Franz Werfel Die vierzig Tage des Musa Dagh
"Gespenster… Doch nicht von Menschen… Gespenster von Affen… Sie sterben nur langsam, weil sie Gras fressen und hie und da einen Bissen Brot bekommen… Das Allerschlimmste aber, sie haben keine Kraft mehr, die Zehntausende von Leichen zu begraben… Deïr es Zor, das ist ein ungeheurer Abort des Todes..."
Geschichte entsteht, so der jüdische Historiker Yerushalmi, im Schmelztiegel des Romanciers, noch bevor sie auf dem Amboss der Historiker geschmiedet wird.
Opfer und Helden zugleich
Werfels Epos entwickelt die Ereignisse dann in einer Art Doppelbelichtung: die Armenier werden einerseits als Opfer eines kollektiven, systematisch organisierten Genozids gezeichnet; andererseits gelingt es dem Autor durch die Wahl des Blickwinkels auf die Ereignisse am Mosesberg, Armenier auch als politische Akteure und Herrn ihres eigenen Schicksals aufzubauen. Das bis zu 1400 Metern hohe Bergmassiv des "Musa Dagh", südlich der heutigen Stadt Iskenderun direkt am Mittelmeer, wurde zum Schauplatz einer Geschichte, die gerade im Kontext der großen Ohnmacht der Armenier zur Zeit der umfassenden Tötungen höchst ungewöhnlich blieb: Die authentische Geschichte von sechs armenischen Dörfern, deren 5000 Bewohner auf den Musa Dagh flohen und gegen die herannahenden Truppen der Jungtürken Widerstand leisteten. Eine Ausnahmeerscheinung blieb diese Geschichte auch darum, weil sie mit einem Happy End schließt – die Widerständler konnten sich an Bord eines französischen Schiffes retten. In den 1940er Jahren bauten einige dieser Überlebenden auf der Spitze des Mosesberges im Gedenken an ihre (Selbst-)Rettung eine Art Arche – ein Mahnmal, das die 1980 in der Türkei putschenden Generäle aber gleich wieder abreißen ließen. Es ist dieses heldische Narrativ des fast aussichtslosen Widerstands einer versprengten Schar von Kämpfern gegen eine (staatliche) Übermacht, das der Autor Franz Werfel zum heißen Kern seines voluminösen, mehr als 1000-Seitigen Romans gemacht hat.
Gabriel Bagradian, der Held des Romans, hatte zwanzig Jahre völlig assimiliert in Frankreich gelebt, ehe er durch seine Rückkehr ins Land seiner Herkunft, nach Anatolien, ungefragt und unwillkürlich in die Rolle eines Helden hineinwächst. Bagradian wird nachgerade zu einem Anführer seines Volkes, zu einer Mosesgleichen Gestalt: Wie Moses kommt Bagradian aus der Fremde, wie im Bericht des Alten Testaments dauert sein Aufenthalt auf dem Berg vierzig Tage, und auch Bagradian stirbt am Ende mit dem Blick auf eine verheißungsvolle Zukunft, die er selbst nicht mehr erleben wird.
Reiseimpressionen
Bereits in den Jahren 1929/1930 war das Ehepaar Franz Werfel und Alma Mahler in die Levante gereist, sie besuchten Ägypten, dann Palästina, von Jerusalem fuhren sie nach Syrien und in den Libanon. Eine Reise wie diese war damals durchaus abenteuerlich, ein schwerbewaffneter Fremdenführer begleite sie. Im zerfallenen Damaskus – die Bilder mögen den heutigen Stadtbildern von Damaskus geähnelt haben – zeigte der Fremdenführer ihnen eine Teppichweberei, unter deren Webstühlen ausgemergelte Jugendliche kauerten, derer sich Alma Mahler-Werfel in ihren Tagebuchaufzeichnungen lebhaft erinnert: "Wir gingen die Webstühle entlang, und überall fielen uns ausgehungerte Kinder auf, mit bleichen El Greco-Gesichtern und übergroßen dunklen Augen. Sie rollten auf dem Boden herum, hoben Spulen und Fäden auf, fegten wohl auch manchmal den Boden mit dem Besen rein.”
Historische Authentizität
Nach seiner Rückkehr nach Paris ließ Werfel sich außerdem eigens Aktenbestände aus dem französischen Kriegsministerium kommen, um sich bzgl. des Schicksals der Armenier auch der historischen Fakten zu versichern. Immer wieder ist der Text, den er 1932 unter Aufbietung all seiner schöpferischen aber auch physischen Kräfte niederzuschreiben beginnt, von dokumentarischen Sequenzen unterbrochen, die fast wörtlich aus Gerichtsprotokollen, Konsular- und Augenzeugenberichten bestehen. Zur Authentizität tragen auch Aufzeichnungen des Theologen Johannes Lepisus bei, die Werfel im armenischen Kloster der Mechitaristen in Wien entdeckte und seinem Romankorpus einverleibt hat. Besonders deutlich wird dies im fünften Kapitel, dem ‘Zwischenspiel der Götter’ des Ersten Buches, in einer Unterredung zwischen Lepsius und dem türkischen Kriegsherrn Enver Pascha im Innenministerium in Istanbul:
Franz WerfelDie vierzig Tage des Musa Dagh
"Die Tatsachen werden und können Sie nicht leugnen. Hunderttausende Menschen sind bereits auf dem Wege der Verschickung. Die Behörden sprechen nicht nur von Umsiedlung. Ich behaupte aber, daß dies, gelinde gesagt, ein Wortmißbrauch ist. Kann man ein Volk von Bergbauern, von Handwerkern, Städtern, Kulturmenschen mit einem Federstrich in der mesopotamischen Wüste und Steppe ansiedeln, in einer ozeanweiten Einöde, die sogar von Beduinenstämmen geflohen wird? Und selbst dieses Ziel ist doch nur eine Finte. Denn die Ortsbehörden richten die Deportation so ein, daß die Elenden schon während der ersten acht Tagesmärsche durch Hunger, Durst, Krankheit umkommen oder wahnsinnig werden, daß man die widerstandsfähigen Knaben und Männer durch Kurden oder Banditen, wenn nicht gar durch Militär, umbringen läßt, daß die jüngeren Mädchen und Frauen der Schändung und Verschleppung geradezu aufgedrängt werden...ʼ Der General hört mit höflichster Aufmerksamkeit zu, dabei aber gibt seine angespannte Miene zu erkennen: dieses schale Lied höre er zwölfmal täglich. Die Manschette, die er mit seiner weißen Frauenhand aus dem Ärmel hervorholt, scheint ihm wichtiger zu sein."
Beim Schreiben ermahnte sich Werfel immer wieder selbst, den Türken nicht bloß böse, den Armeniern nicht nur gute Attribute zuzuschreiben. "Irgendwo muß Enver Pascha im Recht sein”, notierte er an den Rand seines Manuskripts.
Doppelbelichtung
Kurz vor den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 erhielt Werfel, wie auch alle anderen Mitglieder der Preußischen Akademie für Dichtkunst, die Aufforderung, sich angesichts der "veränderten geschichtlichen Lage" den neuen nationalsozialistischen Machthabern gegenüber ausdrücklich loyal zu erklären. Während Alfred Döblin, Thomas Mann und Jakob Wassermann diese Unterwerfungsgeste ablehnten, rang sich Werfel dazu durch, die Erklärung zu unterzeichnen, um die Veröffentlichung seines Romans nicht zu gefährden. Geholfen hat ihm das wenig: kaum veröffentlicht, wurde er 1934 bereits aufgrund von § 7 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz des Deutschen Volkes wegen "Gefährdung öffentlicher Sicherheit und Ordnung" verboten.
Werfels Roman "Die Vierzig Tage des Musa Dagh", gerade einmal 17 Jahre nach den Geschehnissen des Völkermords an den Armeniern erschienen, nahm sich mit den Mitteln des Zeitromans eines Ereignisses an, das in der Weltöffentlichkeit seinerzeit noch fast vollständig verdrängt oder marginalisiert wurde. Damit nimmt der Roman die von den Nationalsozialisten betriebene Vernichtung des deutschen und europäischen Judentums in frappanter Hellsichtigkeit vorweg. Das ist der Grund dafür, dass dieses Buch über die Unbeugsamkeit einer Gruppe aus "Gerechten" gegen eine feindliche Übermacht wie kein anderes Werk von Juden gelesen wurde, die der Naziverfolgung ausgesetzt waren. Selbst im Ghetto von Warschau zirkulierte es heimlich im Untergrund, bis die zerlesenen Exemplare seinen verschworenen Lesern buchstäblich unter den Händen zerfielen.
Werfels Romanwerk "Die 40 Tage des Musa Dagh" galt jahrzehntelang als das wichtigste Werk zum Völkermord an den Armeniern überhaupt. Der Roman hatte international großen Erfolg. Stefan Zweig, Berater des amerikanischen Verlags Viking Press, empfahl, das Werk, so konnte "The Forty Days of Musa Dagh" bereits im Herbst 1934 in den Vereinigten Staaten erscheinen – wochenlang führte es die amerikanischen Bestsellerlisten an.
Gedenktafel an Franz Werfel am Mahnmal des Völkermords in Eriwan. (© Public Domain)
Gedenktafel an Franz Werfel am Mahnmal des Völkermords in Eriwan. (© Public Domain)
Als Werfel im November 1935 nach New York reiste, bereiteten ihm dort lebende Exil-Armenier einen stürmischen Empfang.
Das Märchen vom letzten Gedanken
Edgar HilsenrathDas Märchen vom letzten Gedanken
"Alle haben die Todeskolonnen gesehen. Und trotzdem wollen sie nichts begreifen. – Sie glauben nicht, dass ihr imstande seid, ein ganzes Volk auszurotten. Sie wissen nicht, dass es nur der Vorgeschmack ist von dem, was sie wirklich erwartet. – Du sprichst von der endgültigen Lösung? – Davon spreche ich."
Für deutsche Leser scheint auch eindeutig, von welchem Volk in diesem Zitat die Rede ist, denn welches andere Volk wäre jemals Ziel eines totalen Auslöschungs-Wahns geworden, als die jüdische? Und doch handelt auch Edgar Hilsenraths großes Epos "Das Märchen vom letzten Gedanken" (1989) vom Massenmord an den Armeniern – anders als seine anderen berühmten Werke "Nacht" (1964) oder "Der Nazi und der Friseur" (1977). Hilsenrath, 1926 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Leipzig geboren, floh 1938 vor der NS-Verfolgung mit seiner Mutter und dem Bruder zu den Großeltern in die Bukowina. In seinem "Märchen" widmet er sich dem Schicksal der Armenier um 1915, als die nationalistische Bewegung der Jungtürken versuchte, das ehemalige osmanische Vielvölkerreich um jeden Preis in einen ethnisch homogenen türkischen Nationalstaat mit pantürkischer Ideologie umzuschmelzen. Edgar Hilsenrath hat selbst erklärt, welches das zentrale Anliegen seines Romanwerks sei:
QuellentextEdgar Hilsenrath
"Es ist sehr viel geschrieben worden über die Verbrechen der Deutschen während des Nazireiches. Es ist aber gar nicht geschrieben worden über die Verbrechen der Türken während des ersten Weltkriegs. Während des ersten Weltkriegs haben sie ein ganzes Volk ausgerottet, und zwar die Armenier. Das ist ziemlich unbekannt. Die Türkei leugnet bis heute und sagt, es wäre nie geschehen. Das ist der totgeschwiegene Völkermord."
Fußnoten
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http://www.wdr5.de/sendungen/neugiergenuegt/feature/hilsenrath-voelkermord-armenien-roman100.html