anwalt Hans Litten (1903-1938). Er entstammte einer Königsberger jüdischen, deutsch-nationalen Familie und bekannte sich, anders als sein konvertierter Vater, als Jugendlicher zum Judentum. Als Anwalt in der
Es ließen sich noch unzählige weitere Personen nennen, die gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus kämpften – nur einige wenige seien noch genannt: etwa der ebenfalls aus einer jüdischen Familie stammende Schriftsteller, Bohemien, Revolutionär, Anarchist und Rätekommunist Erich Mühsam (1878-1934). Er widmete sich dem Kampf gegen Krieg, autoritären Staat und den aufkommenden Nationalsozialismus. Am selben Tag wie Hans Litten wurde er verhaftet, ins KZ verschleppt, gefoltert und schließlich 1934 von der SS ermordet. Ein anderes bekanntes Beispiel jüdischen Widerstands gegen den NS sind Marianne und Herbert Baum (beide 1912-1942). Sie führten jene jüdisch-kommunistische Widerstandsgruppe, die 1942 einen Anschlag auf die antikommunistische Propagandaausstellung "Das Sowjetparadies" verübte. Nur kurz danach wurden sie verhaftet und noch im selben Jahr ermordet. Eine weniger prominente Geschichte ist die der Philosophiehistorikerin Marie Jalowicz-Simon (1922-1998), die durch ihre Memoiren vom Überleben der Nazizeit im Berliner Untergrund bekannt geworden ist. Als junge Jüdin im Nationalsozialismus zur Zwangsarbeit verpflichtet, beging sie Sabotageakte und entzog sich schließlich der Verhaftung, indem sie untertauchte. Sie überlebte und begann eine wissenschaftliche Karriere in der DDR, bekleidete schließlich eine Professur für antike Literatur- und Kulturgeschichte.