In der armenischen Geschichte steht das Buch als wichtiges Symbol sowohl für Tradition und Hochkultur, als auch für soziale Verantwortung. So gehört die Erzählung fest in die Erinnerungskultur, dass das erste armenische Buch im Jahr 1512 in Venedig gedruckt, die erste armenische Zeitung 1794 in Madras (Indien) publiziert und die erste moderne "Geschichte der Armenier" im Jahr 1784 verfasst worden war.
Siamanto (1878-1915) (© Public Domain)
Siamanto (1878-1915) (© Public Domain)
Doch auch für die Überlebenden des Völkermords sind Buch und Literatur zu einem Symbol geworden. Allerdings symbolisiert die Literatur nach dem Ersten Weltkrieg vor allem eines: den immensen kulturellen Bruch, den der Völkermord verursacht hat.
Fragt man nach der Literatur als Ort der Erinnerung, ist damit unausgesprochen die Erwartung verbunden, die literarische Erzählung werde stellvertretend für die Schicksale derjenigen stehen, die ermordet wurden, wie für die Erinnerungen von Menschen, die nicht erzählten oder nicht erzählen konnten. Eine der wesentlichen Aufgaben, die der literarischen Auseinandersetzung zuerkannt werden kann, besteht in der Herausforderung, den Verlust zu identifizieren, sowie Schmerz und Trauer in Worte zu überführen. Literatur kann ein Leben festhalten, das spurlos gelöscht worden ist. Diesen Herausforderungen konnte die westarmenische Literatur nach dem Genozid jedoch aus unterschiedlichen Gründen kaum begegnen.
Die armenische Literatur in der Diaspora
Die Literatur
Dass die armenische Literatur jedoch bis heute kein Forum geworden ist für die Reflexion der traumatischen Verletzungen und Verluste, hat vor allem mit der sozialen und politischen Unsicherheit zu tun, in denen die Gemeinden lebten, das heißt mit der Notwendigkeit, die Verletzungen, über die man hätte schreiben wollen, zunächst erst einmal beweisen zu müssen. Die Literatur der 1920er und 1930er Jahre, der beiden Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg sowie der mit den 1970er Jahren ihre literarische Arbeit aufnehmenden Enkelinnen und Enkel der Überlebenden war vielmehr immer ein Forum der kritischen Auseinandersetzung mit Fragen der Diaspora: Thematisiert wurden Aspekte des Identitäts- und Sprachverlusts oder der verlorenen Gültigkeit von Überlieferungen und Religion. Die literarischen Antworten blieben gezeichnet von den übergreifenden Fragen der jeweiligen Generationen: von Problemen der Integration, Schwierigkeiten in der Definition eigener Heimat, des Verlusts von Sprache oder Problemen der Entwurzelung. Doch gerade weil der Widerspruch nicht zu lösen war, Leere und Verlust nachzuspüren, ohne den Genozid zu thematisieren, hat die Literatur keine Narrative einer Verarbeitung der Erfahrungen der Überlebenden selbst zur Verfügung stellen können. Eine Öffnung gegenüber den Traumata der Überlebenden, den Entmenschlichungen und Entbehrungen und dem Würdeverlust, der sowohl die Zeit der Deportationen selbst, als auch die 1920er Jahre prägte, zeigt sich nur zwischen den Zeilen.
Die armenische Literatur als "Exilanten-Literatur"
Sozialhistorisch sind zum Verständnis dieser Entwicklung vor allem zwei Aspekte zu beachten: Die Überlebenden, die sich lange Zeit als "Exilanten" verstanden, blieben sowohl im Nahen Osten (Syrien, Libanon, Iran, Irak, Jordanien, Palästina/Israel) als auch in Europa nicht verschont von neuen Kriegs- und Gewalterfahrungen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelang eine Integration in die Kultur- und Bildungsinstitutionen der jeweiligen Gastländer – diese wurde nicht zuletzt markiert von einem Sprachwechsel, da die Literatur nun in französischer, italienischer, türkischer oder arabischer Sprache erschien. Durch die gewaltvolle Auflösung der westarmenischen Gemeinschaft in der osmanischen Türkei war für die armenische Sprache das Risiko entstanden, zu einer reinen "Haussprache" zu werden – als Kultur- und Wissenschaftssprache war sie nur noch einem kleinen Kreis von Rezipienten geläufig. Unterstützende Kultur- oder Wissenschaftsinstitutionen fehlten über mehrere Jahrzehnte. Armenischsprachige literarische Werke und Literaturzeitschriften wurden zumeist in armenischen Verlagen publiziert, die allerdings überhaupt erst in der Situation und unter den Bedingungen von Exil und Diaspora geschaffen werden mussten. Ebenso musste ein System des Vertriebs erst etabliert werden. Der Umstand, dass die Literatur in armenischer Sprache geschrieben war und Verlag und Vertrieb von den Gemeinden oder von engagierten Einzelpersonen in den Gemeinden organisiert wurde, limitierte die Verbreitung der Werke vorwiegend auf die armenische Gemeinschaft selbst – in Folge dessen sind diese in den 1920er und 30er Jahren erschienen Werke heute kaum über öffentliche Bibliotheken zugänglich.
Abgerissene Überlieferungen
Neben der politischen Instabilität der Gemeinden in den ersten Jahrzehnten nach dem Völkermord und dem Bedeutungsverlust der westarmenischen Sprache muss noch ein dritter Aspekt berücksichtigt werden: die Radikalität der Zerstörung der armenischen Kultur und Geschichte. Diese Zerstörung und spurlose Vernichtung von Geschichts- und Lebensumgebung, von Häusern, Schulen, Geschäften, Kirchen, Klosteranlagen und mittelalterlichen Festungen war beispiellos. In Folge der Radikalität der Gewaltpolitik war die Literatur der Armenier nicht nur eine Migrationsliteratur in dem Sinne, dass Autoren und Sprache in eine soziale Fremde gezwungen waren; die Fremde betraf vielmehr auch die Themen ihrer literarischen Narrationen, die nun aus sowohl generationalen als auch materiellen Überlieferungszusammenhängen gerissen waren. Zudem hatte die literarisch erinnerte Vergangenheit keine Realität mehr im Sinne einer Sichtbarkeit: Die Geschichte der Armenier war zu reiner Imagination geworden. Damit stand die literarische Erinnerung in der Gefahr, vor allem als Stimme eines "ethnischen Identitätsinteresses" gelesen zu werden, die sich politisch orientiert primär gegen die Türkei richte. Diesen Zwiespalt haben die Schriftsteller sehr wohl erkannt, doch gelöst werden konnte er nicht.
Dabei spiegelt sich die Fragmentierung des sozialen, kulturellen und generationalen Rahmens vor allem in den Unsicherheiten hinsichtlich der literarischen Themen, der ästhetischen Form oder der Charakterisierung von Figuren. Doch war es bis vor dem Zweiten Weltkrieg kaum möglich, der Erfahrung der Überlebenden selbst einen Raum zu geben. Zwar fragten die Schriftsteller nach der Bedeutung und auch nach den Ursachen der Gewalt: So gehört zu diesen frühen Werken das zweibändige Werk "Armenisches Golgatha" (Hay Goghgota) von Grigoris Balakian;
Die Erinnerungsberichte der 1920er Jahre
Zabel Essayan (1878-1943) (© Public Domain)
Zabel Essayan (1878-1943) (© Public Domain)
Erinnerungsberichte von Überlebenden, wie sie in den 1920er Jahren als kurze Darstellungen in armenischen Zeitungen veröffentlicht wurden, fanden bei den Schriftstellern nur wenig Aufmerksamkeit. Eine Ausnahme stellte hier die Schriftstellerin Zabel Essayan (1878-1943) dar, deren Werk seit einigen Jahren wieder breiter bekannt geworden ist.
Arshaguhi Teotig (1875-1922) (© Wikimedia)
Arshaguhi Teotig (1875-1922) (© Wikimedia)
Eine eigenständige Linie einer "Memoirenliteratur" entstand aus den veröffentlichten Lebens- und Erfahrungsberichten der 1920er Jahre nicht. Die Berichte lassen sich dadurch charakterisieren, dass die "Schicksale eines verfolgten Volkes" erzählt und Erinnerungen an Heimatorte gesammelt wurden. Selten öffnen sich die publizierten Erinnerungen einzelnen, individuellen Schicksalen. Dies trifft auch auf eine Mehrheit bis heute nicht publizierter Niederschriften zu, die in Archiven armenischer Forschungsinstitute bewahrt sind. Die Erinnerungserzählungen zeigen, dass in der Zwischenkriegszeit intensiv an der Frage nach der Bedeutung des Verlusts eines sozialen und kulturellen Zusammenhangs gearbeitet wurde, wie an Möglichkeiten, Zukunft zu leben. Wenn die eigenen Erfahrungen dabei durchaus als Zeugnis eines historischen Geschehens erkannt werden, gelten die persönlichen Verletzungen doch nicht als Bestätigung dieses Zeugnisses, sondern gerade als Hemmnis, als zu privat oder subjektiv. Ein Bewusstsein für die Schwere der persönlichen Verletzungen wie die Radikalität des sozialen und kulturellen Bruchs war noch nicht vorhanden, mehr noch, sie wurde verweigert.
Die Unmöglichkeit der Weitergabe
Nach diesen ersten Reflexionen zur sozialen und politischen Bedeutung von Völkermord und Exil wurden ab Mitte der 1920er Jahre die Gewalt- und Vertreibungserfahrungen kaum noch explizit thematisiert. Und doch waren die Werke, die von den Überlebenden der "Katastrophe" (Aghet), "Verbannung" (Aksor) oder des "Großen Verbrechens" (Meds Yeghern oder Meds Vodjir) verfasst wurden, nahezu ausschließlich von der Erfahrung des Verlusts von Familie, Kindheit und Sprache bestimmt.
2. Die großen Zentren westarmenischer Literatur in der Diaspora
Der Blick auf die Entwicklung der westarmenischen Literatur nach dem Ersten Weltkrieg zeigt drei Zentren: Zum einen Frankreich, dann den Nahen und Mittleren Osten und schließlich Nordamerika. Diese drei Zentren leisteten jeweils in unterschiedlichen Phasen einen Beitrag zur Arbeit am Gedächtnis des Genozids. Dabei ist es bemerkenswert, dass sich die Schriftsteller in Frankreich, Libanon (sprich: in Beirut), Syrien (vor allem in Aleppo und Damaskus), Iran (Teheran, Nor Jugha) oder Ägypten (Kairo) stets auch als Angehörige einer "jungen Generation" empfanden, deren Aufgabe es sei, die armenischsprachige Literatur weiterzuentwickeln – wobei es kaum gelang, die "Vorfahren" und "Väter", von denen man sich abzusetzen suchte, zu benennen. Es sind eben diese sozialen und sprachlichen Leerstellen, die so in der Literatur sichtbar werden.
a) Armenische Literatur in Frankreich
Außergewöhnlich und überaus bedeutsam war zunächst die Literaturszene in Frankreich.
Chahan Chahnour (1903 - 1974) (© Public Domain)
Chahan Chahnour (1903 - 1974) (© Public Domain)
Konturen gewann die in armenischer Sprache arbeitende Literaturszene in Paris zum einen durch eine Gruppe, die sich um die von dem Schriftsteller und Publizisten Schawarsch Missakian (1884-1957) im Jahr 1925 gegründete Tageszeitung Haratch ("Vorwärts")
Ein besonders ambitioniertes Projekt war auch die Zeitschrift Andastan (Revue Arménienne. Arts et literature; 1952-1972), die neben armenischsprachigen Texten auch Übersetzungen literarischer Arbeiten in die französische Sprache förderte und publizierte, aber auch Berichte und literarische Werke nicht-armenischer Autoren umfasste.
Insgesamt ist festzustellen, dass die armenischsprachige Literatur in Frankreich trotz ihres Umfangs und der anspruchsvollen, ja avancierten ästhetisch-literarischen Gestalt zahlreicher in Frankreich entstanden Werke stets nur eine Randstellung hatte – eine Situation, die sich heute weiter zugespitzt hat. Eine Ausnahme stellt vielleicht der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Krikor Beledian (*1945) dar, der sich mit seinen Gedichtbänden, Essays und Romanen in eine französische Literaturtradition eingeschrieben hat, sich zugleich jedoch um die Zugänglichkeit und Bewahrung der armenischsprachigen Literatur bemüht.
b) Armenische Literatur im Nahen Osten
Der Verlust von Tradition, die Irritation und Unsicherheit in Bezug auf die Bestimmung eines eigenen kulturellen Ausdrucks und eine Erschöpfung angesichts der Radikalität des kulturellen Bruchs, sind auch die Hauptthemen der armenischen Literatur, die im Nahen Osten entstand.
Der Schriftsteller Hagop Oshagan (1883-1948), der nicht allein mit seinem mehrbändigen "Panorama der Westarmenischen Literatur" (Hamabadger Arevmedahay Kraganutyan) ein beeindruckendes Werk hinterlassen hat, wird dabei stets herausgehoben. Oshagan, der schon in der armenischen Literaturszene im Osmanischen Reich vor dem Ersten Weltkrieg eine wichtige Rolle gespielt hatte und den Deportationen nur knapp entkommen war, stellte intensive theoretische und poetologische Überlegungen an, inwiefern der Erfahrung des Völkermords überhaupt mit dem Mitteln der Literatur und insbesondere des Romans zu begegnen sei. Mit Blick auf die Möglichkeiten eines Romans über den Völkermord stellte er fest, dass die Katastrophe sich dem Bemühen des Künstlers entziehe, sie ganz zu erfassen, da sie unendlich, aber seltsam einförmig sei – das Geheimnis des Romans jedoch in Mannigfaltigkeit und Entwicklung gründe.
Auch die armenischsprachige Literatur in Beirut, Kairo oder Aleppo entwickelte sich nicht allein über Einzelpublikationen, sondern über engagierte Periodika: So erschien in Beirut 1961 das literarische Magazin Shirag, 1962 das einflussreiche Pakin ("Altar"), 1965 das literarische Monatsmagazin Ahegan ("April"), gefolgt von Yeridasart Haouhi ("Junge Armenierin"), welches später im politischen Magazin Yeridasart Hay ("Junge Armenier") aufging. Die Zeitschriften führten Werke der einflussreichsten Literaten der westarmenischen Gemeinschaft zusammen.
Eine besondere Stellung nimmt die kleine armenische Literaturszene ein, die nach dem Genozid wieder in Istanbul entstanden ist. Vor dem Hintergrund der türkischen Geschichtspolitik, aber auch den spezifischen Repressionen gegenüber den "Minderheiten" in der Republik Türkei, war eine Annäherung an die armenische Geschichte und Erfahrung für die Schriftsteller der armenischen Literaturzirkel in Istanbul kaum möglich. So thematisieren diese bis heute die armenische Lebensrealität nur in Andeutungen. Beispielhaft steht hier das Werk Hagop Mndzuris (Demirdjian) (1886-1978), der zu den bekannteren Schriftstellern der armenischen Literaturszene in Istanbul gehört und sich in seinen Werken vorsichtig den verlorenen Landschaften seiner Kindheit und Jugend in der Region Dersim in Ostanatolien zu nähern sucht.
c) Literatur der armenischen Diaspora in den USA
Ein selbstbewussteres Arbeiten an armenischen Erfahrungen ist erst in jüngerer Zeit mit dem Literaturschaffen der Schriftsteller in den USA zu erkennen. Für diese Entwicklung stehen vor allem die US-amerikanischen Schriftsteller Michael Arlen (*1930), David Kherdian (*1931), Peter Najarian (*1940), Peter Balakian (*1951), Nancy Kricorian (*1960), Chris Bohjalian (*1962) oder Micheline Aharonian Marcom (*1968). Mit diesen Literaten begann eine Auseinandersetzung, die sich nicht nur mehr der Bedeutung des Verlusts widmet, sondern auch den Erfahrungen der armenischen Diaspora einen Raum gab – doch blieben auch diese Werke nie frei von Erläuterungszwängen und einem Rechtfertigungsdruck.
Auffallend ist, dass das Literaturschaffen armenischer Schriftsteller in den USA eine unvergleichbar breitere Aufmerksamkeit fand als die im Nahen Osten oder auch in Frankreich entstandenen Werke. Dies ist sicherlich auch – aber nicht allein – auf die Wahl der englischen Sprache zurückzuführen. Auch in den USA waren früh Zeitschriften entstanden, in denen armenischsprachige Arbeiten gedruckt wurden. Doch hatte das Literaturschaffen in den USA mit dem in Fresno (Kalifornien) geborenen William Saroyan (1908-1981) eine Vorreiterfigur, die beispielhaft zeigte, dass Erinnerung bewahrt werden kann, indem man sie weiterdenkt. Aber auch Saroyan hatte sich nur vorsichtig an Gewalt, Trauer und Verlust angenähert und der Zerstörung westarmenischer Kultur eher über eine schwebende, irritierte Emotionalität Ausdruck verliehen.
d) Die Situation in Deutschland
Varujan Vosganian (*1958) (© AFP)
Varujan Vosganian (*1958) (© AFP)
In Deutschland hat sich keine mit Frankreich oder den USA vergleichbare Literaturszene der armenischen Diaspora entwickelt. Armenische Literatur ist hier durch Übersetzungen zugänglich geworden, insbesondere aus der armenisch-amerikanischen Diaspora.
David Kherdian (* 1931) (© Public Domain)
David Kherdian (* 1931) (© Public Domain)
Doch ist in deutscher Sprache bereits 1981 eines der ersten Bücher erschienen, das sich literarisch dem Schicksal der Überlebenden widmete: David Kherdians eindrucksvoller, ursprünglich in amerikanischer Sprache erschienener Roman "Der Schatten des Halbmonds"
Zusammenschau
Obwohl die Beschäftigung mit der Frage nach der Bedeutung von Migration und Kulturverlust deutlich im Zentrum des armenischen Literaturschaffens steht, kann man die Aufarbeitung der Nachfolgen des Genozids nicht als Konstante westarmenischen Kulturschaffens bezeichnen: zu fragmentiert, zu unsicher zeigen sich die einzelnen Werke und ihre Autorinnen und Autoren. Denn obwohl die Literatur in der armenischen Gemeinschaft als repräsentative und "armenische" Stimme anerkannt ist, und obwohl auch die Schriftsteller in ihrem Schaffen eine Arbeit an einem kulturellen und historischen Gedächtnis einer Gemeinschaft sehen, scheint die Literatur erst heute, mit Schriftstellern der "dritten Generation", wieder Bedeutung für armenische Selbstbestimmungen zu gewinnen.
Das nahezu unlösbare Problem eines Narrativs der armenischen Katastrophe besteht darin, dass es in einer Erzählung keine Zonen des Schweigens geben darf. Jede literarische, filmische oder künstlerische Auseinandersetzung ist gefordert, die Geschichte des Völkermords explizit zu machen: in sämtlichen Facetten, in der umfassenden Länge und mit allen Phasen, mit einem Blick auf die Ursachen und Täter, mit einer Erläuterung der Gründe und Begründungen. Dies macht nachvollziehbar, warum gerade in den ersten Jahrzehnten nach dem Genozid nicht die einzelnen Stimmen der Überlebenden der Deportationen und Massaker in den Vordergrund getreten waren. Der Bericht des Überlebenden war als zu begrenzt angesehen worden, um die Erfordernisse eines Beweises zu erfüllen. Generell wird in dem Affekt, der die Erzählung über ein Gewalterleben begleiten mag, eine Beeinträchtigung der Glaubhaftigkeit befürchtet. Eine armenischsprachige Literatur kann dabei vor allem die Figur des armenischen Opfers und des Überlebenden nicht "konstruktiv" bearbeiten, weil sie die Fragmentarität und Verletzlichkeit seiner Person und seiner Erzählung bewahren muss (denn sie ist der sichtbarste Beweis der Tatsächlichkeit des Geschehens). Doch muss diese Fragmentarität trotzdem einer Aussage zugeführt werden, um die Person des Überlebenden vor der Leugnung zu schützen. So bestand für die armenischsprachige Literatur eine kaum lösbare Ambivalenz darin, das Verlorene beschreiben zu können – doch wo es doch keine gültigen Narrative eines überlieferten Gedächtnisses mehr gab, war auch der radikale kulturelle Bruch kaum noch zu erzählen. Das lange "Schweigen" der westarmenischen Literatur gegenüber der Gewalt und der Radikalität von Zerstörung und Leere war vor diesem Hintergrund nicht allein ein "Nicht-Reden-Können" aufgrund der schwierigen gesellschaftlichen Verhältnisse; es war immer auch ein "Nicht-Reden-Können" angesichts der Schwierigkeiten, über das Verlorene "hinwegschreiben" zu müssen, um die Leere zu beschreiben, ohne damit den Zerstörungen ihre Gewalt und Radikalität zu nehmen. Und die Gewalt zu beschreiben, ohne den Opfern noch einmal ihren Namen und ihre Identität zu nehmen.
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