Das Judentum in Deutschland war vor dem
Die meisten Juden und Jüdinnen waren in Einheitsgemeinden organisiert, die Mitgliedern aus allen Strömungen offenstanden. Diese Einheitsgemeinden waren in den Städten oft liberal dominiert, auf dem Land eher orthodox-traditionell. Insgesamt war die Zahl der Juden, die sich dem orthodoxen und dem nicht-orthodoxen Spektrum zugehörig fühlten, in etwa gleich.
Das orthodoxe Judentum glaubt - im Gegensatz zu den nichtorthodoxen Strömungen - an die göttliche Offenbarung der Tora am Berg Sinai. Damit orientiert sich die orthodoxe Glaubenspraxis an der Halacha, dem jüdischen Religionsrecht, und seinen traditionellen Auslegungsformen, die als verbindlich gelten. Doch auch innerhalb der jüdischen Orthodoxie gab es eine große Vielfalt. Die Hauptströmung der Orthodoxie war die vom berühmten Rabbiner Samson Raphael Hirsch begründete Neo-Orthodoxie, der Vorläuferin des modern-orthodoxen Judentums. Die Neo-Orthodoxie hatte als Leitbild das Konzept "Torah im Derech Eretz", also eine Symbiose von traditionell-religiösem Judentum mit der modernen Kultur, eine Verbindung von Religiosität und akademischer Bildung. Jüdische Migrantinnen und Migranten aus Osteuropa wiederum – seinerzeit immerhin jeder Zehnte in Deutschland lebende Jude, in großen Städten sogar bis zu 20 Prozent – brachten oft ihre eigenen Traditionen mit. So gab es auch Bethäuser, die sich am litauischen Ritus orientierten oder an "Stibelach", also kleineren Betstuben, mit chassidischem Ritus. Die Orthodoxie litauischer Prägung ist eine sehr fromme, streng rationale Variante des Judentums. Der Chassidismus ist eine mystisch-kabbalistische Bewegung, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Osteuropa entstanden ist und deren verschiedenen Gruppierungen und Unterströmungen gewöhnlich nach ihrem osteuropäischen Stammort benannt sind. Spirituelle Führungspersönlichkeit jeder Gruppe ist der jeweilige Rebbe, der meist dynastisch bestimmt wird.
Nach dem Krieg gab es rund acht Millionen europäische Flüchtlinge (sogenannte Displaced Persons, DPs) in den alliierten Besatzungszonen. Jüdisches Leben in Deutschland wurde fast vollständig vernichtet. Ende 1946 gab es vor allem in der US-Zone rund
Seit den 1990ern wuchs die Zahl der in Gemeinden organisierten Juden und Jüdinnen in Deutschland durch die
Die Arbeit der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland
Die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) gründete sich 2003 und wuchs seitdem von 11 auf über 50 Mitglieder an. Sie ist ein eigenständiges Organ innerhalb des
Weitere zentrale Akteure
Ein weiterer wichtiger Akteur in der Organisation der diversen Strömungen innerhalb der jüdischen Orthodoxie in Deutschland ist die Ronald S. Lauder Foundation aus den USA. Die Stiftung unterstützt seit Jahren viele jüdische Projekte in Mittel- und Osteuropa. Sie ist vor allem im Bildungsbereich tätig und fördert seit 2007 mit der Gründung von Kindergärten, Schulen, Bildungsinitiativen, Studentenverbänden und nicht zuletzt einem Rabbinerseminar, nachhaltig das jüdische Leben in Deutschland. Das Zentrum der Lauder-Projekte bildet Berlin, um die Gemeinde Kahal Adass Jisroel (KAJ) in Berlin-Mitte (Prenzlauer Berg). Die KAJ wurde 2013 als eingetragener Verein gegründet und zählt heute über 430 Mitglieder, Tendenz steigend. Sie versteht sich explizit als modern-orthodoxe Gemeinde, die einerseits dem traditionell-jüdischen Leben verpflichtet ist und sich andererseits als Teil der deutschen und Berliner Gesellschaft sieht. Sie ist in verschiedenen interreligiösen Projekten aktiv (Berliner Forum der Religionen, meet2respect etc.) und Gesprächspartner für zahlreiche Akteure aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft. Damit knüpft die KAJ direkt an die Tradition der deutschen Neo-Orthodoxie an. Die Gemeinde hat einen Frauenverein und ein vielseitiges Angebot an verschiedenen religiösen und kulturellen Programmen.
Im Gebäudekomplex der KAJ befindet sich auch das Rabbinerseminar zu Berlin, das 2009 als Nachfolgeinstitution des Hildesheimer’schen Rabbinerseminars (1873-1938) gegründet wurde. Zum ersten Mal seit 1938 werden damit wieder orthodoxe Rabbiner in Deutschland ausgebildet. Das Rabbinerseminar ist ein Gemeinschaftsprojekt des Zentralrats der Juden in Deutschland und der Ronald S. Lauder Foundation. Dem Seminar steht ein Kuratorium vor, bestehend aus Repräsentanten des Zentralrats, einzelner jüdischer Landesverbände, Fakultätsangehöriger sowie unabhängiger Unterstützer. Es möchte kompetente Rabbiner für den deutschsprachigen Raum ausbilden. Die Studierenden lernen dabei nicht nur die klassischen rabbinischen Texte, sondern auch didaktische und seelsorgerische Fähigkeiten, sowie umfangreiche Kenntnisse über die jüdische Sozialarbeit, um damit speziell für die Bedürfnisse der deutschen Gemeinden geeignet zu sein. Neben dem Rabbinerseminar gibt es auch das "Institut für traditionelle Jüdische Liturgie" in Leipzig, an dem orthodoxe Kantoren und Vorbeter ausgebildet werden. Das Institut ist ein Projekt des Rabbinerseminars und soll Absolventen hervorbringen, die inspirierende und attraktive Gottesdienste leiten können und mithin das aktive Gemeindeleben fördern sollen. Das Institut kooperiert mit der Israelitischen Religionsgemeinde in Leipzig, an deren Synagoge die Studierenden an Wochentagen, aber auch am Schabbat und den Feiertagen, den Gottesdienst unter Leitung des lokalen Rabbiners mitgestalten können. Mentor und Rektor des Instituts ist der weltweit renommierte Kantor Joseph Malovany, Kantor der New Yorker Fifth Avenue Synagoge und Professor für Liturgische Musik an der Belz School of Music der Yeshiva Universität in New York.
In unmittelbarer Nähe befinden sich auch Kindergarten und Schule. Der Lauder Nitzan Kindergarten verbindet als modern-orthodoxer Kindergarten traditionelle jüdische Bildung und Werte mit den Inhalten des Berliner Bildungsprogramms. In vier altersentsprechenden Gruppen werden Kinder zwischen ein bis sechs Jahren betreut. Die Lauder Beth Zion Grundschule, die 2008 gegründet wurde und unter Schirmherrschaft der Jüdischen Gemeinde zu Berlin steht, hat einen Schwerpunkt auf Fächern der jüdischen Religion und Hebräisch, bietet aber selbstverständlich auch weltliche Bildung. Sie befindet sich im Vorderhaus der Synagoge Rykestraße, wo bereits von 1922-1942 eine jüdische Schule untergebracht war. Sie besteht aus einer Grundschule (1. bis 6. Klasse), sowie einer weiterführenden Gesamtschule, die bereits heute schon den Mittleren Schulabschlusses nach der 10. Klasse anbietet. Das Abitur wird angestrebt.
Auch außerhalb Berlins unterstützt die Ronald S. Lauder Foundation zahlreiche Projekte. Manche werden in enger Kooperation mit Gemeinden vor Ort umgesetzt, wie beispielsweise der Kindergarten und das Tora-Zentrum in Leipzig oder die Jugendzentren in Osnabrück und Würzburg. Andere Initiativen wiederum ergänzen die Arbeit der jüdischen Gemeinden und richten sich daher an individuelle Personen. Durch eine e-Learning Schule wird für jüdische Kinder deutschlandweit ermöglicht, die Grundlagen der jüdischen Religion und des Hebräischen zu lernen. Zusätzlich bietet die e-Learning-Schule Wochenendseminare und Ferienlager, damit sich Schüler, Eltern und Lehrer auch persönlich kennenlernen können. Dabei soll die jüdische Tradition, beispielsweise am Schabbat, authentisch und in familiärer Atmosphäre gelebt werden. Alle zwei Jahre wird ein Vorbereitungskurs zur Bar- und Bat-Mizwa (bezeichnet im Judentum die religiöse Mündigkeit, Bar Mizwa für Jungen, Bat Mizwa für Mädchen) angeboten, mit einer Abschlussreise nach Israel.
Das sogenannte JCommunity Programm verbindet 15- bis 19-Jährige Juden und Jüdinnen aus ganz Deutschland miteinander und bietet ihnen ein vielfältiges Programm, um mehr über die jüdische Religion und Tradition zu erfahren.
Seit 2007 gibt es eine spezifisch orthodox ausgerichtete Studentenorganisation: Morasha Deutschland. Sie betreut jüdische Studentinnen und Studenten, junge Berufstätige und internationale Studierende, die zu einem Studienaufenthalt in Deutschland wohnen. Der Verband möchte jüdisches Leben unter jungen Erwachsenen fördern, ein Netzwerk mit anderen jungen Jüdinnen und Juden in ganz Deutschland Land aufbauen sowie junge Menschen für die ehrenamtliche Arbeit in einem jüdischen Umfeld begeistern. Der Studentenverband ist in Berlin auf eine lokale Initiative hin entstanden. Eine kleine Gruppe Studierender traf sich wöchentlich in einem koscheren Café. Daraus entstand schließlich ein Verein, der sich dann im Laufe der Jahre in ganz Deutschland verbreitete. Heute ist Morasha in vielen Städten Deutschlands verankert, das Lern- und Netzwerkprogramm erstreckt sich über ganz Deutschland und wächst weiter rasant.
Um Gemeinden eine Stimme zu geben, die ein authentisches, traditionelles Judentum nach orthodoxem Verständnis leben wollen, hat sich 2012 der Bund traditioneller Juden in Deutschland e. V. (BtJ) gegründet. Der BtJ wurde unter anderem von Vorstandsmitgliedern verschiedener jüdischer Gemeinden sowie Rabbinern ins Leben gerufen und möchte Gemeinden in ihrer Arbeit stärken und in diversen Belangen unterstützen. Mittlerweile gehören ihm über 30 Gemeinden in ganz Deutschland an. Der jährlich stattfindende Schabbaton (Wochenendseminar) zieht mittlerweile hunderte Teilnehmer aus ganz Deutschland an. Der BtJ organisiert aber auch lokale Lerngruppen für Jugendliche, Lernvorträge in Gemeinden mit bekannten Gastrednern, regionale Veranstaltungen, berät die Gemeinden bei der Erarbeitung von Konzepten und bei Eröffnung von Kindergärten oder der Implementierung von Schulkonzepten, etc.
Seit 1989 gibt es in Deutschland auch Chabad. Ursprünglich ist Chabad eine ultraorthodoxe, chassidische Bewegung, die im 18. Jahrhundert im damaligen Königreich Litauen gegründet wurde. Sie ist kabbalistisch-mystisch in ihrer religiösen Ausrichtung. Die Chabad-Bewegung ist aktiv im jüdischen "Outreach", d.h. sie versucht säkulare Juden und Jüdinnen wieder zu ihrer Religion zurückzubringen. Das erste Chabad-Zentrum in Deutschland wurde 1989 in München eröffnet. Es folgten dann im Laufe der Jahre weitere Niederlassungen. Mittlerweile ist Chabad in 15 Städten aktiv. Das größte Zentrum befindet sich in Berlin. Chabad unterhält eigene Synagogen und Programme, arbeitet teilweise mit den lokalen Gemeinden zusammen, manchmal sind Chabad-Rabbiner auch als Gemeinderabbiner tätig. Trotzdem ist die Chabad-Bewegung eigenständig und weder Teil des Zentralrats der Juden in Deutschland, noch der ORD. Einzelne Chabad-Emissäre, die als Rabbiner in Zentralratsgemeinden arbeiten, sind auch Mitglieder in der ORD, aber grundsätzlich hat Chabad eine eigene Rabbinerkonferenz, den Deutschen Rabbinerrat. Ebenso unterhält Chabad auch ein eigenes Rabbinatsgericht.
Fazit
Das orthodoxe Judentum hat in Deutschland eine lange und reiche Tradition. Nach der fast vollständigen Vernichtung des Judentums während der Schoah war die jüdische Gemeinde in Deutschland nach dem Krieg sehr klein. Durch den Zuzug von Juden und Jüdinnen aus der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropa gab es einen starken Anstieg der Mitglieder- und Gemeindezahlen und so sind wieder verschiedenste orthodoxe Verbände und Organisationen entstanden. Die Orthodoxie ist nach wie vor die wichtigste Strömung im deutschen Judentum und zeigt sich in einer großen Vielfalt und Heterogenität, von modern-orthodox bis ultraorthodox, von zionistisch bis mystisch.