Das Objekt
Augenspiegel von Johannes Reuchlin
von Peter Wortsman
Augenspiegel, ein im Jahr 1511 veröffentlichter Aufruf des deutschen
Historischer Kontext
Der Rechtsanwalt und Gelehrte Johannes Reuchlin argumentierte, jüdische Bücher seien zu studieren, nicht zu zerstören
von Peter Wortsman
Augenspiegel, vom deutschen Humanisten Johannes Reuchlin 1510 ursprünglich als Gutachten mit dem Titel Ratschlag ob man den Juden alle ire bücher nemmen, abthun und verbrennen soll verfasst und als vernunftgeleitete Antwort auf eine absurde Frage gedacht, sollte eigentlich nicht veröffentlicht werden. Nachdem er vom Erzkanzler Uriel, Erzbischof von
Der Erzkanzler Uriel von Gemmingen wandte sich an Reuchlin, einen bekannten Juristen und, in seiner Freizeit, Sprachwissenschaftler, der als christlicher Hebraist durch De Rudimentis Hebraicis (Über die Grundlagen des Hebräischen) zu Ruhm gelangt war, eine 1506 veröffentlichte und an christliche Gelehrte gerichtete Abhandlung über die hebräische Grammatik. Vor Reuchlin hatte er bereits andere Experten angesprochen, darunter Mitglieder der theologischen Fakultäten verschiedener Universitäten in ganz Europa, doch niemand war des Hebräischen mächtig. Auf Grund seiner Lektüre der Bücher in ihrer Originalsprache, lehnte Reuchlin Pfefferkorns Aufruf zu ihrer Zerstörung entschieden ab.
Hieronymus Hopfer - Bildnis des Johannes Pfefferkorn. (© Public Domain)
Hieronymus Hopfer - Bildnis des Johannes Pfefferkorn. (© Public Domain)
Pfefferkorn, der von Reuchlins Standpunkt erfahren hatte, veröffentlichte verschiedene Pamphlete, darunter eines mit dem Titel Handspiegel, in denen er Reuchlins Integrität in Zweifel zog. Reuchlin reagierte mit der Publikation des Augenspiegel 1511, eine unangreifbare Zusammenfassung seiner Argumentation. Zwei Gründe sind es, aus denen aus einem ansonsten örtlich begrenzten ideologischen Schlagabtausch ein internationales Aufsehen erregender Streit wurde, der die Bildungselite Europas auf den Plan rief: zum einen
Reuchlin war der Ansicht, dass das Alte Testament, also die auf Hebräisch verfasste Heilige Schrift, und der
Aus rechtlicher Sicht ist bemerkenswert, dass im Augenspiegel die Juden zum ersten Mal als Bürger des Heiligen Römischen Reiches bezeichnet werden. Reuchlin bringt vor, als Bürger sollten die Juden "by kayßerlichen rechten behaltten werden", gemäß denen "ain ieglicher by synem alten herkommen, brauch und besesß behalten werden" soll.
Den Heiligen Hieronymus zitierend, der für seine als Vulgata bezeichnete lateinische Übersetzung der Bibel bekannt war ("Wie kann jemand etwas ablehnen, das er nicht begreift?"), tat Reuchlin kund: "Ob ainer woelt wider die mathematicos schreiben und were der mathesis oder mathematigk unerfarn, der würd der leüt spot".
Reuchlin beleuchtete grundlegende Vorstellungen von Wahrheit und Falschheit: "und in dißem stuck moechten die iueden bücher nach unser mainung falsch sein, aber nit nach irer mainung oder nach irem glauben". Im rechtlichen Sinne bedeutet "falsch", dass etwas oder jemand eine "falsche [d. h. betrügerische] Absicht hat", und, so schließt Reuchlin, genau die haben die angegriffenen Bücher nicht. Daher haben sie es nicht verdient, verbrannt zu werden.
Die Sprache dieses vor mehr als 500 Jahren verfassten Aufrufs Reuchlins zur Toleranz ist so gewandt und atmosphärisch, wie sein Urteil gerecht ist: "Daruß verstanden mag werden, das man ire bücher auch nit sol on iren willen nehmen, dan bücher sind manichen als lieb als kind und wie man von den poeten sagt, das sie ire bücher, so sie gemacht haben, für ire kind halten".
Seine Argumentation war erfolgreich: Die Bücher wurden den jüdischen Gemeinden zurückgegeben, von denen sie beschlagnahmt worden waren. Reuchlin selbst aber wurde von den Dominikanern von einem Prozess zum nächsten gejagt und der Augenspiegel schließlich von Papst Leo X. verboten.
Persönliche Geschichte
Ein Krieg der Worte: Die Veröffentlichungen Reuchlins und Pfefferkorns lösen eine öffentliche Debatte aus
von Frank Mecklenburg
Im Jahr 1509 stattete ein Mann namens Johannes Pfefferkorn dem Juristen Johannes Reuchlin in dessen Haus in Stuttgart einen Besuch ab. Der als Jude geborene Pfefferkorn war 1503 oder 1504 getauft worden und veröffentlichte danach verschiedene Pamphlete, in denen er seine ehemaligen Glaubensgenossen angriff. Im ersten, 1507 unter dem Titel Der Judenspiegel veröffentlichten Pamphlet forderte er neben anderen
Pfefferkorn zeigte Reuchlin dieses Mandat und bat ihn als Juristen, der außerdem umfangreiche Fachkenntnisse über die hebräische Sprache besaß, mit ihm nach Frankfurt zu reisen und beim Vollzug des Mandats zu unterstützen. Reuchlin weigerte sich mit der Begründung, er habe dazu keine Zeit, und wies auf einige Formfehler in dem kaiserlichen Erlass hin. Dessen ungeachtet begann Pfefferkorn jedoch mit der Unterstützung des Stadtrats, in Frankfurt und in weiteren, entlang des Rheins gelegenen Städten jüdische Bücher zu beschlagnahmen.
Wegen rechtlicher Einwände der Juden in Verbindung mit der Weigerung des Erzbischofs von Mainz Uriel von Gemmingen, den ihm unterstellten Geistlichen die Beteiligung an dieser Aktion zu gestatten, wurde der Angelegenheit ein Ende bereitet. Ein neues kaiserliches Mandat sorgte dafür, dass die beschlagnahmten Bücher an ihre Besitzer zurückgegeben wurden. Pfefferkorn sprach ein weiteres Mal bei Kaiser Maximilian I. vor; der legte die Angelegenheit in die Hände des Erzbischofs, der auch Erzkanzler des Kaiserreichs war. Uriel von Gemmingen forderte Pfefferkorn auf, über die Beschlagnahmung und Verbrennung der Bücher Gutachten von den Universitäten Mainz, Köln, Erfurt und Heidelberg wie auch vom päpstlichen Inquisitor Jakob van Hoogstraaten aus Köln, dem Priester und ehemaligen Rabbiner Victor von Carben und von Johannes Reuchlin einzuholen. Dieser verfasste daraufhin seine Schrift "Ratschlag ob man den Juden alle ire Buecher nehmen, abthun und verbrennen soll" mit Datum vom 6. Oktober 1510. Seine war die einzige Stellungnahme, die sich gegen die Beschlagnahmung aussprach.
Pfefferkorn war in dieser Sache zu einer Art Akquisiteur ernannt worden und holte in dieser Eigenschaft die Stellungnahmen Reuchlins und der anderen Fachleute ein, bevor sie dem Kaiser vorgelegt wurden. Die ihm kraft Amtes obliegende Vertraulichkeit missachtete er dabei, denn er veröffentlichte umgehend Reuchlins Stellungnahme in Auszügen und hielt in einem Traktat mit dem Titel Handspiegel argumentativ dagegen. Darin griff er Reuchlin persönlich an, indem er unter anderem behauptete, dass dieser seine Abhandlung über die hebräische Grammatik nicht selbst verfasst habe und außerdem von den Juden gekauft sei. Dieses Traktat wurde im April 1511 auf der Frankfurter Buchmesse verkauft.
Reuchlin entschied sich, diesem verleumderischen Angriff öffentlich entgegenzutreten, und ließ den Augenspiegel rechtzeitig zur Herbstmesse desselben Jahres drucken. Im ersten, in deutscher Sprache verfassten Teil wird die gesamte Angelegenheit wie oben beschrieben dargelegt und es werden die kaiserlichen Mandate ebenso wie sein Gutachten im Wortlaut wiedergegeben. Reuchlin fügte sodann eine Aufstellung mit 52 auf Lateinisch verfassten scholastischen "Argumenten" hinzu, die gegen seine Stellungnahme geltend gemacht werden könnten, und entkräftete diese möglichen Einwände. Auf die Liste mit Argumenten folgte eine weitere Liste, diesmal auf Deutsch, die 34 "Vom getauften Juden erfundene Unwahrheiten" enthielt.
Dieser Beitrag ist Teil des Externer Link: Shared History Projektes vom Externer Link: Leo Baeck Institut New York I Berlin.