Zum 70-jährigen Bestehen des
Trotzdem hat sich sehr viel in den vergangenen Jahren getan.
In meiner Kindheit in den 1970er und 1980er Jahren war beispielsweise eine Bat Mizwa (hebr. "Tochter der Gebote“), die religiöse Feier für das Erwachsenwerden der Mädchen, unüblich.
Heute hingegen ist eine Bat Mizwa für Mädchen in allen jüdischen Gemeinden selbstverständlich. Und nicht nur das: Die Mädchen haben Wahlmöglichkeiten, wie sie ihre Bat Mizwa gestalten. Sie reichen von der Mindestanforderung in einem traditionellen Setting, z.B. einer Rede außerhalb des Synagogengottesdienstes in Kombination mit einer Feier am Samstagabend – bis hin zur Maximalanforderung in einem liberal-jüdischen Setting, wo von den Mädchen bei der Bat Mizwa dasselbe erwartet wird wie von den Jungen bei ihrer Bar Mizwa. In letzterem Fall wird das Mädchen während des großen Gottesdienstes am Samstagmorgen offiziell mit ihrem jüdischen Namen zur Tora-Lesung aufgerufen und fortan zum Minjan, dem Quorum, gezählt. Auf diesen Moment wurde sie etwa ein Jahr lang mit entsprechendem Unterricht vorbereitet. Sie trägt dann, genau wie auch die Jungen, erstmals öffentlich einen Tallit, einen Gebetsschal. Sie geht nach vorn zur Bima, dem Podest, und trägt aus der aufgerollten Tora-Rolle eine längere Passage in Hebräisch vor. Im Anschluss an die Lesung hält das Mädchen eine Rede, in der sie nach der rabbinischen Auslegungskunst das Gelesene selbständig interpretiert und sich dabei als selbstbewusstes Mitglied der jüdischen Gemeinschaft präsentiert. Während bei einer Bar Mizwa auch der Vater und der Großvater zur Tora aufgerufen werden, erhalten bei einer Bat Mizwa in einem liberal-jüdischen Setting ebenso die Mutter und die Großmutter diese Ehre. Und wenn das Mädchen im Anschluss vom Rabbiner oder der Rabbinerin gesegnet wird, regnet es genauso wie bei einem Jungen von allen Seiten Bonbons, singt die Gemeinde das mitreißende Lied "Siman tow u-Masal tow“ (Gutes Zeichen, gutes Glück!), klatscht und jubelt darüber, dass das jüdische Volk in dieser kleinen, nunmehr erwachsen werdenden Persönlichkeit weiterlebt.
Die Mehrheit der Juden und Jüdinnen in Deutschland hält allerdings das modern-orthodoxe Judentum für das normative Judentum (wenngleich nur eine kleine Minderheit die orthodoxen Regeln für den Alltag praktiziert). Das zeigt sich auch bei der Ausgestaltung der meisten Bat Mizwa-Feiern. Zwar können Mädchen auf unzähligen Websites, YouTube-Videos und Blogs von Influencerinnen Anregungen für die Gestaltung ihres Fests finden. Doch die Möglichkeit einen Tallit zu tragen, mit dem sie sich als religiös gleichberechtigt zeigt, kommt kaum vor.
Grundsätzlich ist es nicht verboten. Schon im Talmud wird gesagt, dass Michal, die Tochter von König Saul (in der Hebräischen Bibel (=Altes Testament) der erste König Israels), Tefillin, das heißt Gebetsriemen, legte und damit verbunden wahrscheinlich auch einen Tallit trug.
Dass dies so ist, ist wahrscheinlich immer noch eine Spätfolge der
Wie weit damit zugleich ein systematisches Vergessen einherging, wurde mir erst klar, als ich als junge Frau in den 1990er Jahren erfuhr, dass es eine Rabbinerin in Deutschland gegeben hatte – sogar die erste Rabbinerin der Welt. Damals lebten noch eine Reihe von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die Rabbinerin Regina Jonas in den 1930er und 40er Jahren in Berlin und später im KZ Theresienstadt erlebt hatten. Ich bin enttäuscht, dass mir niemand von ihnen etwas über sie erzählt hatte. Als 1972 am amerikanischen Hebrew Union College (Cincinnati) Sally Priesand zur Rabbinerin ordiniert wurde, dachte die überwiegende jüdische Bevölkerung weltweit, sie sei die erste Rabbinerin. Diejenigen, die es besser wussten, taten so gut wie nichts, um den falschen Eindruck zu korrigieren. Als ich dann in den späten 1990er Jahren anfing, eine Biographie über Regina Jonas zu schreiben, begannen die Zeitzeugen doch noch zu sprechen.
Regina Jonas wurde 1902 in Berlin geboren und 1944 in Auschwitz ermordet. Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Schon im frühen Alter war es ihr Wunsch, Rabbinerin zu werden. Später studierte sie an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Dort reichte sie 1930 eine halachische, d.h. eine religionsgesetzliche Abschlussarbeit ein mit dem Titel "Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“ Darin setzte sie sich mit den jüdischen Gesetzen und rabbinischen Bestimmungen im Lichte der modernen Frauengleichberechtigung auseinander. Sie kam zu der Feststellung: "Ausser Vorurteil und Ungewohntsein steht hal.[achisch] fast nichts dem Bekleiden des rabbinischen Amtes seitens der Frau entgegen.“ Für diese Arbeit bekam sie das Prädikat "gut“. Doch die Hochschule fürchtete einen Skandal und wollte sie daher nicht als Rabbinerin ordinieren. Erst 1935, fünf Jahre später, machte der für seine mutigen Überzeugungen bekannte liberale Rabbiner Max Dienemann in Offenbach den bahnbrechenden Schritt. Im Auftrag des Allgemeinen Rabbinerverbandes nahm er von Regina Jonas die Rabbinatsprüfung ab und stellte ihr die Smicha, das Rabbinatsdiplom, aus. Das Dokument liegt heute zusammen mit ihrer Abschlussarbeit und vielen anderen Zeugnissen ihres Lebenswegs im Archiv des Centrum Judaicum in Berlin. Zu diesen Zeugnissen gehört auch ein Interview, in dem Regina Jonas sagte: "Fähigkeiten und Berufungen hat Gott in unsere Brust gesenkt und nicht nach dem Geschlecht gefragt. So hat ein jeder die Pflicht, ob Mann oder Frau, nach den Gaben die Gott ihm schenkte, zu wirken und zu schaffen.“
Gegen viele Widerstände gelang es Regina Jonas trotzdem, in Berlin als Rabbinerin tätig zu sein. In der jüdischen Gemeinde Berlin war sie insbesondere für die seelsorgerische Betreuung sowie Predigten in jüdischen Gottesdiensten zuständig. Es blieben Regina Jonas jedoch nur wenige Jahre. Sie verwirklichte ihre Berufung in einer Zeit, in der Deutschland unter der NS-Herrschaft das europäische Judentum vernichtete. 1942 wurde sie von Berlin ins
Erst Jahrzehnte später hatte Regina Jonas in Deutschland eine Nachfolgerin. 1995 wagten die jüdischen Gemeinden Oldenburg und Braunschweig einen großen Schritt, als sie die gerade am Jewish Theological Seminary in New York ordinierte Schweizerin Bea Wyler als Rabbinerin anstellten. Die Entscheidung sorgte für große Furore unter der jüdischen Bevölkerung in Deutschland. Erwartungsgemäß musste auch Bea Wyler mit vielen Widerständen kämpfen. So machte der damalige Präsident des Zentralrates der Juden, Ignatz Bubis, keinen Hehl daraus, dass er eine Frau als Rabbiner ablehne und keinen von einer Frau geleiteten Gottesdienst besuchen würde.
Die heutige Situation ist in jedem Fall auch dem großen Neuaufbruch Ende der 1990er Jahre zu verdanken. In dieser Zeit entstand unter anderem die jüdisch-feministische Initiative Externer Link: "Bet Debora – Tagung europäischer Rabbinerinnen, Kantorinnen, rabbinisch gelehrter Jüdinnen und Juden“.
Die einstige jüdische Vielfalt in Deutschland, die in der Schoa unterging, jedoch in den USA und Großbritannien weiterlebte, beginnt sich in Deutschland ganz allmählich zu regenerieren. . Mittlerweile gibt es hierzulande verschiedene Rabbinerseminare. So wurde 1999 das liberale Abraham Geiger Kolleg in Potsdam gegründet. Hier studierte Alina Treiger, die 2010 als erste Rabbinerin nach der Schoa in Deutschland ordiniert wurde. Seit 2013 gibt es in Potsdam zusätzlich ein Zacharias Frankel Kolleg, das der Masorti-Richung angehört und an dem sich ebenfalls Frauen zur Rabbinerin ausbilden lassen können. Soeben ist das Buch "Reginas Erbinnen. Rabbinerinnen in Deutschland“ erschienen – eine bemerkenswerte Anthologie verschiedener Rabbinerinnen-Porträts, darunter der Mitherausgeberin Rabbinerin Dr. Antje Yael Deusel, die auch Vorstandsmitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz ist.
Ein Vergleich im Weltmaßstab: In den Rabbinerseminaren der verschiedenen jüdischen Richtungen wurden seit den 1970er Jahren etwa 1.000 Frauen ordiniert. Sie stellen ein Viertel des nicht-orthodoxen Rabbinats weltweit. In der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschland sind von 30 Rabbinern acht Frauen – also etwas mehr als ein Fünftel, Tendenz langsam steigend. Und selbst im orthodoxen Judentum ist die Rabbinerin kein Tabu mehr. An der Yeshivat Maharat in New York, die sich selbst als "open orthodox“ bezeichnet, wurden inzwischen rund 50 orthodoxe Rabbinerinnen ordiniert. Für das Mainstream-orthodoxe Judentum in Deutschland ist das zwar (immer noch) nicht Realität. Trotzdem: Eine dieser orthodoxen Rabbinerinnen – Rabbinerin Rebecca Blady – lebt und wirkt in Berlin.
Im Gegensatz zu meiner Generation ist es den heutigen jungen Frauen ein Leichtes, die Geschichte der Vorgängerinnen sowie die Vielfalt der Möglichkeiten in der Gegenwart zu kennen. Auch wenn der Lehr- und Studienplan des jüdischen Religionsunterrichts zumeist vom orthodoxen Standpunkt her konzipiert wird, sind so gut wie alle anderen jüdischen Anschauungen und Anlaufstellen über das Internet frei zugänglich. In den meisten großen Städten gibt es sowohl eine orthodoxe als auch eine liberale Option. Bei entsprechenden Jugendaktivitäten, zum Beispiel den Ferienlagern der
Die jungen jüdischen Frauen in Deutschland haben also viele Wahlmöglichkeiten, wie sie ihr Judentum verstehen und leben wollen. Doch von den religiösen Inhalten des Judentums scheinen sich die Meisten nur wenig zu versprechen. Wenige Monate vor der Jubiläumsausgabe zum 70-jährigen Bestehen des Zentralrats der Juden erschien in der Jüdischen Allgemeinen eine Beilage zum 8. März, dem internationalen Frauentag.
Rabbinerinnen müssen offenkundig auch unter Frauen für ihre Sichtbarkeit kämpfen. Aber vielleicht liegt das Problem gar nicht so sehr in der Gleichberechtigung der Frau, sondern in der Religion an sich – insofern als das Religiöse ganz allgemein einen schweren Stand im heutigen jüdischen Leben hat. So steht die Tallit-tragende Rabbinerin in Deutschland für mehr als lediglich eine Frau in einem vermeintlichen Männerjob. Sie steht womöglich für nichts weniger als einen Paradigmenwechsel, in dem erneut nach der Bedeutung des Religiösen für das moderne Leben gefragt wird. Auch deshalb sind Rabbinerinnen eine optische Provokation. Sie zurückzudrängen ist möglicherweise nicht als Unterdrückung der Frau intendiert, sondern als das Verdrängen einer viel größeren Herausforderung – die Neuverhandlung des Religiösen in einer durch und durch säkularen Zeit. Die Tallit-tragende Rabbinerin scheint dies zu repräsentieren. Auch wenn sie immer noch oft aus dem offiziellen Gesichtsfeld verdrängt wird, berührt ihre Erscheinung den neuralgischen Nerv der Zeit.
Wo stehen wir damit heute? An den jüdischen Frauen erleben wir die Spannung, einerseits gleichberechtigt und darin auch formell anerkannt zu sein, aber als Repräsentantinnen einer religiösen Gleichberechtigung dennoch in eine zweite Reihe gewiesen zu werden. Umso wichtiger wäre es, wenn immer mehr Familien ihre Töchter auch in religiöser Hinsicht beim Anspruch auf volle Gleichberechtigung unterstützten. Dann würden sich sicherlich auch die äußeren Darstellungsweisen des jüdischen Lebens in Deutschland ändern – würden Tallit-tragende Rabbinerinnen und aus der Tora vortragende Bat Mizwa Mädchen das Bild von vornherein mitbestimmen. Und wichtiger noch: Wenn das geschieht, wäre noch sehr viel mehr vom jüdischen Leben als Kraft in einer größeren pluralistischen Welt zu erwarten.