Die Rechtsanwältin, Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin Fethiye Çetin war eine gute Freundin von Hrant Dink. Mit ihrem Text erinnert sie nicht nur an den großen Aktivisten, der Opfer eines feigen Mordes wurde. Sie zeigt auch, womit all jene, die seinen Tod wohlwollend hinnahmen, nicht gerechnet hatten: Mit einer Öffentlichkeit, die ein "Jetzt reicht es!" formulierte. Und die begann, die offizielle Erzählung der Geschichte des Genozids und die Diskriminierungspolitik des Staates in Frage zu stellen.
Ich hatte mich gerade mit einer größeren Gruppe von Freunden zum Abendessen getroffen, in Paris, wo die Vorstellung meines Buches "Meine Großmutter" stattfinden sollte. Mein Telefon klingelte. Ich sah im Display den Namen Diran Bakar, ein mir sehr nahestehender Anwaltskollege, und ich meldete mich gleich in Erwartung einer netten kleinen Unterhaltung. Doch noch ehe ich irgendetwas sagen konnte, fragte er: "Weißt du, was passiert ist? Sie haben Hrant erschossen!" In jeder Silbe, die er sagte, klang eine unbeschreibliche Trauer mit. Ich erinnere mich, wie das Lächeln in meinem Gesicht gefror, und ich einen Ton von mir gab, jenen seltsam röchelnden Ton, der aus dem Herzen kommt und der in allen Sprachen der Welt dasselbe bedeutet.
Wenn aber die Person, die Ihnen entrissen wurde, Ihr guter Freund, ja Ihr Bruder ist, den Sie als Anwältin vertreten, muss es bei Ihnen bei diesem Röcheln und dem erstorbenen Lächeln bleiben. Denn Ihre Pflicht gibt Ihnen weder die Zeit noch das Recht, zu weinen. Auf der Stelle sind sie von den Medien gefragt, als die Anwältin von Hrant Dink Stellung zu beziehen. Sie können nicht sagen: "Man hat meinen Freund getötet, und ich bin nicht in der Lage, zu reden." Sondern Sie müssen auf die hinweisen, die mit dem Mord im Zusammenhang stehen, die eine Mitverantwortung haben, weil sie Hrant zur Zielscheibe machten.
Ich kehrte in aller Eile von Paris zurück und begab mich gleich in die Redaktion der Zeitung Agos. Einige der befreundeten Redakteure begannen wieder zu weinen, als sie mich sahen, und ich hatte den Impuls, sie zu umarmen. Aber ich musste mich beherrschen, denn ich war die Anwältin der Zeitung und in diesem Augenblick im Dienst. Am nächsten Tag fuhr ich zum Polizeipräsidium, um den Mörder zu identifizieren, der meinen lieben Hrant mit einem Genickschuss ermordet hatte. Der verspiegelte Raum zur Gegenüberstellung befand sich im Keller. Der Beamte, der mich nach unten brachte, öffnete die Tür zu dem Raum, in dem schon die Staatsanwälte und ein Protokollführer saßen. Er sagte: "Die Anwältin des Ermordeten ist da." Doch plötzlich taumelte ich. Die Tür stand offen, ich wurde hereingebeten, doch ich konnte nicht hinein gehen und musste eine Weile auf der Schwelle stehen.
Eigentlich war mir nach Weglaufen zumute, durch die Straßen rennen und meinen Kummer herausschreien. Doch das verbot ich mir, betrat den Raum und ließ mir von den Staatsanwälten, die den Fall behandelten, Auskunft geben. Ich hatte wachsam zu sein, um nötigenfalls einzugreifen.
Einen Tag vor meiner Abreise nach Paris hatte mich Hrant angerufen, um mir mitzuteilen, dass die armenische Ausgabe meines Buches sehr gut ankäme, und er schlug mir vor, die Reise nach Armenien zur Buchvorstellung mit ihm gemeinsam zu machen. Ich war begeistert: "Sobald ich zurück bin!", erwiderte ich. Doch als ich zurück war, musste ich mich in den Keller der Polizei begeben, statt nach Armenien. Kurz gesagt: ich konnte um Hrant nicht trauern. Vor lauter Anstrengung, die Hintergründe des Mordes ans Tageslicht zu bringen.
Das Kennenlernen
Dass ich ihn kennenlernen durfte und zum Freund gewonnen hatte, habe ich meiner Großmutter zu verdanken. Von den bitteren und beschämenden Seiten unserer Geschichte hatte ich durch die Erzählungen meiner Großmutter erfahren. Bis dahin wusste ich nicht, dass der Staat auf dem Territorium, auf dem ich lebte, im Jahre 1915 eine Gruppe seiner Bevölkerung mit brutalen, schrecklichen Mitteln vernichtet, ja darüber hinaus eine Politik der Verleugnung betrieben, die Spuren verwischt und die Täter belohnt hatte.
Meine Großmutter, aufgewachsen mit Namen Heranuş als Tochter der Familie Gadaryan, war eins von hunderttausenden Kindern, die von einer muslimischen Familie adoptiert und islamisiert wurden, die mit ihrem neuen Namen auch einen neuen Glauben, eine neue Sprache und eine neue Familie bekamen. Die Kinderaugen meiner Großmutter waren Zeugen schrecklicher, bestialischer Taten, sie hatte ihre Lieben verloren und ihrer Zunge jahrzehntelang versagt, das Erlebte zur Sprache zu bringen. Vergessen aber hatte sie nichts.
Was meine Großmutter erzählte, eröffnete mir nicht nur die Wahrheit über 1915, sondern öffnete mir auch die Augen dafür, welcher Diskriminierung und Repression, welchem Unrecht und Hass die immer kleiner werdende christliche Bevölkerung, insbesondere die Armenier, seither ausgesetzt war. Als hätte meine Großmutter einen Vorhang vor meinen Augen zerrissen und mein Denken von seinen Fesseln befreit, erkannte ich endlich, was ich bisher nicht zu hinterfragen oder zu interpretieren imstande gewesen war. Dieses neue Bewusstsein brachte mich später dazu, mich mit Minderheitsrechten zu beschäftigen. Meine Arbeit am Verein für Menschenrechte und am Zentrum für Menschenrechte an der Istanbuler Rechtsanwaltskammer machte Kontakte mit den Vertretern der Minderheiten und ihrer Presse erforderlich. So habe ich Hrant Dink kennengelernt.
Hört auf mit diesen Lügengeschichten!
Den Namen Hrant Dink kannte ich von der Zeitung Agos her, die ich gleich seit ihrer Gründung wie eine Süchtige las. Seine Artikel gefielen mir, ja sie beeindruckten mich. Ich habe ihn oft auch bei Veranstaltungen getroffen und mit ihm ein paar Worte gewechselt. Aber meine Begeisterung für seinen Mut und seine Geradlinigkeit entstand erst nach seiner Teilnahme an der Talkshow Das politische Forum, die Ali Kırca moderierte.
Es war eine Zeit, als diese Sendung – ein Schauplatz kontroverser Diskussionen – oft bis in die frühen Morgenstunden dauerte und Millionen von Zuschauern an ihre Fernseher fesselte. Nun ging es eines Nachts um die Minderheiten in der Türkei und ihre Probleme.
Es wurde eine lange Sendung, zu der griechische, armenische und jüdische Gäste sowie einige Akademiker geladen waren, und ganz zum Schluss kam Hrant an die Reihe. Alle Teilnehmer vor ihm hatten scheu und flüchtig gewisse Probleme erwähnt, doch die meisten Minderheitsangehörigen hatten behauptet, zufrieden zu sein, ja sogar glücklich. Hrant begann seine Rede damit, in welcher Weise die Stiftungen der Minderheiten daran gehindert werden, Immobilien zu erwerben, und, wie man ihre noch verbliebenen Güter mit rechtswidrigen Begründungen enteignete, ja, wie das höchste Gericht des Landes die Minderheiten des Landes als "Ausländer" definierte. Dann ging er zur Geschichte des armenischen Waisenhauses in Tuzla über, "Kamp Armen", und erzählte, wie diese durch den Fleiß armenischer Waisen entstandene Anstalt durch Gerichtsbeschlüsse beraubt wurde. So wurden ihnen nicht nur ihr Hab und Gut genommen, sondern ihr Leben und ihre Träume. Ja, Hrant Dink gehörte auch zu denen, die ihres Lebens und ihrer Träume beraubt wurden. Seine Rede ging unter die Haut, echt, aufrichtig, schlicht und überzeugend wie sie war.
Dann wandte er sich plötzlich zu den anderen Teilnehmern und sagte: "Hört doch auf mit diesen Lügengeschichten. Von wegen ‚Es geht uns sehr gut’ und ‚Probleme haben wir nicht’. So ist es eben nicht. Morgens stehen wir auf, und es mag uns gut gehen, und dann, aber dann ...?! Dann häufen sich Probleme auf Probleme. Es geht uns eben nicht gut!" Es ist lange her, und ich kann mich an den genauen Wortlaut seiner Rede nicht mehr erinnern. Aber es ist mir unvergesslich, wie er vom "Palavern" sprach. Er sagte einfach so, unversehens: "Hört auf mit diesem Geschwätz!"
Ich war irritiert, richtete mich in meinem Sitz auf und war gespannt zu sehen, ob jemand jetzt empört reagieren würde. Aber niemand warf etwas ein. Alle hörten ihm wie verzaubert zu. Denn Hrant Dink sprach auch jetzt, wie immer, einfach die Wahrheit des Augenblicks aus. Später sollte ich ihn unzählige Male das Gedachte gerade heraus sagen hören, und erleben, dass er damit erstaunlicherweise bei niemandem ins Fettnäpfchen trat.
Hrant erzählte dann die Geschichte von Ferman, der nie einen Baum in seinen Garten pflanzen wollte. Ferman war ein Armenier aus Siirt in der Osttürkei und er besaß ein Sommerhaus mit Garten in Marmara Ereğlisi. Doch in diesem Garten stand kein einziger Baum. Er pflanzte hier Tomaten, Mais, Sonnenblumen, aber keinen Baum. Dazu pflegte er zu sagen: "Würde ich etwa je dazu kommen, die Früchte meines Baumes zu essen? Wann jemals konnten wir Armenier unsere Früchte ernten von dem Boden, auf den wir unsere Bäume gepflanzt haben?"
Ich sprang aus meinem Sessel auf und sagte: Das ist es! Das ist die ganze Wahrheit, in einer kleinen Anekdote transportiert! Diese winzige Erzählung enthielt eine ganze Geschichte voller Todesangst. Hrant war ohnehin der beste Geschichtenerzähler, den ich gekannt habe. Nie habe ich erlebt, dass jemand ihm zugehört hätte, ohne in seinen Bann gezogen zu werden.
Bis Hrant kam, versuchten die Minderheiten meines Landes ihr Dasein zu fristen, ohne die Aufmerksamkeit des Staates auf sich zu lenken. Sie bemühten sich, in der Mehrheit zu verschwinden, ja sie wechselten dafür sogar ihre Namen. Zum ersten Mal brachte nun ein Armenier die aktuellen Probleme seiner Gemeinschaft zur Sprache, und er setzte damit auch eine Vergangenheit auf die Tagesordnung, deren Erinnern dem Staat eine Heidenangst machte. Die Ungleichheit in der Gesellschaft sah er ganzheitlich an. Die Erfahrung der Gewalt und der Diskriminierung auch gegenüber Frauen und Homosexuellen verstand er aufeinander zu beziehen. Alle, die Hrant Dink zuhörten, glaubten ihm. Und das machte ihn in den Augen der Herrschenden gefährlich.
1996 begannen Hrant und eine Gruppe seiner Freunde die türkisch-armenische Wochenzeitung Agos herauszugeben mit dem Ziel, die Probleme der in der Türkei lebenden armenischen Community der Öffentlichkeit bekannt zu machen und Aufmerksamkeit dafür zu suchen.
Wir erfuhren, dass Armenier daran gehindert wurden, Immobilien zu kaufen. Ja, wir erfuhren, dass ihnen die vorhandenen Besitztümer eines nach dem anderen aus der Hand gerissen wurde. Während meiner Tätigkeit am Zentrum für Menschenrechte der Istanbuler Anwaltskammer beschlossen wir, uns mit dieser Angelegenheit vor ihrem juristischen Hintergrund zu befassen. Natürlich war Hrant Dink der erste, bei dem ich anklopfte.
Ich bewunderte einmal mehr, wie gut er das Thema beherrschte und wie elegant er diese äußerst komplexe juristische Problematik alltagssprachlich darstellen konnte. Er war glücklich, dass man sich dieser Sache annahm. Ich vergesse nie, wie er mir – als ich mich, mit der Mappe unter dem Arm, verabschieden wollte – in seiner Freude heftig auf den Rücken klopfte.
2001 erfuhren wir durch Zeitungsmeldungen, dass der Nationale Sicherheitsrat (MGK) die Gründung eines "Koordinationsrates zur Bekämpfung der haltlosen Behauptungen eines Völkermordes" beschloss, der von Devlet Bahçeli, dem Vorsitzenden der Nationalen Aktionspartei (MHP) geführt werden sollte, der damals auch der Vize-Premier einer Koalitionsregierung war. Der Nationale Sicherheitsrat als die machtvollste Institution an der Spitze der Staatsstruktur wollte sich also nicht mehr mit einer diskriminierenden, ausschließenden Politik gegenüber den Minderheiten begnügen, jetzt bereitete er eine neue und umfassende Gegenoffensive vor.
Später wurde unter dem Dach des Amtes für Hochschulwesen (YÖK) ein "Nationalkommitee zu Türkisch-Armenischen Beziehungen" gebildet und von staatlicher Hand zahlreiche Vereine gegründet, die alle die "Bekämpfung der haltlosen Behauptungen der Armenier" zum Ziel hatten. Man ging zu einem Generalangriff über, an dem viele Medien nebst einiger einflussreicher Kolumnisten begeistert partizipierten. Die ohnehin rassistischen, diskriminierenden und hasserfüllten Inhalt der Lehrpläne wurden im Schuljahr 2002 durch neue Abschnitte ergänzt, die die Armenier, Griechen, Chaldäer und Assyrer direkt angriffen und sie zur Zielscheibe machten. Die Lehrer mussten an Pflichtseminaren teilnehmen, die sie darin unterwiesen, wie diese neuen Inhalte in den Unterricht einzubeziehen sind. Die Lehrer, die Fragen stellten, wurden des Dienstes enthoben und disziplinarisch verfolgt.
Wir waren der Meinung, dass man dagegen etwas unternehmen müsse. So kamen wir zusammen, Mitglieder des Ausschusses gegen Rassismus und Diskriminierung am Istanbuler Verein für Menschenrechte auf der einen und die in der Lehrergewerkschaft Eğitim-Sen organisierten Geschichtslehrer auf der anderen Seite, und wir beschlossen, die Lehrbücher kritisch zu untersuchen und eine öffentliche Diskussion darüber anzustoßen.
Auch bei dieser Arbeit habe ich zu allererst Hrant Dinks Kooperation gesucht. Ich erzählte ihm über unsere Gruppe und Ziele, über die beabsichtigte Arbeit an den Lehrbüchern. Er griff gleich zum Telefon und ließ sich die Schulbücher der Grund- und weiterführenden Schulen bringen. Wenig später stapelte sich vor mir ein Berg von Büchern – mehr als ich tragen konnte. So war Hrant. Es genügte, dass er das Problem sah, mit dem man sich beschäftigte. Und dann machte er alles möglich, leer aus ging man nie.
Hrant wurde auf meinem Weg, der mit dem Tod meiner Großmutter im Jahre 2000 begann, zu meinem Weggefährten, meinem Vertrauten, der die Trauer und meine Träume mit mir teilte. Es ist so, als hätte uns eine unsichtbare Hand auf diesem Weg zusammengeführt.
Ich wollte die Todesanzeige meiner Großmutter in der Agos erscheinen lassen, und fasste für Hrant ihre Geschichte kurz zusammen. Nach dem Erscheinen der Anzeige berichtete er mir, viele Leser hätten die Zeitung angerufen. Die alten Leute hätten am Telefon geweint, sagte er, ohne seine eigenen Tränen und das Zittern in der Stimme zu verbergen.
Eines Abends rief er mich aufgeregt an: "Komm sofort in die Zeitung, ich will dir deine Verwandten vorstellen." Die Schwester und die Nichte meiner Großmutter, die in den USA lebten, hatten mit der Zeitung Kontakt aufgenommen. Sie wollten mich sprechen.
Als ich endlich bei der Agos ankam, war es schon spät geworden. Ich klingelte mit schlechtem Gewissen. Doch Hrant empfing mich mit offenen Armen und ein großes Strahlen ging über sein hübsches Gesicht. Er fasste mich an den Schultern, und wir gingen in sein Zimmer.
Mit zitternder Hand zeigte er mir das Fax aus den Staaten. "Jetzt will ich dafür sorgen, dass du mit deinen Verwandten sprichst" und er ließ uns verbinden. Als die Leitung stand, wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte jahrelang nach den Geschwistern meiner Großmutter gesucht und fand sie leider erst nach deren Tod. Am anderen Ende der Leitung hörte ich gerade ihre Nichte, meine Kusine also. Wie sehr hatte ich mir doch dieses Treffen gewünscht, und jetzt fand ich keine Worte.
Hrant rettete mich aus der Verlegenheit, und führte an meiner Statt eine lange Unterhaltung mit ihr. Dann holte er aus dem Schrank eine Flasche Branntwein hervor, den er aus Armenien mitgebracht bekommen hatte, und wir stießen auf weitere "Zusammenkünfte" an.
In diesem Zimmer wurde ich zum ersten Mal Zeuge davon, wie intensiv er seinen Kampf persönlich erlebte. "Sie werden noch sehen, was alles ans Tageslicht kommt, was noch alles publik gemacht werden wird. Wir werden hier noch über 1915 diskutieren, und zwar nicht nur über die Gestorbenen, sondern mit den Lebenden. Das wird weitergehen, und die da werden es sich gefallen lassen müssen." Dann stand er auf: "Es wird in diesem Land eine Entwicklung geben, von denen die da nicht einmal zu träumen wagen!" Hrant hat es leider nicht mehr selbst erlebt, aber das, was er vorhersah, wurde nach seinem Tod zur Wirklichkeit.
"Nun wurde ich zur Zielscheibe gemacht"
In der Agos vom 6. Februar 2004 erschien ein Artikel darüber, dass Sabiha Gökçen, Adoptivtochter Atatürks, ein armenisches Mädchen aus dem Waisenhaus gewesen war. Als diese Meldung einige Tage später in der weit verbreiteten Tageszeitung Hürriyet erschien, gab die Armeeführung eine scharfe Erklärung über den Sachverhalt ab, mit der sie gleichzeitig die Bürger und die Institutionen der Türkei in ihre Schranken weisen wollte.
Am nächsten Tag wurde Hrant Dink ins Gouverneursamt Istanbul zitiert. Über dieses Gespräch, das im Zimmer des Vize-Gouverneurs unter Beteiligung zweier Beamten des Nachrichtendienstes stattfand, schrieb Hrant später, es sei der Beginn einer Strafaktion gewesen: "Nun wurde ich zur Zielscheibe gemacht."
Bald nach diesem Treffen begannen nationalistische, paramilitaristische Gruppierungen mit Protestkundgebungen vor dem Agos-Verlag. Levent Temiz, Vorsitzender der Istanbuler Zweigstelle des "Verbandes der Idealisten" ("Graue Wölfe") gab öffentlich bekannt: "Hrant Dink ist von jetzt an das Ziel unserer ganzen Wut und unserer Abscheu." Gleich danach wurde ein Satz von Hrant Dink, der in seiner Artikelreihe "Über die armenische Identität" erschienen war, zum Anlass genommen, eine Kampagne gegen ihn zu starten. So zeigten ihn viele Personen und Institutionen mit einem unisono formulierten Antrag bei den Staatsanwaltschaften an.
Die systematischen Angriffe, die den Eindruck erweckten, aus einem einzigen Zentrum gelenkt zu werden, setzten sich in bestimmten Internetportalen und Zeitungen fort, wobei Hrant Dink fortwährend namentlich, persönlich angeschwärzt wurde. Als dann unter der Zustimmung des Justizministeriums ein Verfahren gegen ihn eröffnet wurde, das ihm den Vorwurf der "Beleidigung des Türkentums" nach dem Paragraphen 159 des Strafgesetzbuches machte, bat mich Hrant, ihn zu vertreten. Ich nahm ohne Zögern an.
Das Verfahren endete mit einer Verurteilung Hrant Dinks, obwohl keine Beweise gegen ihn vorlagen, und obgleich das Gutachten der Sachverständigen für ihn sprach. Wir legten beim Kassationsgerichtshof Widerspruch ein. Dessen Oberstaatsanwaltschaft plädierte für die Annullierung des Urteils aufgrund des Gutachtens. Die 9. Strafkammer des Kassationsgerichts bestätigte das Urteil jedoch einstimmig. Die Oberstaatsanwaltschaft legte dagegen erneut Widerspruch ein, doch der zuständige Strafrechtliche Generalrat des Kassationsgerichtes lehnte den Widerspruch mit Stimmenmehrheit ab. Während dieser Entwicklung setzten die erklärten Feinde Hrant Dinks ihre Angriffe fort und beschimpften ihn nunmehr – sich das Urteil des Obergerichts zunutze machend – als "gerichtlich überführten Türkenfeind". Das Urteil dieses Gerichts bildete das letzte Glied einer Kette, Hrant Dink zur Zielscheibe und zum Hassobjekt zu machen. Es segnete gewissermaßen von der Seite des "Rechtstaats" das Todesurteil ab, das die Medien bereits zuvor gefällt hatten.
Auf diesen Prozess folgten andere, in denen eine Stimmung erzeugt wurde, die einer "Lynchjustiz" glich. Durch mein Insistieren wurden Sicherheitsvorkehrungen getroffen, sodass Hrant Dink einem Angriff entkam: Er und meine Anwaltskollegen, die zur Unterstützung in den Verhandlungen erschienen, konnten das Justizgebäude nur in gepanzerten Polizeifahrzeugen verlassen. Obwohl die ihm vorgeworfenen Taten und Reden in keinem Gesetz als Straftatbestand definiert wurden, dienten sie denjenigen als willkommene Munition, die den Boden zu Hrants Ermordung vorbereitet haben. Mit traurigem Erfolg:
Hrant Dink wurde am 19. Januar 2007 vor dem Gebäude seiner Zeitung durch einen Genickschuss ermordet. In seinen letzten zwei Kolumnen hatte er die Entwicklung in seiner Sache bis zu diesem Tag als eine Operation bezeichnet, die vom "Staat im Staate" durchgeführt wurde, und vor allem auch deshalb auf ihn abzielte, weil er Armenier war. All das, was hinter der Entwicklung lag, ihn zur Zielscheibe zu machen, hinter den Anfeindungen und der Medienhetze, den Gerichtsverhandlungen und Lynchversuchen, auch, was hinter der Verweigerung tausender Bürokraten stand, trotz ihrer Kenntnis der Mordpläne Hrants Leben nicht zu schützen, und was letztlich hinter der Stilisierung des Attentäters zum Helden lag – all das ist das Gespenst von 1915.
Das steht auch hinter der Wahrnehmung und der Reaktion einer Öffentlichkeit, die diesen Mord mit "1.500.000 + 1" auf eine Formel brachte. Am 19. Januar 2015 wurde Hrant Dinks mit einer Massenveranstaltung gedacht, in der der Slogan zu hören war: "Sieh Hrant ins Gesicht – sieh dem Völkermord ins Gesicht." Zehntausende erkannten den Mord an Hrant Dink als die aktuelle Fortsetzung des armenischen Völkermords an.
Die Republik: Bruch oder Kontinuität?
Die Republik, die nach 1915 als ein "neuer" Staat gegründet wurde und den Anspruch erhob, sich vom alten abzukehren, wurde im Grunde genommen auf der Basis des Völkermords aufgebaut. Mit anderen Worten: Diese Republik stützte ihre Existenz auf eine Nichtexistenz, und zwar derer, die sie ausgelöscht hatte. Darum wurde alles, was an diesen Völkermord erinnerte, wurde jeder, der daran erinnerte, als eine Bedrohung des Staates wahrgenommen. Deswegen konnte die Meldung, Atatürks Adoptivtochter Sabiha Gökçen sei ein armenisches Waisenkind gewesen, dessen Eltern 1915 ermordet worden seien, als eine existenzielle Bedrohung des Staates wahrgenommen werden. Hrant Dink erinnerte die Verleugner des Völkermords nicht nur an die Tatsache der Vernichtung selbst, vor deren Entblößung allein sie schon eine Heidenangst hatten; sondern er machte Atatürk, also eins der wichtigsten Symbole ihres Daseins, hinterfragbar. So ging es seinen Gegnern um ihre pure Existenz.
Womit seine Mörder jedoch nicht gerechnet hatten, war die Reaktion der Öffentlichkeit. Sie hatten mit diesem Mord bezweckt, die Gesellschaft einzuschüchtern, die freie Rede über die Vergangenheit und deren Hinterfragung rückgängig zu machen, was wieder herrschen sollte, war die Angst. Aber das misslang, dieser Mord wurde zum Wendepunkt, ein "Jetzt reicht es!", von dem an es möglich war, die offizielle Erzählung der Geschichte und die Diskriminierungspolitik des Staates in Frage zu stellen.
Der Mord an Hrant Dink löste bei fast jedem Mitglied der türkischen Gesellschaft Gewissensbisse aus; und die Animosität gegenüber den Armeniern stürzte in sich zusammen, man begann fast so etwas wie Neugier über die Ereignisse von 1915 zu spüren. Verstärkt stellte man nun die Frage, was mit den Armeniern geschehen war, und schenkte der Antwort der offiziellen Geschichtsschreiber keinen Glauben mehr. Hunderte von Büchern erschienen, Dokumentarfilme wurden gedreht, und der Mordfall an Dink, den man gern zu den Akten gelegt hätte, konnte darum niemals abgeschlossen werden. Der Mord an Hrant Dink ist ein Schlüsselereignis. Sobald dieser Fall geklärt und alle Verantwortlichen überführt sein werden, wird auch eine beachtliche Schwelle zur Verarbeitung von 1915 überwunden sein.
Der Mord führte nicht nur dazu, dass die Kommunikation zwischen den Armeniern in der Diaspora und der Türkei sich intensivierte, sondern auch das Gespräch zwischen Armeniern und Türken. Heute gibt es immer mehr Kooperationsprojekte zwischen beiden Gruppen, insbesondere bei jungen Menschen. Bei den Parlamentswahlen 2015 stellten drei Parteien (AKP, CHP und HDP) armenische Kandidaten auf, so dass es heute drei armenische Volksvertreter gibt – das sind Entwicklungen, von der vor zehn Jahren niemand zu träumen gewagt hätte.
Auf der anderen Seite ist unser Leben heute wieder ganz von Gewalt gefangengenommen. Und es scheint unvermeidbar, dass sie weiter herrscht, solange wir dem Völkermord, diesem großen Verbrechen, nicht ins Gesicht sehen. Denn es gibt keine Gewähr dafür, wie Hanna Arendt uns ermahnt, "dass das Böse sich nicht wiederholt, wenn es bereits einmal erlebt worden ist. Das Erlebte schreibt sich ins Bewusstsein ein, und es gehört ebenso zur Zukunft wie zur Vergangenheit."
(Deutsch von Christina Tremmel-Turan und Tevfik Turan)
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Fethiye Çetin ist die Autorin des Buches 'Meine Großmutter', zugleich Dinks Anwältin und Mitarbeiterin in seiner Wochenzeitung Agos.
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