Das Objekt
Intrauterinpessar ("Spirale")
Vor einem Jahrhundert stellte Dr. Ernst Gräfenberg die erste Spirale her, indem er Seidenfäden bzw. Silberdraht um einen Ring wickelte. Spätere Modelle waren aus Plastik. Die ersten Intrauterinpessare führten jedoch häufig zu Entzündungen, weswegen diese Verhütungsmethode keine breite Akzeptanz fand. Heute sind die Gräfenberg-Ringe aus Kupfer, Zink und Nickel im MUVS. Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch in Wien zu sehen.
Historischer Kontext
Ernst Gräfenbergs Kampagne für die Rechte der Frau.
Die "Erfindung" des Intrauterinpessars von Dr. Ernst Gräfenberg ist Teil einer transnationalen – konkret: einer gemeinsamen deutsch-jüdisch-amerikanischen – Geschichte von Sexualreform und Bevölkerungspolitik. Die Bewegung war geprägt vom einem breiten "Konsens über Mutterschaft und Eugenik" der gesunde Mutterschaft und Fortpflanzung forderte – und jeweils in unterschiedlich radikaler Form – die
Ernst Gräfenberg wurde 1881 geboren; seine jüdische Familie lebte in Adelebsen, einer kleinen Stadt nahe Göttingen. Sein Vater besaß einen Eisenwarenhandel und war Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Ernst Gräfenberg studierte Medizin in Göttingen und München, ursprünglich mit der fachärztlichen Ausrichtung der Augenheilkunde, und schloss im Jahr 1910 seine Ausbildung in Geburtskunde und Gynäkologie in Kiel ab. Seine gerade erst begonnene Laufbahn als Arzt und Wissenschaftler in Berlin wurde unterbrochen, als er im Ersten Weltkrieg als Sanitäter diente.
Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg ließ sich Gräfenberg mit einer Praxis auf dem Kurfürstendamm mitten im belebten Berliner Geschäftszentrum Charlottenburg nieder, die bald florierte. Der Bezirk stand wie kein anderer für die experimentell-modernistische und jüdisch geprägte urbane Kultur der
Mohamed und Anna
Im Jahr 1932, kurz vor ihrer Entlassung im Rahmen der von den Nazis betriebenen "
Ein im Jahr 2016 in Haaretz erschienener Beitrag feierte Gräfenberg wegen seiner anderen (nach seinem Tod erkannten) Errungenschaft als den "Arzt, der den G-Punkt entdeckte, falls es diesen gibt" und beschrieb ihn als Mann, "der seiner Zeit voraus war." Tatsächlich war er aber auch und gerade ein Mensch seiner Zeit. Sexualwissenschaftler, Ärzte, Sozialarbeiter und Politiker der Weimarer Republik beklagten den "Graben zwischen den Geschlechtern", der sich im
Im Jahr 1928 organisierte das neu gegründete Deutsche Komitee für Geburtenregelung in Zusammenarbeit mit dem Verband Berliner Krankenkassen das erste Ärzteseminar zum Thema Geburtenregelung im Berliner Virchow-Krankenhaus. Die meisten der ungefähr 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren Mitglieder des Vereins sozialistischer Ärzte und/oder des Bundes deutscher Ärztinnen; viele von ihnen kamen aus jüdischen Familien.
In seinem Vortrag fasste Gräfenberg seine seit fast zehn Jahren betriebene experimentelle Forschung an Intrauterinpessaren (IUP) zusammen; diese waren erstmals von den deutschen Ärzten Richard Richter (1909) veröffentlicht und Walter Pust (1923) entwickelt worden. Gräfenberg hatte das IUP weiterentwickelt als einen Ring mit Seidenfäden, mit dem Spermien abgewehrt wurden. Das Gerät stellte eine "elegante" medizintechnische Lösung dar, so formulierte er es, die Frauen vor häufigen Schwangerschaften und der Gefahr einer Sepsis oder einer möglichen Unfruchtbarkeit bewahrte, die mit einer illegalen
Davon unbeeindruckt präsentierte der Sexualwissenschaftler 1929 sein IUP auf dem Londoner Kongress der Weltliga für Sexualreform. Diese internationale Vereinigung, die Wilhelm Reich, Alexandra Kollontai und Bertrand Russell wie auch Aktivisten aus Indien und Japan zu ihren Unterstützern zählte, trat für sexuelle Freiheit, die Rechte von Homosexuellen und die Legalisierung von Abtreibungen ein. Inspiriert war die Liga in ihrer Haltung von der frühen bolschewistischen Revolution und dem Leitsatz des von Magnus Hirschfeld gegründeten Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin: Per Scientiam ad Iustitiam.
Im gleichen Jahr hielt Gräfenberg einen Vortrag auf der Internationalen Konferenz für Geburtenregelung in Zürich. Margaret Sanger, der Vorkämpferin der Verhütung in den Vereinigten Staaten, war es gelungen, Vertreter einer auffallend großen Vielfalt von Gruppierungen und politischen Haltungen als Teilnehmer der Konferenz zu gewinnen. Anwesend waren überzeugte Kommunisten und Mitglieder des Bundes deutscher Ärztinnen, sowie Dr. Hans Lehfeldt und Dr. Felix Theilhaber, beides Kollegen von Gräfenberg die in den von Laienorganisationen der Sexualreformbewegung getragenen Beratungsstellen tätig waren. Auch Dr. Charlotte Wolff, die in einem Ambulatorium der Schwangerenfürsorge des Verbandes Berliner Krankenkassen arbeitete, nahm teil, wie auch Eugeniker, die zum Teil von der Rockefeller-Stiftung unterstützt wurden.
Auf der Züricher Konferenz mit ihren medizinischen Vorträgen – aber auch gemeinsamen Abendessen, Tänzen und Ausflügen in die Berge der friedlichen Schweiz – wurden Verbindungen geknüpft und intensiviert, die sich nur wenige Jahre später als lebensrettend herausstellen sollten, als viele der Teilnehmer, darunter auch Hans Lehfeldt, Felix Theilhaber und Charlotte Wolff, aus Deutschland flüchten mussten. Eine weitere Folge dieser Konferenz waren globale Kooperationen nach dem Krieg und die Entstehung der International Planned Parenthood Federation. Kurze Zeit später organisierte die Weltliga für Sexualreform einen von radikaleren Positionen gekennzeichneten Kongress in Wien mit der Unterstützung des sozialistisch regierten Rathauses der Stadt. Es kann angenommen werden, dass in dessen Ausstellung von Verhütungsmitteln auch Gräfenbergs neuer Ring gezeigt wurde.
Persönliche Geschichte
Vom Kudamm zur Park Avenue
Im Jahr 1933 wurden in Deutschland ungefähr 1.000 Sexualberatungsstellen betrieben; die Leserschaft der von Laienorganisationen veröffentlichten Sexualratgeber ging in die zehntausende. Dieser experimentellen Bewegung, in der jüdische Ärzte und viele jüdische Ärztinnen eine äußerst prominente Rolle spielten, wurde mit der
Porträt Ernst Gräfenberg, Externer Link: Shared History Projekt. (© Leo Baeck Institute New York | Berlin) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de
Porträt Ernst Gräfenberg, Externer Link: Shared History Projekt. (© Leo Baeck Institute New York | Berlin) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de
Dr. Ernst Gräfenberg wurde im Jahr 1933 seiner Position als Chefarzt im Krankenhaus Berlin-Britz enthoben und darüber hinaus kurzzeitig in Haft genommen, so berichtete es später sein Kollege Dr. Hans Lehfeldt. Anders als viele seiner jüdischen und linksgerichteten Kolleginnen und Kollegen, die (anfangs häufig wegen des Vorwurfs illegaler Abtreibungen) festgenommen oder umgebracht wurden – oder in den Suizid getrieben wurden -- wenn es ihnen nicht möglich war, aus Deutschland zu fliehen – konnte Gräfenberg seine Privatpraxis am eleganten Ku‘damm noch lange in die Nazizeit weiterführen. Über seine Tätigkeiten in dieser Zeit ist wenig bekannt, außer dass Lehfeldt ihn 1934 drängte, aus Deutschland zu fliehen, solange das noch möglich sei, und dass Gräfenberg zögerte: er fühlte sich, so erinnerte sich Lehfeldt "bei all den Ehefrauen hoher Nazi-Würdenträger unter seinen Patientinnen völlig sicher". Damit befand er sich, so bemerkte sein Freund, zwangsläufig im Irrtum.
Im Jahr 1940 wurde Gräfenberg ein weiteres Mal verhaftet: Ihm wurde der Versuch zur Last gelegt, eine wertvolle Briefmarke aus Deutschland zu schmuggeln (möglicherweise versuchte er zu diesem Zeitpunkt doch, aus Deutschland zu fliehen). In der Folge trugen die internationalen Verbindungen, die er 1930 auf der Konferenz in Zürich insbesondere zu Margaret Sanger geknüpft hatte, zu seiner Rettung in letzter Minute bei. Auf Grund des international ausgeübten Drucks sah sich das US-amerikanische Konsulat zu einer seltenen Intervention zugunsten Gräfenbergs veranlasst; laut Lehfeldt wurde eine erhebliche Summe für die Bewilligung seiner Ausreise als Lösegeld gefordert, deren Zahlung Margaret Sanger übernahm.
Gräfenberg konnte eine Stelle bei Dr. Alan Guttmacher im Mount Sinai Hospital in New York antreten; Margaret Sanger stellte ihn – offenbar als einzigen männlichen Arzt – in ihrem Ambulatorium für Geburtenregelung ein. Allerdings war sie nicht überzeugt, dass seine Erfindung eine sichere Verhütungsmethode darstellte und ließ daher nicht zu, dass er das IUP verschrieb oder einsetzte. Im Laufe der Zeit wurde sie zunehmend irritiert mit Gräfenbergs förmlichem Auftreten und seinen Schwierigkeiten mit dem Englischen, die die Patientinnen abschreckten, die sie an ihn verweisen wollte.
Nachdem er im Alter von 60 Jahren vom Medical Board die ärztliche Zulassung erhielt, brach bei ihm die Parkinson‘sche Krankheit aus. Das bedeutete das Ende seiner Karriere im Krankenhaus. Doch tat dies Gräfenbergs Interesse an der weiblichen Anatomie und Sexualität keinen Abbruch. Seine Forschungen fanden sowohl im Kinsey-Report als auch in den späteren Untersuchungen zum
Im Jahr 1950 veröffentlichte Gräfenberg den Artikel, der ihn posthum als "Erfinder des G-Punkts" berühmt machen sollte. In "Die Rolle der Harnröhre beim weiblichen Orgasmus“ griff er die Debatten der Sexualreformbewegung über den Kampf gegen weibliche "Frigidität" erneut auf. Wenngleich er davon überzeugt war, neue "erotogene" Zonen in der Vagina entdeckt zu haben, gestand er doch zu: "[O]bwohl der weibliche Orgasmus seit Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden Gegenstand von Diskussionen ist, sind die Probleme weiblicher Befriedigung immer noch nicht gelöst." Im Jahr 1982 – als sich das Diaphragma, einst das wichtigste Verhütungsmittel der Weimarer Sexualreform, auch in den USA immer größerer Beliebtheit erfreute, als sicherere und weniger medizintechnische Alternative zum IUP und zur
Dieser Beitrag ist Teil des Externer Link: Shared History Projektes vom Externer Link: Leo Baeck Institut New York I Berlin.