Das Objekt
Tagebuch von Oskar Rosenfeld aus dem Ghetto Litzmannstadt
Wie auch andere Schriftsteller und Journalisten, die für das Archiv des Interner Link: Ghettos Litzmannstadt tätig waren, etwa Oskar Singer und Joseph Zelkowicz, unternahm Oskar Rosenfeld alle Anstrengungen, seine Texte sicher zu verstecken, in der Hoffnung, dass sie den Krieg überdauern könnten. In den meisten Fällen gelang das auch. Obwohl alle drei im August 1944 in Auschwitz ermordet wurden, konnten ihre Texte nach dem Ende des Interner Link: Zweiten Weltkriegs geborgen und in mehreren Sprachen veröffentlicht werden. Das Tagebuch wurde 1994 unter dem Titel "Wozu noch Welt: Aufzeichnungen aus dem Getto Lodz" in seiner Originalsprache Deutsch veröffentlicht. Auf Englisch erschien es in der Übersetzung von Brigitte M. Goldstein, herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Hanno Loewy, unter dem Titel "In the Beginning was the Ghetto: Notebooks from Łódź" (Northwestern University Press, 2002). Das Manuskript des Tagebuchs wird in Jerusalem im Archiv von Yad Vashem – Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust aufbewahrt.
Historischer Kontext
Als Gefangener im Ghetto Łódź versuchte Oskar Rosenfeld, den Sinn der Welt zu verstehen, die um ihn herum zusammengebrochen war.
In jener kurzen Phase der Geschichte – noch nicht einmal einem Jahrhundert –, die zwischen der politischen Emanzipation des deutschsprachigen Judentums und dessen Interner Link: Verfolgung durch die Nazis lag, hatten sich die deutschen Jüdinnen und Juden mit einer wesentlichen Frage auseinanderzusetzen: wie sollte man sich zu den “Ostjuden” verhalten, ihren Millionen zählenden Jiddisch sprechenden Vettern und Cousinen im Osten Europas? Während die sogenannten Ostjuden vielen deutschen Jüdinnen und Juden – die selbst manchmal nur eine oder zwei Generationen vom Interner Link: Schtetl entfernt waren – Peinlichkeit und Beklemmungen verursachten, wurden solche Gefühle oftmals durch eine gewisse Sehnsucht nach der spirituellen Lebenskraft und kreativitätsgeladenen Kultur dieser jiddischsprachigen Welt gemildert, die gerade begonnen hatte, ihre eigene Stimme in der Literatur, im Theater und im politischen Diskurs zu entwickeln. Während des ersten Weltkriegs waren im Zuge der Okkupation großer Gebiete in Polen und Litauen durch Deutschland und Österreich die Kontakte zwischen deutschsprachigen jüdischen Intellektuellen und den osteuropäischen Jüdinnen und Juden deutlich intensiver geworden und diese Eindrücke hinterließen unauslöschliche Spuren in der deutsch-jüdischen Kultur der Zwischenkriegszeit.
Einer der führenden Vermittler zwischen dem deutschsprachigen Judentum und der jiddischen Welt im Osten war Oskar Rosenfeld. Im Oktober 1941 deportierten die Nazis Oskar Rosenfeld zusammen mit 20.000 anderen Jüdinnen und Juden aus Deutschland, Österreich und dem Protektorat Böhmen und Mähren in das Ghetto Litzmannstadt. Eine zutiefst traumatisierende Erfahrung: Plötzlich und ohne Vorwarnung fanden sich diese mehrheitlich der Mittelschicht entstammenden, deutschsprachigen Jüdinnen und Juden in verkommenen und verdreckten ehemaligen Schulen und Synagogen wieder, zu fünfhundert in einen Raum gepfercht, ohne Arbeit, mit nur wenig Essen und ohne Sanitäranlagen, in diesem sogenannten "Sammellager", in das schon mehr als 130.000 polnische Jüdinnen und Juden verschleppt worden waren, die zuvor ihres gesamten Besitzes beraubt und nun systematisch ausgehungert und gedemütigt wurden. Unter solchen Umständen war das gemeinsam zu ertragende Leid nicht der Selbstlosigkeit oder auch nur der Großzügigkeit förderlich. Innerhalb kürzester Zeit betrachtete jede Gruppe die jeweils andere voller Feindseligkeit und Verachtung. In diesem fremden und anscheinend von Unmenschlichkeit geprägten Ghetto, in dem sie auf ihre dürftigen Interner Link: eigenen Mittel angewiesen waren und kein Freund ihnen half, starben zahlreiche "westliche" Gefangene. Von Oktober 1941 bis Mai 1942, als mit den Deportationen nach Interner Link: Chełmno begonnen wurde, waren bereits 4.000 – ungefähr 20 Prozent – der Lagerinsassen verhungert oder an einer Krankheit gestorben.
Anders als die meisten Deportierten konnte sich Oskar Rosenfeld im Ghetto einrichten. Mit seinen guten Jiddischkenntnissen und seiner Vertrautheit mit der europäischen Kultur knüpfte er an die Funktion an, die er schon vor dem Krieg gehabt hatte: Er wirkte als Vermittler zwischen der Kultur der “Ostjuden” und der des aus dem Westen stammenden Judentums. Dabei stellte er fest, dass es den Jüdinnen und Juden aus Prag leichter fiel, sich an die polnischen Jüdinnen und Juden anzupassen, als etwa denjenigen aus Düsseldorf oder Frankfurt. Die sogenannte "jüdische Selbstverwaltung" des Ghettos unter der Leitung von Chaim Rumkowski sowie die nach Łódź verschleppten Schriftsteller und Kulturschaffenden bereiteten Rosenfeld ein herzliches Willkommen und besorgten ihm eine Interner Link: Tätigkeit im Archiv. Diese Abteilung der Selbstverwaltung, in der viele ehemalige Journalisten und Schriftsteller beschäftigt waren, war mit der Aufgabe betraut, die Geschichte des Ghettos aufzuzeichnen, ein Personenstandsbuch zu führen und die herausragenden Leistungen der mehr als 100 Geschäfte und Fabriken zu dokumentieren, die zu einem unentbehrlichen Bestandteil der deutschen Kriegswirtschaft geworden waren und derentwegen die endgültige Liquidation des Ghettos Litzmannstadt bis zum August 1944 aufgeschoben wurde. Rosenfeld entfaltete in Łódź eine außerordentliche Produktivität und arbeitete an drei großen Projekten gleichzeitig: die riesige "Lodzer Getto-Chronik" mit ihren abertausenden Seiten; die Enzyklopädie des Ghettos Litzmannstadt, sowie seine privaten Tagebücher, die in weiten Teilen nach dem Krieg unter dem Titel "Wozu noch Welt" bzw. "In the Beginning was the Ghetto" veröffentlicht wurden.
Dieses private Manuskript ist ein bemerkenswerter Text. Anders als die Chronik, bei der Rosenfeld und seine Mit-Autoren in erheblichem Maße Selbstzensur üben mussten, handelt es sich bei diesem Tagebuch um eine ungeschminkte Interner Link: Darstellung von Rosenfelds Gefühlen bei dem Bemühen, eine Welt zu verstehen, die um ihn herum in Trümmern lag. Diese Aufzeichnungen, die nicht ausschließlich Tagebuch und nicht ausschließlich Chronik sind, spiegeln den inneren Kampf eines europäischen Intellektuellen von Rang mit starken Wurzeln im Judentum wider, der das zu begreifen sucht, was er sieht und erlebt. Dieses Bemühen findet nicht nur aus jüdischer Perspektive statt; vielmehr wird sein Blick auch gebrochen durch das Prisma der deutschen Bildung, durch die in den Werken von Goethe, Schiller und Lessing zutage tretende Achtung des Menschen und seiner Würde. Rosenfeld schreibt vom Hunger, der dazu führte, dass für jede Person im Ghetto Essen das Sehnsuchtsobjekt schlechthin wurde; vom allgegenwärtigen Dreck und dem nicht zu entkommenden Gestank von Fäkalien, Urin und ungewaschenen Menschenleibern; von der ständigen Angst vor der nächsten Deportation ins Ungewisse; vom Kampf, inmitten der Hölle die eigene Würde zu bewahren.
Doch gibt es auch andere Momente, etwa Interner Link: jüdische Feiertage, an denen die abgerissenen, abgestumpften und erniedrigten Insassen des Sammellagers noch einmal – und sei es nur für kurze Zeit – ihre Selbstachtung wiederfinden und an ihre Vergangenheit anknüpfen können. Rosenfeld ringt in seinen Aufzeichnungen um ein Verständnis, um eine Erklärung für das Sammellager als Phänomen: der soziale Raum, durch den es sich von einem Konzentrationslager unterscheidet; das andauernde Wechselspiel der dort vorzufindenden beispiellosen Missstände mit den dünnen Verbindungen an die Vorkriegsrealität; die tiefe Verzweiflung, die sich ablöst mit überraschend auftretenden Formen von Kreativität wie Konzerten, Kulturabenden und Gesprächen mit anderen Intellektuellen. Als Literat ist Rosenfeld zutiefst bewusst, dass es einer konventionellen Sprache nicht möglich sein kann, die noch nie so dagewesene Wirklichkeit des Lebens im Ghetto zu beschreiben und zu vermitteln, weswegen er untersucht, wie das "Ghetto-Jiddisch" diese Herausforderung sprachlich meistert. In seinem Tagebuch dokumentierte er den Tod bekannter deutschjüdischer Intellektueller – Professoren, Ärzte, Anwälte, Rabbiner. Und täglich kämpfte er ums Überleben.
Einige Monate vor seinem Tod in Auschwitz organisierten führende Intellektuelle des Ghettos für ihn eine Interner Link: Überraschungsparty zum Geburtstag, auf der er als "Vertreter des Westens" gefeiert wurde. An dem Tag notierte er: "Durch mich werden alle aus dem Westen gefeiert."
Persönliche Geschichte
Ein intellektuelles Leben in Wien vor der Deportation ins Ghetto Łódź
Oskar Rosenfeld wurde am 13. Mai 1884 in Koryčany (Mähren) geboren, verbrachte jedoch den größten Teil seines Lebens in Wien, wo seine Mutter ein erfolgreiches Unternehmen führte und er im Jahr 1908 an der philologischen Fakultät promoviert wurde. Rosenfelds Karriere in so unterschiedlichen Welten wie der Interner Link: zionistischen Politik, dem Interner Link: Theater, der Literatur und dem Journalismus war überall von bemerkenswerter Kreativität geprägt. In allen Kontexten war seine Botschaft, dass Jüdinnen und Juden das Bemühen um die – ohnehin unmögliche – Assimilation aufgeben und stattdessen an einer eigenen persönlichen Identität arbeiten sollten, die einerseits von allgemeingültigen Werten der Freiheitlichkeit geprägt und andererseits fest und stolz im Wissen des Judentums verankert sein sollte. Als junger Mann lernte Rosenfeld Interner Link: Theodor Herzl kennen, der seine weitere Entwicklung maßgeblich beeinflusste. Die Protagonisten seines Romans "Die vierte Galerie. Ein Wiener Roman" (1910) und der Novelle "Mendel Ruhig" (1920) sind junge Juden, die auf dem unsicheren Terrain irgendwo zwischen der zurückgelassenen Welt der Traditionen und der Mehrheitsgesellschaft, in der sie niemals ankommen werden, um Selbsterkenntnis ringen.
Rosenfeld verbrachte die Jahre des Interner Link: Ersten Weltkriegs in Bulgarien und kehrte anschließend nach Wien zurück, wo er Herausgeber der zionistischen "Wiener Morgenzeitung" wurde. Von seiner Haltung her ein unerschütterlicher Befürworter von Wladimir Jabotinskys militantem revisionistischem Zionismus, engagierte er sich gleichzeitig persönlich als Vermittler zwischen der deutschjüdischen und der jiddischen Kultur, indem er etwa wichtige jiddische Autoren wie Scholem Alejchem und Jizschok Leib Perez aus dem Jiddischen ins Deutsche übersetzte. In dieser Zeit beschäftigte ihn die Frage besonders, wie das Theater genutzt werden könnte, um der deutschsprachigen jüdischen Kultur neues Leben zu verleihen. Im Jahr 1909 gründete er gemeinsam mit Hugo Zuckermann das erste jüdische Theater in Wien, die Jüdische Bühne. 1927 folgte eine weitere Theatergründung, ebenfalls in Wien: die Jüdischen Künstlerspiele. Darüber hinaus unterstützte er das in jiddischer Sprache spielende Wandertheater Wilnaer Truppe wie auch das Ensemble des Habima-Theaters bei ihren Aufenthalten in Wien und gab ihnen die Möglichkeit, in den von ihm gegründeten Theatern aufzutreten.
Ein Jahr nach ihrer Eheschließung zwang der Interner Link: Anschluss Österreichs Oskar Rosenfeld und seine Frau Henriette, Wien zu verlassen und nach Prag zu ziehen. Henriette Rosenfeld emigrierte 1939 nach Großbritannien. Bevor Oskar ihr folgen konnte, brach am 1. September 1939 der Krieg aus und es gab für ihn kein Entrinnen mehr vor den Nazis. 1941 wurde er in das Sammellager von Łódź verschleppt, wo sein Tagebuch entstand. Dort überlebte er bis zum August 1944. In diesem Monat, als die Sowjetische Armee keine 100 Kilometer von Łódź entfernt war, wurden die verbleibenden 70.000 Juden des Ghettos nach Auschwitz deportiert, wo Rosenfeld Interner Link: ermordet wurde.
Dieser Beitrag ist Teil des Externer Link: Shared History Projektes vom Externer Link: Leo Baeck Institut New York I Berlin.