100 Jahre türkische Völkermordleugnung
Über Täter, Opfer und Widerständler des Verbrechens an den Armeniern
Burak Çopur
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Burak Çopur setzt sich mit den Hauptfaktoren für den jungtürkischen Genozid an den Armeniern auseinander. Von der Türkei fordert er in seinem Essay: Sie muss ihren Gründungsmythos infrage stellen und ihr Nationen- und Minderheitenverständnis überdenken. Nur so könne sie ihre Geschichte aufarbeiten und den Völkermord irgendwann anerkennen.
Einleitung
2015 jährte sich der Völkermord an den Armeniern zum hundertsten Mal. Der Völkermord unter der Herrschaft der jungtürkischen Bewegung Komitee für Einheit und Fortschritt (İttihat ve Terakki Cemiyeti) im Osmanischen Reich während des 1. Weltkrieges ist durch international renommierte Wissenschaftler und Historiker ausgiebig erforscht und durch umfangreiches Material aus unterschiedlichen Quellen belegt. Damit trägt das jungtürkisches Triumvirat um den Innenminister Talat Paşa, Kriegsminister Enver Paşa und Marineminister Cemal Paşa als Führungsgruppe während des Völkermordes an den Armenier die Hauptverantwortung.
Das hundertste Gedenkjahr des Völkermordes an den Armeniern war auch in der Politik ein wichtiger Anlass, um international an das armenische Massaker zu erinnern. Nachdem Papst Franziskus im April 2015 die Vorfälle von 1915 als Völkermord bezeichnete, verabschiedeten auch das Europäische Parlament sowie der Nationalrat in Österreich eine Resolution, in der ebenfalls vom Völkermord an den Armeniern die Rede war. In Deutschland benutzte Bundespräsident Gauck in seiner Rede zum Gedenken an die armenischen Opfer den Begriff des Völkermordes; dem Beispiel folgte auch Bundestagspräsident Norbert Lammert. Nach einer kontroversen Diskussion zwischen Vertretern der deutschen Bundesregierung und Parlamentariern wurde im Bundestag am 24. April 2015 ein fraktionsübergreifender Antrag eingebracht, der das Schicksal der Armenier als beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen und der Völkermorde des 20. Jahrhunderts definierte.
Die Aufarbeitung der Armeniervernichtung ist in der Wissenschaft schon lange keine terra incognita mehr. Daher soll in diesem Text die Aufmerksamkeit auf die aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkei hinsichtlich der "Armenierfrage" gelegt, und damit zugleich Hinweise und Anregungen für ein kultursensibles Erinnern und für die Stärkung der türkisch-armenischen Erinnerungskultur in Deutschland geliefert werden.
Drei Hauptfaktoren für den Völkermord an den Armeniern
Die ideologische Ebene
Ein gewichtiger Faktor als Auslöser des Verbrechens an den Armeniern waren die Transformationsbestrebungen des Osmanischen Reiches von einem klassisch multireligiös-multiethnischen imperialen Reich hin zu einem zentralistisch-homogen orientierten Nationalstaat (Akçam 2004). Das Osmanische Reich basierte auf dem Millet-System, eine aus dem islamischen Recht abgeleitete Rechtsordnung, die auch den Status nichtmuslimischer Religionsgruppen regelte. Das osmanische Volk war in zwei Klassen untergliedert: Über allen Gruppen stand die herrschende muslimische Klasse (millet-i hakime), und dieser herrschenden Elite waren wiederum zum Beispiel die griechischen, armenischen und jüdischen Nichtmuslime als Millet untergeordnet (millet-i mahkûme). Die nichtmuslimischen Gemeinschaften unterhielten Schulen, Krankenhäuser und ihre geistlichen Repräsentanten konnten unter ihren Mitgliedern sogar Recht sprechen. Diese Freiheiten hatten jedoch einen hohen Preis, denn die Nichtmuslime mussten im Vergleich zu den Muslimen deutlich höhere Kopfsteuern (Dschizya) bezahlen. Die Erhebung dieser Kopfsteuer geht auf den Koran Sure 9, Vers 29 zurück; damit waren die Nichtmuslime als "Schutzbefohlene" (Dhimmi) der muslimischen Herrschaft unterworfen.
Diese Herrschaftsordnung geriet Ende des 18. Jahrhunderts in eine Krise. Mit dem Beginn der Französischen Revolution verbreiteten sich freiheitlich-bürgerliche Gedanken auch im Osmanischen Reich, zudem erhöhte sich durch die industrielle Revolution der technische Vorsprung des Westens gegenüber den Osmanen und destabilisierte sie im Zuge dessen ihre einstigen ökonomische und militärische Stärke. Überdies spitzte sich die Situation im Osmanischen Reich durch verschiedene Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftskrisen zu (u. a. die kriegsbedingten Landverluste des Osmanischen Reiches, den Staatsbankrott und den durch die nationalen Unabhängigkeitskriege auf dem Balkan ausgelösten Flüchtlingsdruck der Muslime nach Anatolien). Die osmanische Regierung versuchte den Zerfall des Reiches durch Reformen und Modernisierungsvorhaben aufzuhalten. Sie setzte - auch mithilfe des Drucks aus dem Ausland - die sogenannten Tanzimat-Reformen um, die 1839/1856 die Gleichstellung von Muslimen und Nichtmuslimen fördern sollte. Damit eröffnete sich z. B. auch für Nichtmuslime der Zugang zum Staatsdienst und der Benachteiligung von Nichtmuslimen bei der Besteuerung wurde ein Ende gesetzt.
Diese Reformphase begünstigte in Teilen des Reiches Nationalbewegungen unter den christlichen Religionsgemeinschaften; im Zuge der Tanzimat-Reformen kam es auch zu Unabhängigkeitsforderungen auf dem Balkan, bei denen einige Volksgruppen aus dem Reich austraten. Und die Reformen förderten den ökonomischen Aufstieg der Nichtmuslime im Westen des Osmanischen Reiches, was wiederum Abstiegsängste und Konkurrenzgefühle bei den Muslimen auslöste. Mit der Entstehung der Idee des Nationalstaats und der Gründung von Nationalstaaten auf ehemaligem osmanischem Staatsgebiet wurde nicht nur die ideologische Grundlage des Millet-Systems stetig ausgehöhlt, auch erschienen die ehemaligen nichtmuslimischen Untertanen, welche mit dem Nationalstaatsgedanken sympathisierten, zu potentiellen Gegnern des Reiches und später, so zumindest in der Wahrnehmung der Jungtürken, zu inneren Feinden der neuen türkischen Nation (Faroqhi 2003; Oran 2006).
Die Feindseligkeiten gegenüber den Armeniern wurden durch die Ideologie des Türkentums der Jungtürken genährt. Die Jungtürken gehörten anfangs zu jenen Reformbewegungen, die als Reaktion auf das diktatorische Verhalten des Sultans entstanden waren. Sie wollten jedoch den Zerfall des Reiches nicht mit einer Demokratisierung und Modernisierung aufhalten, sondern mit der Etablierung einer nationalen Identitätspolitik. Der Ideologie des Panislamismus des Sultans setzten die Jungtürken anfangs den Osmanismus und dann den türkischen Nationalismus entgegen. "In der Ideologie der Jungtürken", so schreibt Mihran Dabag, "war ein türkisches Volk somit nur als ,soziale Einheit‘ denkbar, als absolute ‚Harmonie‘ der Einzelelemente, und als Gesamtzusammenhang von Kultur und Fortschritt, Territorium und Rasse. So wurden die Armenier nicht zufällig im Rahmen der jungtürkischen Ideologie zunehmend zum grundsätzlich Nicht-Integrierbaren Anderen, zum ‚inneren Fremden‘ und ‚politischen Feind‘, zu einem Hindernis für die Verwirklichung ihrer Vision." (Dabag 2014). Auch mit der Gründung der türkischen Republik 1923 unter Atatürk hat man den Anspruch der Jungtürken nie aufgegeben, dass die "herrschende Klasse" – die sunnitisch-türkischen Muslime – durch die Zugehörigkeit zum Türkentum und zum Islam definiert wird. Die letzte Phase des Osmanischen Reichs ist der Türkischen Republik deshalb ideologisch viel näher, als man meint.
Die ökonomisch-psychologische Ebene
Aufgrund der genannten Einflüsse entwickelten sich Animositäten, Vorurteile und Feindseligkeiten der osmanischen Muslime gegenüber den Armeniern. Auch der Flüchtlingsdruck der Muslime vom Balkan nach Anatolien löste zwischen Kurden, Türken und Armeniern einen höheren Konkurrenzdruck um die knappen ökonomischen Ressourcen aus. Ein Großteil der Armenier war zwar einfache Bauer, aber unter ihnen gab es auch höchst erfolgreiche Handelsleute und Handwerker, die den Import und Export, sowie das Bankenwesen im Osmanischen Reich bestimmten, weil viele ausländische Firmen aus kulturellen gründen Armenier als Wirtschaftspartner präferierten (Gerlach 2003). Sie wurden wegen ihres Fleißes und ihrer ökonomischen Stärke oft als die "Juden des Orients" tituliert, wodurch antiarmenische Stereotype entstanden, die dem Zerrbild des "jüdischen Wucherers" ähnelten (Kieser 2014). Auch diffamierten die Jungtürken sie als "internen Tumor", der eine Gefahr für die nationale Sicherheit des Reiches darstelle (Akçam 2012, S. XV). Diese "gefühlte Gefahr" bildete den Nährboden für die Gewalttaten von 1915 (Sunny 2003).
Die internationale Ebene
Der Erste Weltkrieg mit der realen Bedrohung aus Russland und Großbritannien für die osmanische Regierung, die verlorenen Kriegsgefechte im Osten (Sarıkamış), die Rückschläge im Süden (Suez) und die Angriffe im Westen (Schlacht von Gallipolli) durch die Entente bei gleichzeitiger Existenz der Armenier als angeblich interne Bedrohung, führten bei den Jungtürken zu einer "kumulativen Radikalisierung" (Hans Mommsen) im Umgang mit der armenischen Bevölkerung (Bloxham 2005). Die Ermordung von über 1,5 Millionen Armeniern (heute leben nur noch offiziell rund 60.000 Armenier in der Türkei) war letzlich eine Bestrebung der Jungtürken, den vermeintlich inneren Feind als "fünfte Kolonne" zu beseitigen, um in der Kriegslage auch den Untergang des Osmanischen Reiches zu verhindern. D. h. der Völkermord an den Armeniern, der am 24. April 1915 durch ihre Deportation aus Istanbul eingeleitet und unter dem Deckmantel des Deportationsgesetzes vom 27. Mai 1915 fortgesetzt wurde, wurde zwar mit dem Beginn der Deportationen organisiert durchgeführt, aber davor war er nicht von langer Hand der jungtürkischen Herrschaft geplant, sondern der Weg dorthin entwickelte sich im Rahmen der oben beschriebenen Kriegssituation schritt- und schubweise (Sunny 2003, S. 98). Damit soll keineswegs die Schuld der Täter relativiert, stattdessen der internationale Kontext des Ersten Weltkrieges aufgezeigt werden, den die Jungtürken dafür nutzten, um die Gräueltaten von 1915 zu begehen.
Das Minderheiten- und Nationenverständnis der Türkei
Die Türkei beharrt auf ihrer Version der Geschehnisse von 1915, in der die Ereignisse als gegenseitige Ermordung (türk. mukatele) gesehen werden. Diese Sichtweise hat ihren Ursprung in der Definition des türkischen Minderheitenbegriffs und in dem Glauben an den türkischen Gründungsmythos. Die offizielle Geschichtsschreibung überbewertet die Stellung des Gründervaters der Türkei Mustafa Kemal Atatürk stark, denn nach ihr wurde die Staatsgründung ausschließlich durch einen anti-imperialistischen Kampf und die "Auferstehung der Türkei aus der Asche" im nationalen Widerstand gegen die europäischen Mächte ermöglicht. Die Diskussion über den Völkermord an den Armeniern stellt hingegen diesen Gründungsmythos der türkischen Republik deutlich in Frage. Denn durch sie sind es nicht nur die heroischen Schlachten des nationalen Befreiungskrieges unter Atatürk, die den Grundstein für die türkische Republik legten, sondern auch die Ermordung und Vertreibung der Armenier als Folge einer rassistischen Politik der Jungtürken, die diese Republik als homogenes Gebilde gründen wollten. Die Verdrängung und Leugnung des Völkermordes dient(e) somit dazu, den Untergang eines imperialen Reiches zu einer heldenhaften Neugründung eines Nationalstaates umzuinterpretieren. Dieser Gründungsmythos negiert bis heute auch die Existenz ethnisch-religiöser und kultureller Unterschiede innerhalb der türkischen Gesellschaft.
Nach offizieller türkischer Staatsdoktrin wird die Definition von Minderheiten und ihren Rechten mit dem Vertrag von Lausanne (1923) im Abschnitt III in den Artikeln 37-45 geregelt, die bis heute ihre Gültigkeit haben (Künnecke 2007). Demnach existieren in der Türkei nur drei Minderheiten, deren Anerkennung aus diesem Vertrag abgeleitet wird (wenngleich sie explizit im Vertragstext nicht so benannt werden): die griechisch-orthodoxe, die armenische und die jüdische Minderheit in der Türkei. Alle drei Gruppen zählt der türkische Staat zu den sogenannten Nichtmuslimen (gayrimüslimler). Ungeachtet dessen genießen selbst anerkannte christliche Minderheiten aufgrund der restriktiven Auslegung der Gesetze bis heute keine umfassende Freiheit (Oran 2007). Diese restriktive Minderheitenpolitik der Türkei hat unmittelbar mit dem türkischen Staatsverständnis von einer kulturell homogenen Nation und dem ethnisch-religiös definierten Staatsbürgerschaftskonzept einer türkisch-sunnitischen Identität zu tun, die über offizielle Selbstdarstellungen, Kollektivnarrationen und Erziehungsideologien "made deep inroads into almost all individual minds and political platforms through formal and informal patterns of learning and socialization at all levels of life" (Cizre 2014). Aufgrund dieses Selbstverständnisses des türkischen Staates verwundert es auch nicht, dass fast alle Parteien im türkischen Parlament – bis auf die prokurdische HDP – die Völkermord-Resolution des Europäischen Parlamentes vom 15. April 2015 durch eine Gegenerklärung verurteilt haben. Die Verteidigung einer vermeintlich tadellosen türkischen Geschichte steht einer Aufarbeitung der Armenierfrage diametral entgegen, da diese vielen Türken immer noch als eine Gefahr für die Einheit von Staat und Nation gilt (vgl. Söylemezoğlu 2005; Halaçoğlu 2006). Obwohl die Staatsbürgerrechte nie offiziell an das Türken- bzw. Sunnitentum gebunden wurden, ist die politisch-juristische Umsetzung der türkischen Verfassung und Gesetze genau so zu verstehen (Akgönül 2013). Die Türkei hat somit lange – und tut das z. T. immer noch – Minderheiten als eine Gefahr für die Einheit von Staat und Nation angesehen, weshalb der Begriff "Minderheit" im türkischen Sprachgebrauch (azınlık) negativ konnotiert ist und von vielen Menschen heute noch als "Spalter", "Verräter" und "Bürger zweiter Klasse" verstanden wird. Deshalb bleibt auch den Kurden das Erlernen ihrer Muttersprache im regulären Unterricht verwehrt und die Cem-Gebetshäuser der Aleviten werden offiziell nicht anerkannt. In einer aktuellen Schulbuchuntersuchung für die Grund- und weiterführenden Schulen der Türkei wird für zukünftige Schülergenerationen die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern weiterhin staatlicherseits betrieben. In diesen Schulbüchern werden die Armenier als eigentliche Täter der Ereignisse von 1915 beschrieben und die Armenierfrage kontinuierlich als eine Bedrohung für die nationale Sicherheit der Türkei dargestellt (Akçam 2014; Hermann 2015). Auf diese Weise legt die Türkei mit ihrem restriktiven Minderheitenrecht und ihrer minderheitenkritischen Politik selbst den gesellschaftlichen Nährboden für Vorurteile und fremdenfeindliche Anfeindungen gegenüber Minderheiten.
Die staatlich unterstützte Völkermordleugnung durch die Wissenschaft
Die offizielle Türkei will - wie gezeigt wurde - den Völkermord nicht anerkennen, da sonst der Gründermythos in Frage gestellt wäre. So entwickelte der türkische Staat professionelle Methoden, den Völkermord zu leugnen. Um diese Methoden auf eine "wissenschaftliche" Grundlage zu stellen, wurden z. B. Institutionen wie die Türkische Historische Gesellschaft (Türk Tari Kurumu, TTK) geschaffen. Die Maßgaben dieser Organisation gelten auch in türkischen Universitäten, Schulen und Medien als verbindlich. Der TTK stand 15 Jahre lang der Historiker Yusuf Halaçoğlu vor, der zu den bekanntesten Genozidleugnern der Türkei gehört. Darüber hinaus wird der Völkermord an den Armeniern auch von einer Minderheit von westlichen Wissenschaftlern und Historikern geleugnet, darunter u. a. Bernard Lewis, Guenter Lewy, Justin A. McCarthy, Stanford Shaw und Norman Stone. Einige von ihnen erhalten für ihre Forschungen auch regelmäßig finanzielle Zuwendungen durch die Türkei.
Im Gegensatz zu dieser staatlich geförderten historischen Auftragsforschung haben sich in der Türkei und an europäischen und US-amerikanischen Universitäten eine Reihe von Türkeistämmigen Historikern, Soziologen, Politikwissenschaftlern und Literaturwissenschaftlern zusammengefunden, die sich seit Jahren offensiv und kritisch mit der Armenierfrage beschäftigen. Darunter befinden sich renommierte internationale Wissenschaftler wie Taner Akçam, Cengiz Aktar, Fatma Müge Göçek, Ahmet Insel, Kader Konuk und Baskın Oran, gefolgt von einer jüngeren Forschergeneration von u. a. Burçin Gerçek, Ümit Kurt und Mehmet Polatel. Sie alle sind heute ein Teil der (transnationalen) türkischen Zivilgesellschaft, die sich für die Aufarbeitung des Massakers an den Armeniern einsetzt.
Die türkische Zivilgesellschaft als Motor der Aufarbeitung
Liberale Strömungen der Zivilgesellschaft und intellektuelle Zirkel haben längst begonnen, sich dem Aufarbeitungsprozess anzunehmen. Sie rütteln an den geschichtlichen Tabus des Landes und fordern das nationalistische Narrativ der Türkei heraus. Insbesondere prominente türkische Schriftsteller, Journalisten und Wissenschaftler widmen sich der Auseinandersetzung mit der Armenierfrage (Çopur 2015). Beispielsweise brach der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk 2005 in der Schweizer Zeitung Tages-Anzeiger öffentlich ein türkisches Tabu, indem er erklärte, dass in der Türkei eine Million Armenier umgebracht wurden und löste damit in seinem Heimatland prompt einen Sturm der nationalistischen Entrüstung aus. Die türkische Schriftstellerin Elif Şafak wurde ebenfalls angeklagt und dann freigesprochen. Sie hatte in ihrem Roman Der Bastard von Istanbul den Völkermord an den Armeniern thematisiert.
2005 organisierten kritische türkische Wissenschaftler in Istanbul erstmalig eine Armenier-Konferenz zur Aufarbeitung der Geschehnisse von 1915. Obwohl die Tagung ursprünglich an der Boğaziçi-Universität stattfinden sollte, wurde sie aufgrund einer Klage an die Bilgi-Universität verlegt und konnte nur unter heftigem Protest und eierwerfenden Demonstranten abgehalten werden. Die Ermordung des armenisch-türkischen Journalisten und Bürgerrechtlers Hrant Dink am 19. Januar 2007 war ebenso eine wichtige Zäsur in der Armenierfrage. Der Trauerzug von Dink mit rund 100.000 TeilnehmerInnen wurde mit dem Slogan "Wir sind alle Hrant, wir sind alle Armenier" regelrecht zu einem Sinnbild für das Mitgefühl und die Identifikation großer Teile der türkischen Zivilgesellschaft mit den Armeniern. Von hoher Bedeutung für die historische Aufarbeitung war auch die 2008 von türkischen Intellektuellen initiierte Unterschriftenkampagne "Özür diliyorum" ("Ich entschuldige mich") zur Entschuldigung für das Gewaltverbrechen an den osmanischen Armeniern 1915, die bisher von über 30.000 Personen unterzeichnet wurde.
Angespornt von diesen Gesten organisierten kritische NGOs am 24. April 2010 in Istanbul auf dem Taksim-Platz erstmals eine öffentliche Gedenkveranstaltung in Erinnerung an die armenischen Opfer in der Türkei. Diese Gedenkveranstaltungen finden mit kreativen Ideen mittlerweile jährlich in verschiedenen Städten der Türkei statt.
Obwohl die türkischen Verfechter eines Versöhnungsprozesses viel Hass, Erniedrigung und Gewalt über sich haben ergehen lassen müssen, bewirkten sie doch eine Veränderung in der Sprache der offiziellen türkischen Staatsideologie: nämlich von einer aggressiven Leugnung des Völkermordes bzw. einer Verdrehung von Opfer- und Täterschaft hin zur Anerkennung des Leides und der Empathie gegenüber den Opfern. In diesem Sinne ist auch die offizielle Kondolenzerklärung von Recep Tayyip Erdoğan vom April 2014 im Hinblick auf die Ereignisse von 1915 zu verstehen, die ein kleiner wichtiger Etappensieg der Zivilgesellschaft in der Armenierfrage ist. Denn der Geist ist damit bereits aus der Flasche und die türkische Zivilgesellschaft wird das Leugnungsparadigma der Türkei hinsichtlich des Völkermordes an den Armeniern weiter herausfordern (Aktar 2014). Aus diesem Grund ist die türkische Zivilgesellschaft mit ihrem Engagement der wesentliche Träger des historischen Aufarbeitungsprozesses und wird es auch zukünftig bleiben. Gerade deshalb sollte die Zivilgesellschaft in der Türkei in ihrer Erinnerungsarbeit nicht alleine gelassen, sondern – im Sinne einer türkisch-armenischen Versöhnung – auch durch transnationale Zusammenarbeit gefördert werden.
Die Bedeutung der "türkischen Oskar Schindlers" für die Erinnerungsarbeit
Wie es im Holocaust nicht nur Täter gab, so ist auch in der türkischen Geschichtsschreibung ein differenzierter Blick angebracht. Um die Armenier zu retten, haben rund 200 Personen, darunter viele Entscheidungsträger und Beamte des Osmanischen Reichs, den Befehlen des jungtürkischen Komitees Widerstand geleistet und damit ihr eigenes Leben riskiert (Gerçek 2015). Namentlich seien hier genannt: die Gouverneure aus Konya Celal Bey sowie aus Ankara Mazhar Bey, der wegen seines Widerstandes gegen die Deportation der Armenier seinen Posten verlor; der Provinzstatthalter aus Kütahya Fâik Âli Bey (Ozansoy), der eine armenische Schule für die deportierten Kinder gründete und das von armenischen Gemeinden ihm als Dank gespendete Geld für den Kauf von Lebensmitteln für die verelendeten Armenier nutzte. Erwähnenswert sind auch die Gouverneure aus Kastamonu Reşat Bey und aus Erzurum Tahsin Bey, sowie der Provinzstatthalter von Yozgat Cemal Bey, die sich alle weigerten, die Vernichtungspolitik der Jungtürken umzusetzen. Für ihre Solidarität mit den Armeniern mussten sie mit ihrem Leben zahlen, ebenso die Landräte von Lice Hüseyin Nesîmi Bey und aus Beşiri Sabit Bey, sowie der Gouverneur von Basra Ferit Bey und der Bürgermeister von Malatya Mustafa Ağa Azizoğlu (Hür 2013). Aber auch aus dem Volk heraus kam Unterstützung: insbesondere die Aleviten aus Dersim, Aramäer aus Mardin, die Mevlevis aus Konya und die Yeziden aus Sincarlı reichten den Armeniern ihre Hand und nahmen sie in ihre Obhut. Die Bedeutung dieser "türkischen Oskar Schindlers" sollte man nicht überbewerten; dennoch sollte man sie in der Aufarbeitung des armenischen Völkermordes herausstreichen und im Dienste einer türkisch-armenischen Erinnerungsarbeit sichtbar machen. Gerade diese positiven Beispiele können im Schul- und Bildungssystem pädagogisch als Türöffner eingesetzt werden, um die Aufmerksamkeit und Empathie auch bei den meisten Türkeistämmigen in Deutschland zu fördern bzw. ihre Blockadehaltung aufzulockern.
Damit die Türkei ihre eigene Geschichte aufarbeitet und den Völkermord irgendwann anerkennt, müsste sie zunächst ihr Nationen- und Minderheitenverständnis überdenken und ihren eigenen Gründungsmythos infrage stellen. Nur auf Grundlage der ethnisch-kulturellen Vielfalt der Türkei kann es gelingen, eine zeitgemäße Identität aufzubauen. Diese neue türkische Identität würde dann nicht mehr Minderheiten als Gefahr und Bedrohung ansehen, sondern vielmehr als Chance und Bereicherung.
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Die armenische Literatur ist kein Forum geworden für die Reflexion der traumatischen Verletzungen und Verluste. Die Literatur war vielmehr immer ein Forum der kritischen Auseinandersetzung mit Fragen…
Nicht weniger als "das unfaßbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen zu entreißen" wollte Franz Werfel mit seinem Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" erreichen.…
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Dr. Burak Çopur ist Politikwissenschaftler, Türkei-Experte und Migrationsforscher an der Universität Duisburg-Essen.
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